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# taz.de -- Deutsche Kolonialverbrechen und Schule: Black History Matters
> An einer Schule haben Schüler:innen eine Black History Class
> entwickelt. Sie fordern, dass Kolonialverbrechen Teil des Stundenplans
> werden.
Bild: Gefangene Herero-Frauen und ihre Kinder unter deutscher Kolonialherrschaf…
Berlin taz | Es kommt nicht jeden Tag vor, dass sich Jugendliche von dem,
was in deutschen Klassenzimmern gelehrt wird, berühren lassen. An der
Berliner Nelson-Mandela-Schule geschieht dies kurz vor den Sommerferien an
drei aufeinanderfolgenden Tagen – und das liegt an der Person, die eigens
von Namibia nach Deutschland gereist ist, um eine Lücke im deutschen
Lehrplan zu füllen. Und um der deutschen Gesellschaft zu spiegeln, wie
wenig sie sich ihrer blutigen Kolonialgeschichte stellt. Auch heute noch,
nach über hundert Jahren.
An Tag zwei ihres dreitägigen Seminars an der Nelson-Mandela-Schule steht
[1][Sima Luipert] im Raum 111/112 und erzählt von ihren Vorfahren: von
ihrer Urgroßmutter, die in einem Konzentrationslager die Schädel der
Ermordeten reinigen musste, damit das Deutsche Kaiserreich sie vermessen
und in Museen ausstellen konnte. Von ihrer Großmutter Katrina, die weiße
Haut hatte, weil deutsche Soldaten in der Kolonie Deutsch-Westafrika
massenhaft Gefangene vergewaltigten.
Und von ihrem Ururgroßvater Cornelius Frederick, der heute noch irgendwo in
einem deutschen Museumskeller liegt. „Nach unserem Glauben kann seine Seele
erst ruhen, wenn er in seiner Heimat begraben ist“, ruft Luipert auf
Englisch in den Raum. „Wann gibt uns Deutschland endlich seine Knochen
zurück?“
Luipert ist Mitglied der Nama Traditional Leaders Associaton, der
politischen Vertretung der Nama in Namibia. Normalerweise trifft sich die
52-Jährige in Deutschland mit Politiker:innen und
Menschenrechtsaktivist:innen, um über Reparationszahlungen der
Bundesregierung [2][für den Genozid deutscher Truppen an den Nama und
Herero] zu sprechen. An diesem sommerlichen Junitag sagt sie zu knapp 20
Schüler:innen vor ihr: „Die deutschen Kolonialherren haben meine
Vorfahren enteignet, gejagt, versklavt und getötet. Das ist auch eure
Geschichte“.
## Wut und Fassungslosigkeit
Was Sima Luipert über die deutschen Besatzer im heutigen Namibia erzählt,
löst im Klassenzimmer Fassungslosigkeit und Wut aus. Die meisten hören zum
ersten Mal von dem blutigen Kapitel der deutschen Geschichte, obwohl ein
Großteil von ihnen schon die 12. Klasse besucht. „Wir haben in der Achten
mal über Bismarck gesprochen“, erinnert sich eine Schülerin. „Da ging es
aber nur darum, dass Deutschland auch Kolonien haben möchte.“ Eine
Mitschülerin fragt: „Wie kann es sein, dass wir noch nie von diesen
Verbrechen gehört haben? In dem Land, das weltweit für die systematische
Vernichtung von Menschenleben bekannt ist?“
Tatsächlich machen die Bundesländer wenige Vorgaben, ob und wie Schulen die
deutsche Kolonialgeschichte behandeln sollen – auch in Berlin. Der
Völkermord an den Nama und Herero ist jedenfalls kein verpflichtender
Bestandteil des Unterrichts. Schüler:innen könnten problemlos zum Abitur
kommen, ohne von [3][den Verbrechen der deutschen Kolonialzeit] gehört zu
haben, sagt Hanna Urbahn, die an der Nelson-Mandela-Schule Geschichte
unterrichtet. Leider gebe es in den Lehrplänen viele solcher weißen
Flecken. Und im Fach Geschichte müsse man „immer reduzieren“ – auch um d…
Stoff für das Zentralabitur durchzubekommen. Den Impuls von außen begrüßt
Urbahn deshalb sehr.
## Seminar auf Initiative der Schüler:innen
Seit einem Jahr findet an der Nelson-Mandela-Schule ein Seminar zu
[4][Schwarzer Geschichte] statt – auf Initiative der Schüler:innen. „Nach
den Black-Lives-Matter-Protesten haben wir in der Diversity Task Force viel
darüber gesprochen, dass die Perspektive derer, die kolonisiert wurden, in
gesellschaftlichen Debatten viel zu häufig fehlt“, erzählt die
Zwölftklässlerin Chloé. Um das zu ändern, müsse sich als Erstes die Schule
ändern und ihren Kanon um dekoloniale Perspektiven erweitern. Wenn das
nicht an der internationalen Nelson-Mandela-Schule gelinge, an der
vergleichsweise viele People of Color sind und der Unterricht auf Englisch
stattfindet – wo dann?
Aus dem Anliegen der Diversity Task Force ist, mit der Unterstützung
einiger Lehrer:innen, ein bundesweites Modellprojekt der Bundeszentrale für
politische Bildung geworden: die Black History Class. Im vergangenen Jahr
wurde zunächst gemeinsam über ein mögliches Curriculum beraten, Anfang
dieses Schuljahres ging es los. Alle Schüler:innen ab der 11. Klasse
durften bei den monatlichen Workshops teilnehmen. Einmal im Halbjahr gab es
noch einen Studientag für die ganze Schule. Mittlerweile steht fest, dass
das Seminar im nächsten Schuljahr weitergeführt wird.
