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# taz.de -- Als Hamburg die Seuche ignorierte
> Im Sommer 1892 brach in Hamburg zum letzten Mal in Deutschland die
> Cholera aus. Weil die Stadt erst spät reagierte, waren die Ausmaße
> verheerend: Rund 8.600 Menschen fielen der Seuche zum Opfer. Die Epidemie
> veränderte den Stadtstaat – auch zum Guten
Bild: Der Bundeskanzler ist gestorben, aber nicht alle sind traurig: Auf ihrer …
Von Robert Matthies
Es stank gewaltig in der Stadt im August 1892. Ungewöhnlich heiß und
trocken war der Sommer in Hamburg. In der Elbe und den Fleeten war nur
wenig, dafür umso wärmeres Wasser. Zum Gestank aus dem Fluss und den
Kanälen, in die Abfälle, Fäkalien und Spülwasser ungefiltert flossen, kam
der des Mistes aus Hühner- und Schweineställen, der sich in den
Abwasserkanälen sammelte. Aus den Toiletten, die oft balkonartig aus den
Fleethäusern ragten, fielen Kot und Urin in die Stichkanäle darunter. Die
engen Straßen waren verdreckt vom Dung und Mist von rund 12.000 Pferden. So
beschreibt Richard Evans die Stadt im ausgehenden 19. Jahrhundert. Zehn
Jahre lang hat der britische Historiker in den 1980er-Jahren über die
Cholera in Hamburg 1892 geforscht. Es war die letzte große Choleraepidemie
in Deutschland.
Während andernorts im Deutschen Reich im 19. Jahrhundert jeder Ausbruch der
Krankheit schnell unter Kontrolle gebracht werden konnte, war sie über
Hamburg „plötzlich mit ungewohnter Heftigkeit hereingebrochen“, schrieb
damals das Aerztliche Vereinsblatt. Drei Monate wütete die Seuche in der
Stadt, insgesamt erkrankten rund 17.000 Menschen – das waren fast drei
Prozent der damals rund 600.000 Hamburger:innen. Fast die Hälfte der
Erkrankten, 8.605 Menschen, fiel der Cholera zum Opfer.
Die Epidemie machte die schroffen sozialen – und in der Folge auch
räumlichen – Gegensätze in der Stadt deutlich. Besonders betroffen waren
die Quartiere der Armen in der Innenstadt und am Hafen, in den neuen
Villenvierteln an der Außenalster in Harvestehude und am Rotherbaum wurden
nur vereinzelt Fälle bekannt. Während zugleich Millionen in die Errichtung
der Speicherstadt und eines neuen repräsentativen Rathauses gesteckt
wurden, lebten 70 Prozent der Hamburger:innen unter der Armutsgrenze.
## Enge Gassen, dunkle Hinterhöfe
Durch den Bau der Speicherstadt aus dem Hafen vertrieben, siedelten sich
viele Menschen in heruntergekommenen Mietshäusern rund um die Kirchen St.
Michaelis und St. Jacobi an. Der Schmutz auf in engen Gassen und in den
dunklen Hinterhöfen der Gängeviertel und die Enge in den feuchten
Kellerwohnungen – rund 42.000 gab es, hat Evans akribisch ermittelt, mehr
als in jeder anderen deutschen Großstadt – waren für die Cholera ein
idealer Nährboden. Dazu kamen die mangelhaften sanitären Einrichtungen –
gerade mal 4.945 Wasserklos gab es laut Evans dort.
„Ich habe noch nie solche ungesunden Wohnungen, Pesthöhlen und Brutstätten
für jeden Ansteckungskeim angetroffen wie in den sogenannten Gängevierteln,
die man mir gezeigt hat, am Hafen, an der Steinstraße, an der
Spitalerstraße oder an der Niedernstraße“, war der aus Berlin zu Hilfe
gerufene Bakteriologe Robert Koch entsetzt. „Ich vergesse, daß ich mich in
Europa befinde.“
Dennoch war die Besonderheit des ungewohnt heftigen Ausbruchs in Hamburg,
dass es sich, anders als bei den kleineren Choleraepidemien in der Stadt im
19. Jahrhundert – schon 1822, 1831, 1832, 1848, 1859, 1866 und 1873 war die
Krankheit hier ausgebrochen – nicht um ein lokal begrenztes Geschehen mit
einem einzelnen Infektionsherd handelte.
