# taz.de -- Persönlich gefärbte Gängeviertel-Doku: Schandflecken mit Geschic… | |
> Sechs Stunden langes Filmepos über das Ende der Hamburger Gängeviertel: | |
> „Wir waren das dunkle Herz der Stadt“ von Andreas Karmers. | |
Bild: Hier steht heute das Chilehaus: die Straße Pumpen in der Hamburger Altst… | |
HAMBURG taz | Einen „Schandfleck Hamburgs“ nannte im Jahr 1898 ein – | |
Berliner – Journalist aus Berlin [1][die Gängeviertel im Zentrum der | |
Hafenstadt]. Und tatsächlich gehörten sie damals zu den größten | |
Elendsquartieren Europas. Der Dichter Detlev von Liliencron schrieb schon | |
1892 einen erschütternden Brief an seinen Freund Richard Dehmel über die | |
[2][Choleraepidemie in Hamburg], die vor allem in den Gängevierteln ihre | |
Opfer fand. Und noch früher, nämlich 1880, empörte sich ein erkennbar | |
antisemitischer Reiseschriftsteller über die Zustände in der „Judenbörse�… | |
In den Gängevierteln lebten viele Juden und Jüd:innen, zusammen mit | |
anderen Armen, zu denen wiederum auch Prostituierte, Zuhälter und allerlei | |
zwielichtige Gestalten gehörten, die Besucher:innen aus feineren | |
Stadtteilen regelmäßig um ihre Geldbörsen erleichterten. | |
Die Häuser standen nahe beieinander, es gab kaum Straßen sondern die engen | |
Gänge, eben, die den schon im 16. und 17. Jahrhundert entstandenen Vierteln | |
ihren Namen gaben. 1913 begann der systematische Abriss dreier dieser Slums | |
in der Hamburger Alt- und Neustadt. Oberbaurat Wilhelm Melhop schrieb | |
damals, 17.521 Seelen seien dabei aus ihren Wohnungen vertrieben worden. | |
Weitere Teile, insbesondere in der Neustadt fielen nach der Machtübernahme | |
der Nationalsozialisten deren „Sanierungsmaßnahmen“ zum Opfer, und was der | |
Zweite Weltkrieg nicht besorgte, tat danach der [3][Bau des | |
„Unilever-Hauses“] sowie [4][die Errichtung der Ost-West-Straße]. | |
## Epische Stadtteilchronik | |
Alle zitierten Aussagen stammen aus der epischen Stadtteilchronik „Wir | |
waren das dunkle Herz der Stadt“, die in sechs Stunden und sieben Kapiteln | |
von den Veränderungen dieser Stadtteile zwischen 1880 und 1980 erzählt. | |
Filmemacher Andreas Karmers arbeitet dabei mit vielen Originalzitaten, | |
Hunderten von historischen Fotos sowie einigen damaligen Filmaufnahmen. | |
Einen nüchternen Dokumentarfilm allerdings hat er nicht gemacht, vielmehr | |
ermöglicht sein sehr persönlicher Zugang Karmers eine unkonventionelle, | |
künstlerisch überzeugende Erzählform. | |
Sein Großvater nämlich, Walter Wedstedt, wurde 1907 selbst in einem | |
Gängeviertel geboren und hat deren Schicksal bis in die 1940er-Jahre | |
miterlebt. Als Amateur mit literarischen Ambitionen schrieb er seine | |
Erinnerungen an diese Zeit auf – auch wenn daraus nicht gleich [5][die | |
„Buddenbrooks“] werden würden. Oder hat vielmehr Andreas Karmers | |
geschrieben? Denn der erzählt hier die Geschichte im Namen seines | |
Großvaters; nicht frei erfunden, aber weitgehend frei formuliert, denn von | |
Wedstadt sind gerade mal 20 beschriebene Seiten überliefert und dazu ein | |
paar Briefe. | |
## Etwas anderes Doku-Drama | |
„Wir waren das dunkle Herz der Stadt“ ist also das, was man heute einen | |
