# taz.de -- Weniger Protest gegen G7-Treffen: Gebremste Gipfelstürmerei | |
> Der G7-Gipfel müsste gar nicht im abgeschiedenen Elmau stattfinden. Denn | |
> die globalisierungskritische Protestbewegung ist erlahmt. Was sind die | |
> Gründe? | |
Bild: Viele Protestierende werden sich wohl nicht hierher verirren: Schloss Elm… | |
Auch dieses Mal waren es 50.000 Gullydeckel, die von der Polizei an der | |
Straße zum Schloss Elmau festgeklebt wurden. Anschläge und | |
Straßenbarrikaden sollte das bei früheren Gipfeln erschweren. Heute geht es | |
nur noch um Anschläge, denn ernsthafte Blockaden erwartet keiner mehr. | |
Bei der Konferenz der Welthandelsorganisation WTO 1999 in Seattle war das | |
noch anders. Kein Gullydeckel war da sicher vor der „Bewegung der | |
Bewegungen“, die plötzlich auf die Straße drängte. Sie verkündete, dass | |
eine „andere Welt möglich“ sei als die sich langsam aufblätternde | |
Globalisierung. Seattle, Genua, Prag, Evian oder Heiligendamm – | |
Hunderttausende machten sich auf, die Treffen der Mächtigen lahmzulegen. | |
Ins Bewegungsgedächtnis sind die Proteste als epische Tage eingegangen. | |
„Multitude“ oder „Subalterne“, das waren Begriffe aus der Theorie, mit | |
denen manche die neue, globale Massenbewegung zu fassen versuchten. Spürt | |
man ihren Ideen nach, landet man im mexikanischen Urwald 1994, als die | |
indigene [1][Zapatista-Guerilla] ihre frohe Botschaft der Machtergreifung | |
von unten verkündete. Schwarz maskiert und radikal in der Sache, aber sanft | |
im Wesen und modern im Geist, bot sie Impulse für eine neue Phase sozialer | |
Kämpfe, die im Norden und Süden der Welt gleich gepolt waren. Dem Gegner | |
gaben sie einen Namen: Neoliberalismus. Den Begriff hatten Ökonomen schon | |
vorher entwickelt. Jetzt rückte er ins Zentrum. | |
Das Schlagwort verband Erklärungs- mit Strahlkraft und Identitätsstiftung, | |
seine „verkürzte Kapitalismuskritik“ störte zunächst nur wenige. Akteure | |
wie Attac, Peoples Global Action, Ya Basta oder [2][La Via Campesina] | |
wurden geboren und machten gemeinsame Sache mit Gewerkschaften, Kirchen, | |
Umweltverbänden, Autonomen. Sie wollten, dass Öl und Gas in der Erde | |
bleiben, Tierarten nicht ausgerottet werden, Konzerne wie Nike ihre | |
indonesischen Näherinnen nicht länger schinden, Fonds und ihre Eigner nicht | |
immer mehr Reichtum anhäufen und Staaten ihre Sozialleistungen nicht immer | |
weiter abwickeln. | |
Ein im Glauben an seine Überlegenheit entgrenzter Markt sollte wieder | |
eingehegt werden, zum Wohl von Mensch und Natur. Aktueller könnte eine | |
Agenda kaum sein. Massen, die mit ihr zu den Gipfeln ziehen, gibt es aber | |
keine mehr. „Die Kette ist abgerissen. Es gibt keine kollektive Identität | |
als globalisierungskritische Bewegung mehr“, sagt der Protestforscher Simon | |
Theune. | |
Das hat auch mit den Gipfeln selbst zu tun. Einst waren sie Inszenierungen | |
der Gastgeber, die so taten, als würde eine Handvoll Mächtiger die Probleme | |
der Welt lösen. Das gelang nie. Gleichwohl atmeten die Gipfel die Anmaßung | |
einer Weltregierung aus. Warum aber sollten sie solchen Einfluss auf die | |
Geschicke der Menschheit nehmen dürfen? Im Globalen Süden hatte die G8 | |
schließlich keiner gewählt. Der Pomp der Treffen befeuerte den Unmut noch, | |