Eines der großen Probleme der Stadt war das Fehlen eines modernen
Abwassersystems. Seit 1872 stritten Bürgerschaft und Senat über die
Errichtung einer Filtrieranlage, immer wieder wurde deren Bau verschoben,
aus Kostengründen. Während die benachbarten Altonaer:innen seit 1859
Trinkwasser in einer Sandfilteranlage in Blankenese reinigten, wurde das
Trinkwasser der meisten Hamburger:innen weiterhin direkt aus der Elbe
entnommen. Nur zwei Kilometer flussaufwärts bei Rothenburgsort gelegen,
geriet bei Flut auch das verschmutzte Hafenwasser in die Rohre der
Entnahmestelle.
Der Erste, der der Choleraepidemie zum Opfer fiel, war denn auch ein
Kanalarbeiter, Sahling hieß er. Der hatte, nachdem er am Zentralausfluss
gearbeitet und vermutlich Elbwasser getrunken hatte, plötzlich über heftige
Anfälle von Erbrechen und Durchfall geklagt. In der Nacht zum 15. August
starb er qualvoll. Zwei Tage später wurden schon vier weitere Fälle
gemeldet, am Tag darauf waren es bereits 12, am 18. August dann 31
Menschen, die an „Brechdurchfall“, so stand es auf den Totenscheinen,
gestorben waren.
Als nach einer Woche schon 200 Tote zu beklagen waren, begannen die
Hamburger:innen aus der Stadt zu fliehen. Dass die Erkrankten die
Kontrolle über ihre Ausscheidungsorgane verloren, alles besudelten und
binnen weniger Stunden unter heftigen, schmerzhaften Krämpfen jämmerlich
starben, war für die von Scham geprägte bürgerliche Gesellschaft ein
Schock. Als schönes Dahinsiechen ließ sich die Cholera, anders als die
damals in den Armenviertel ebenfalls weit verbreitete Lungentuberkulose,
nicht romantisieren. Wer einen Zug nehmen konnte, auch das eine soziale
Frage, verließ die Stadt.
Dennoch reagierten die Verantwortlichen erst spät und zögerlich. Hamburg,
schreibt Richard Evans, galt als „Hochburg des seuchenpolitischen
Laisser-faire“, weil die Verantwortlichen in der Stadt die Krankheit erst
ignorierten, dann lange geheim zu halten versuchten und schließlich die
Maßnahmen, die das Deutsche Reich anordnete, so lange wie möglich
hinauszögerten. Weil der Stadtstaat vom Überseehandel abhängig war, war für
Senat und Bürgerschaft die Freiheit des Warenverkehrs von größter
Wichtigkeit. In Gesundheitskontrollen oder gar der Schließung von
Handelsrouten sahen sie eine ernste Bedrohung für die städtische
Wirtschaft.
Auch nachdem der Eppendorfer Bakteriologe Eugen Fraenkel am 22. August 1892
die Cholera-Bakterien isolieren konnte, sprach der Senat zunächst nur von
einem Verdacht. Den Tag über liefen weiter die Auswandererschiffe aus, erst
am folgenden Tag meldete die Stadt den Ausbruch der Epidemie an das
kaiserliche Gesundheitsamt in Berlin.
Erst Ende August wurden dann erste Schritte zur Bekämpfung der Cholera
eingeleitet. Schulen wurden geschlossen, Verhaltensregeln ausgehängt und
abgekochtes Trinkwasser zur Verfügung gestellt. Häuser und ganze
Straßenzüge wurden von 40 Kolonnen mit stinkendem Chlorkalk, Lysol, Karbol
und Creolin desinfiziert.
Auch hier wurden die schroffen sozialen Gegensätze deutlich: In den
Gängevierteln konnten viele Menschen die aufgehängten Plakate mit den
Verhaltensregeln gar nicht lesen. Ohnehin fehlte armen Familien schlicht
das Geld, sich Wasser selbst abzukochen. Sie waren auf städtische Fasswagen
angewiesen, die durch die Straßen fuhren. In den Gängevierteln grassierten
außerdem Fake News, viele der Erkrankten waren etwa überzeugt, die
Krankheit mit Alkohol kurieren zu können. Selbst bei der Nahrung zeigte
sich schließlich die soziale Ungleichheit im Angesicht der Cholera: Weil
das aufgeklärte Bürgertum schnell auf Obst und Gemüse verzichtete, sanken
die Preise. Manchem Hafenarbeiter wurde so die lang ersehnte Pflaume zum
Verhängnis.