## Workshop geht unter die Haut
Das freut auch Chloé. „Ich finde es super, was wir in diesem Jahr alles
gemacht haben“, sagt sie und zählt auf: Empowerment-Workshops für Schwarze
Schüler:innen, Anti-Rassismus-Workshops für den Rest. Ein Spaziergang
durchs Afrikanische Viertel, in dem bis heute viele Straßen nach
Kolonialverbrechern benannt sind. Ein Seminar zu Schwarzer Popgeschichte
inklusive Besuch einer Fachbibliothek. Das Seminar mit der Nama-Aktivistin
Luipert bezeichnet Chloé, die auch in Urbahns Geschichts-Leistungskurs ist,
als einmaliges Erlebnis. Wie vielen Mitschüler:innen geht auch Chloé
der Workshop unter die Haut.
„Als Schwarze Frau zu hören, dass sexuelle Gewalt gegen Schwarze Frauen als
Kriegsmittel eingesetzt wurde, macht mich traurig und wütend.“ Das Programm
der Black History Class hat die Diversity Task Force gemeinsam [5][mit dem
Berliner Verein Each One Teach One] (EOTO) erstellt. Auch Projektleiterin
Makda Isak hält die deutschen Lehrpläne bei der Behandlung der deutschen
Kolonialgeschichte für stark lückenhaft. „Es ist erschreckend, wie wenig
sich seit meiner eigenen Schulzeit getan hat“, sagt Isak. Sie beobachtet,
dass dekoloniale Perspektiven immer noch die Ausnahme im Unterricht sind.
## „Schulsystem verändern“
Ziel der Black History Class sei aber nicht allein, die Lücken im deutschen
Lehrplan zu stopfen: „Unser Ansatz ist, dass wir das Schulsystem verändern
wollen, indem wir junge Menschen empowern“, sagt Isak. An der
Nelson-Mandela-Schule scheint das Konzept aufzugehen. „In diesem Jahr haben
die älteren Schüler:innen bereits Workshops für die jüngeren gegeben“,
berichtet Makda Isak. „Und auch für die Lehrkräfte“. Ähnliche Ziele
formuliert auch Peggy Piesche, die das Projekt bei der Bundeszentrale für
politische Bildung betreut.
Piesche leitet am bpb-Standort Gera den Fachbereich Politische Bildung und
plurale Demokratie. Ihre Schwerpunkte dabei sind Diversität,
Intersektionalität und Dekolonialität. „Wir wollen, dass die
Schüler:innen Selbstwirksamkeit erfahren und Akteur:innen von
Veränderungsprozessen werden“, sagt Piesche. Für intersektionale
Bildungsarbeit sei dieser Ansatz zentral. Und er entspreche auch der
Lebensrealität der Kinder und Jugendlichen heute. „In den Schulen ist die
gesellschaftliche Vielfalt viel größer als noch vor zehn, zwanzig Jahren“,
sagt Piesche, die als Schwarze Person in der DDR aufgewachsen ist. Diese
Diversität müssten die Lehrpläne stärker widerspiegeln. Das Projekt Black
History Class sei ein gutes Beispiel, wie sich die Schulen aber langsam für
antikoloniale Perspektiven öffneten. Wie wichtig diese Öffnung für die
gesamte Gesellschaft wäre, erkennt Piesche an vielen aktuellen Debatten,
wie etwa dem zögerlichen [6][Umgang mit geraubten Kunstobjekten].
## Baerbock verweigerte ein Treffen
„Es geht letztlich auch darum, wie wir uns als Gesellschaft an unsere
Kolonialgeschichte erinnern wollen“, sagt Piesche. Das fordert auch Sima
Luipert ein. „Ich bin nicht nach Deutschland gekommen, um irgendjemand um
Hilfe zu bitten“, sagt sie. „Im Gegenteil: Ich bin hier, um euch dabei zu
helfen, euch dieser Vergangenheit zu stellen.“ Aus Luiperts Sicht bedeutet
das vor allem, die Bundesregierung in die Verantwortung zu nehmen. Von der
neuen Außenministerin Annalena Baerbock ist Luipert enttäuscht. Vor der
Bundestagswahl hätten die Grünen ihre Forderungen nach einem Dialog auf
Augenhöhe noch unterstützt. Bisher habe Baerbock aber ein Treffen mit
Luipert verweigert.
Für Tag drei des Seminars ist eine Vertreterin des Auswärtigen Amtes
eingeladen, die Leiterin des Referats Grundsatzfragen Subsahara-Afrika.
Geplant ist eine Diskussionsrunde zu Reparationen und angemessenem
Gedenken. Die Schüler:innen der Nelson-Mandela-Schule sollen die Fragen
stellen.
29 Jun 2022
## LINKS
[1] /Koloniales-Erbe-in-Namibia/!5638591
[2] /Genozid-an-Herero-und-Nama/!5702260
[3] /Kolonialverbrechen-an-Herero-und-Nama/!5775474
[4] /Kaempferischer-Black-History-Month/!5828996
[5] /Black-Communities-Zentrum/!5859048
[6] /Hamburger-Ausstellung-von-Benin-Bronzen/!5820824
## AUTOREN
Ralf Pauli
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