wenn etwa Berlusconi 2001 monarchengleich den Bewohnern [3][Genuas] verbot, | |
während der Gipfeltage ihre Unterhosen zum Trocknen herauszuhängen. | |
Die erste, heiße Phase der Gipfelstürmerei endete da schon wieder. 300.000 | |
Demonstrant*innen kamen nach Genua, doch am Ende war Carlo Giuliani | |
erschossen, die Polizei hatte in der Diaz-Schule gewütet und in der | |
Bolzenato-Kaserne gefoltert. Beiden Seiten wurde klar: So geht es nicht | |
weiter. | |
Die Regierenden verzichteten vorerst auf die Zurschaustellung der Treffen, | |
schrumpften die Angriffsfläche, indem sie sich ins Entlegene zurückzogen: | |
die schottischen Highlands, die Rocky Mountains oder eben Schloss Elmau. | |
Eine G8-Ausrichtung in einer Metropole traute sich nach Genua nur noch | |
Russland, 2006. Zur Sitzblockade nach Sankt Petersburg zu reisen, um am | |
Ende im Gulag zu landen, wagte schließlich keiner. | |
Auch im Politischen verschob sich das Gefüge: In der Finanzkrise ab 2008, | |
in der Pandemie oder nun in der Klimakrise zerrann die einst so eiserne | |
Marktgläubigkeit. Das Kapital griff Teile der Kritik auf. IWF und Weltbank | |
holten die Zivilgesellschaft an den Tisch. Beim Weltwirtschaftsforum 2019 | |
in Davos durfte der niederländische Antiarmutsaktivist Rutger | |
[4][Bregman] vom Podium den mit 1.500 Privatjets eingeflogenen Managern | |
verraten, was die globalen Probleme löst: „Steuern, Steuern, Steuern – | |
alles andere hier ist Bullshit.“ 2021 beschloss die OECD eine globale | |
Mindeststeuer für transnationale Konzerne, laut Attac „Stückwerk im | |
Interesse der reichen Staaten“. Doch vieles von dem, was die Proteste von | |
Seattle oder Genua aufbrachten, ist heute allgemein akzeptiert. Regulierung | |
gilt nicht mehr als Teufelszeug. | |
Für Teile der sozialen Bewegungen – von dem penetrant mitzutagen | |
trachtenden Sänger Bono bis zu großen NGOs und Gewerkschaften – waren die | |
Gipfel Adressat politischer Appelle. Andere hielten davon nichts. Sie | |
wollten symbolträchtige Blockaden, etwa das Dissent!-Netzwerk oder die | |
Interventionistische Linke. Dann änderte sich das Kalkül: Die | |
Gipfelblockaden verschlangen enorme Ressourcen. Drei Jahre etwa strickte | |
das Protestbündnis von Heiligendamm an seiner unvergessenen | |
5-Finger-Offensive. Gleichzeitig enttäuschten die Ergebnisse der Gipfel | |
reihenweise jene, die mit konstruktiven Appellen bestimmte Beschlüsse | |
herbeizudemonstrieren erhofften. | |
„Viele verloren das Vertrauen in die Möglichkeit, das große Ganze ändern zu | |
können“, sagt der Theoretiker John Holloway. Das Lokale wurde dafür umso | |
wichtiger. Ressourcen flossen in dezentrale Alltagskämpfe, etwa gegen | |
Zwangsräumungen. Eins der neuen Zauberwörter dabei ist der | |
„[5][Munizipalismus]“. Entstanden in Spanien, beschreibt er den | |
Schulterschluss progressiver Stadtregierungen mit lokalen sozialen | |
Bewegungen. Im Migrationsbereich etwa wurde so der Gedanke der „Solidarity | |
Cities“ oder des „Urban Citizenship“ groß. Auch die Klimabewegung ging in | |
die Fläche. Ihre letzte wirkliche Gipfelmobilisierung war Kopenhagen 2009. | |
Die Proteste waren groß, die Repression heftig, die Ergebnisse der Tagung | |
ein einziger Flop. Und so ließ auch die Klimabewegung die Gipfel weitgehend | |
links liegen und blockiert seither lieber Kohlegruben. | |