Hybridfilm oder ein Doku-Drama nennt. Aber es gibt darin keine der sonst so | |
üblichen nachinszenierten Sequenzen, ebenso wenig Animationen. Statt dessen | |
arbeitet Karmers viel mit dem historischen Material, und er hat mit großer | |
Sorgfalt die Texte vertont: 30 Sprecher:innen machen sowohl die | |
Originalzitate wie auch Karmers Texte lebendig, darunter Ulrich Tukur in | |
einer kleinen „Nebenrolle“ als „Der Spitzel“. Am meisten zu tun hatte T… | |
Hagen, der Wedstedt so einfühlsam und lebendig eingesprochen hat, dass | |
dieser nie zu modern oder auch unpersönlich wirkt. Das Gelingen verdankt | |
sich aber auch den von Karmers verfassten Texten, die durchaus literarische | |
Qualitäten haben. Wenn er etwa von den „finsteren Schlafburschen“ erzählt, | |
die Wedstedts Mutter als Untermieter aufnehmen musste und vor denen der | |
kleine Junge sich fürchtete, ist dies ein sehr authentisch wirkendes | |
Detail. | |
Aber müssen es unbedingt sieben Kapitel in sechs Stunden sein? Nun, Karmers | |
vermischt hier Stadt- mit Familiengeschichte, und das mit menschlicher | |
Tiefe sowie epischer Breite. Wenn da etwa von Wedstedts Arbeit als Seemann | |
in den 1920er-Jahren erzählt wird, erfährt man nebenbei auch viel über das | |
Lebensgefühl eines jungen Mannes in jener Zeit: Der kauft sich etwa von | |
seiner Heuer in New York ein Motorrad – und vergisst prompt, wo er es | |
abgestellt hat. | |
## Stadt kaum wiederzuerkennen | |
Auf der Bildebene wechselt Karmers immer wieder zwischen historischem und | |
aktuellem Material. Der Hamburger [6][Kameramann Bernd Meiners] hat dafür | |
aus den gleichen Perspektive moderne Ansichten aufgenommen; in den meisten | |
Fällen hat sich die Stadt so radikal verändert, dass kaum noch | |
Ähnlichkeiten zu erkennen sind. | |
Mehr als sieben Jahre lang hat die Entstehung des Films gedauert, zur | |
Finanzierung hat Karmers zwischendurch sogar auf dem Bau gearbeitet. Die | |
Post-Produktion hat das Schleswig-Holstein Musikfestival mitfinanziert, und | |
zwar im Rahmen des Programms „Inside Brahms“ – der Komponist kam 1833 | |
selbst im Gängeviertel in der Hamburger Neustadt zur Welt und wird nun auch | |
mindestens einmal im Film erwähnt. Eine Folge: [7][die Premiere von „Wir | |
waren das dunkle Herz der Stadt“] am heutigen Sonntag im Festivalrahmen. | |
Alle sechs Teile laufen bis Mittwoch, 20. Juli, täglich jeweils um 16 Uhr | |
kostenlos in einem der wenigen heute noch existierenden stehenden | |
historischen Gebäude im heutigen Hamburger Gängeviertel (das streng | |
genommen gar keines war): der Fabrique, Valentinskamp 34a. | |
17 Jul 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Gaengeviertel/!t5225307 | |
[2] /Archiv-Suche/!5676915 | |
[3] /Archiv-Suche/!789873 | |
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Ost-West-Stra%C3%9Fe_(Hamburg) | |
[5] https://buddenbrookhaus.de/der-roman | |
[6] /Unbekannter-Kameramann/!5222783 | |
[7] https://www.shmf.de/de/veranstaltung/inside-brahms-filmpremiere-von-wir-war… | |
## AUTOREN | |
Wilfried Hippen | |
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