## Epidemie brachte Veränderungen auf den Weg
Ungefähr zehn Wochen nach dem Ausbruch nahm die Zahl der Erkrankungen
langsam wieder ab. Aber die Choleraepidemie von 1892 hat das Gesicht der
ganzen Stadt nachhaltig verändert. Immerhin, resümierte das Aerztliche
Vereinsblatt, habe „der Schrecken, den ihr unheimliches Auftreten erweckt“
habe, „die Behörden und Gemeindeverwaltungen vielfach aufgerüttelt,
schädliche Einrichtungen zu beseitigen und nützliche zu fördern“.
Eine ganze Reihe von Veränderungen wurden auf den Weg gebracht. Vor dem
Hintergrund der von Robert Koch initiierten Aufklärungs- und
Desinfektionskampagne wurde noch im Dezember desselben Jahres das Institut
für Hygiene und Umwelt gegründet, ein halbes Jahr darauf wurde das Amt des
Hafenarztes neu geschaffen und Bernhard Nocht auf diese Position berufen.
Auf der Elbinsel Kaltehofe wurde im folgenden Jahr das Filtrierwerk der
Hamburger Wasserwerke fertiggestellt und am Bullerdreich begann der Bau der
ersten Müllverbrennungsanlage Deutschlands.
Gesetze wurden erlassen, die den Bau unhygienischer Wohnverhältnisse
verhindern sollten und viele der Gängeviertel wurden abgerissen. Die
hygienischen Verhältnisse in den Zwischendecks der Passagierschiffe wurden
verbessert und die Baracken ab 1901 durch die Auswandererhallen auf der
Veddel ersetzt. Umfassend waren auch die Veränderungen in der Verwaltung
und den politischen Strukturen der Stadt. Vor der Epidemie schätzte das
liberale Hamburger Bürgertum seine Laienverwaltung. In den Ausschüssen der
Stadt saßen Laien, angesehene Juristen oder Kaufleute, die sich zwar mit
dem Handelsrecht auskannten, aber vom Gegenstand des Verwaltungshandelns
nichts wussten. Nun wurden höhere Posten der Verwaltung mit Berufsbeamten
besetzt.
Auch das Wahlrecht und die damit verbundene Zusammensetzung von Senat und
Bürgerschaft wurden nach dem Ende der Choleraepidemie gründliche
reformiert. Laut der Hamburger Verfassung von 1860 konnten nur jene das
Bürgerrecht erwerben, die das nötige Geld hatten. Und nur sie konnten die
Vertreter der Bürgerschaft wählen – 1875 waren das gerade mal 8,7 Prozent
der Hamburger:innen, Grundeigentümer:innen und Notable hatten außerdem
mehrere Stimmen. Die so gewählte Bürgerschaft wiederum wählte den Senat auf
Lebenszeit. Vertreten wurde also nur die liberale Elite der Stadt, vor
allem Senioren aus alteingesessenen Kaufmannsfamilien saßen dort.
Im Zuge der Epidemie wurde diese recht einseitige Zusammensetzung von
Bürgerschaft und Senat als wesentlicher Faktor für das lange Vertuschen der
Krankheit zunehmend kritisch betrachtet. Nach langen Debatten wurde das
„Recht der Bürger“ 1896 schließlich abgeschafft. Wählen durfte nun jeder,
der seit mindestens fünf Jahren in der Stadt lebte und pro Jahr mindestens
1.200 Mark verdiente. Damit stieg der Anteil der Wahlberechtigten
sprunghaft an und erstmals konnten auch Arbeiter und Kleinbürger wählen –
bis die Einführung des Zweiklassen-Wahlrechts 1906 die demokratischen
Bemühungen wieder zunichte machte.
Im Stadtbild erinnert heute sonst nicht mehr viel ausdrücklich an die
Cholera. Im Innenhof des Hamburger Rathauses steht der Hygieia-Brunnen des
Bildhauers Joseph von Kramer, vier Jahre nach Ausbruch der Epidemie
errichtet, als Symbol für den Sieg über die Cholera. Er zeigt die Göttin
der Reinheit in Bronze, die auf einen Drachen tritt. In Gedenken an die
Bedeutung und Wichtigkeit reinen Trinkwassers.
18 Apr 2020
## AUTOREN
Robert Matthies
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