Mit dem Erfolg der Populisten in Europa nach 2015 kam hinzu, dass diese die | |
Kritik am Globalen immer stärker nationalistisch kontaminierten. | |
„Globalisten“ – eine imaginierte vaterlandslose Elite als Gegner von Volk | |
und Nation – verkörpern heute die am eifrigsten bemühte Hassfigur von | |
Gestalten wie Le Pen oder Orbán. Das macht die Räume für linke | |
Globalisierungskritik eng. Der Fokus auf das unbelastete Lokale liegt so | |
noch mal näher. | |
Die Riots von Seattle, Genua oder Rostock/Heiligendamm 2007 werden gern | |
unter der Formel verbucht, dass in ihnen „aufschien, dass eine andere Welt | |
möglich ist“. Das Ehrliche an dieser Deutung ist, dass sie das wohl größte | |
Versäumnis implizit benennt: das fehlende Wie. Ideen dazu gab es, keine | |
Frage: direkte Demokratie, wie sie die „Assembleas“ wollten; große | |
Dauerversammlungen 2011 während der Finanzkrise auf dem Syntagma-Platz in | |
Athen; als 15-M in Spanien; als Occupy Wall Street in New York. „Die | |
standen alle im Zusammenhang mit den Themen der Gipfelproteste“, sagt der | |
Publizist Dario Azzellini. | |
Lang ist auch die Liste ökonomischer Reformvorschläge: Vermögensteuer, | |
Finanzmarktregulierung, Degrowth, Dekarbonisierung, Grundeinkommen, | |
Rückkehr des Staates in verwaiste Bereiche wie Wohnen, Bildung, Gesundheit, | |
Mobilität. Doch was fehlt, ist eine übergeordnete Idee, eine Erzählung, wie | |
es heute so gern heißt, aus einem Guss, und: ein Name. Was soll das Andere, | |
das Bessere in seiner Gesamtheit sein, wie kann es heißen? Für welche Idee | |
gehen Menschen, jenseits von Abwehrkämpfen und Partikularem, in Massen auf | |
die Straße? | |
In Lateinamerika haben mehrere linke Regierungen des vergangenen Jahrzehnts | |
ihre Anhänger enttäuscht, auch wenn letzthin Chile und Kolumbien wieder | |
links wählten. In Europa hängt den Sozialdemokratien ihre neoliberale Wende | |
bis heute nach. Neue linke Parteien wie Podemos in Spanien profitierten | |
davon nur bedingt. Das Vakuum zeigt sich auch beim Ukrainekrieg. Was | |
genau soll eine breit anschlussfähige linke Antikriegsposition hier sein? | |
Anders als beim Afghanistan- oder Irakkrieg ist die Lage so kompliziert, | |
dass bisher eine solche nicht in Sicht ist. | |
Doch auch jenseits davon fehlt eine Idee mit Strahlkraft. Die Zeit für sie | |
wäre nicht schlecht. Das Versprechen des Neoliberalismus – individueller | |
Wohlstand durch eigene Leistung ohne einen angeblich störenden Staat – ist | |
heute zunehmend diskreditiert durch Inflation, Finanzkrisen, Klimakrise. | |
Viele sehen die Zukunft eher düster, trauen dem Wirtschaftssystem sozialen | |
Ausgleich und die ökologische Wende nicht mehr zu. Doch ein alternatives | |
Projekt ist nicht in Sicht. „Das Alte stirbt, das Neue kann nicht geboren | |
werden“, schrieb Antonio Gramsci. Das passt auf diese Zeit. | |
24 Jun 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Zapatista-Rundreise-in-Europa/!5800950 | |
[2] https://viacampesina.org/en/ | |
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/G8-Gipfel_in_Genua_2001 | |
[4] https://www.youtube.com/watch?v=P8ijiLqfXP0 | |
[5] https://derive.at/texte/eine-neue-internationale-munizipalistische-bewegung… | |
## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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