# taz.de -- BBC-Serie „Chloe“ bei Amazon Prime: Stalkerin in Maske | |
> In der Serie „Chloe“ legt sich eine junge Frau eine neue Identität zu und | |
> versucht so den gesellschaftlichen Aufstieg. Das führt zu Problemen. | |
Bild: Hauptprotagonistin Becky, gespielt von Erin Doherty | |
„Ich habe einen Stalker.“ Mit dieser Begründung bittet Becky (Erin Doherty) | |
eine neue Bekanntschaft, keine Fotos von ihr in soziale Netzwerke zu | |
stellen. Doch als Zuschauer*in weiß man da längst, dass dies nur eine | |
weitere von ungezählten Lügen aus ihrem Mund ist. Denn tatsächlich ist es | |
eigentlich sie selbst, die in diesem neuen BBC-Sechsteiler (ab 24. 6. bei | |
Prime Video) die Stalkerin ist. | |
Wie so viele dieser Tage, die mit ihrem eigenen Alltag unzufrieden sind, | |
flüchtet sich Becky in die sorgfältig geschönte Social-Media-Welt von | |
Instagram und Co. Schon während sie morgens ihre Cornflakes in sich | |
hineinschlingt, scrollt sie durch Fotos von scheinbar glücklichen Menschen | |
in glamourösen Settings und entflieht gedanklich der schäbigen | |
Sozialwohnung in Bristol, die sie sich mit ihrer Mutter (Lisa Palfrey) | |
teilt, wenn sie nicht gerade Jobs für eine Zeitarbeitsfirma übernimmt. | |
Doch es ist vor allem ein Account, dem Becky obsessiv folgt: dem der | |
schönen Chloe (Poppy Gilbert), die in der Jugend einst ihre beste Freundin | |
war, bevor sie irgendwann den Kontakt abbrach. Als Becky im Internet | |
mitbekommt, dass das Objekt ihrer digitalen Begierde gestorben ist und | |
womöglich suizidiert hat, sucht sie die Nähe von Chloes engstem Umfeld auch | |
im realen Leben. Ausgestattet mit einer neuen Identität – Sasha, frisch aus | |
Tokio zurückgekehrte Galeristin – und neuer, noch nicht bezahlter Garderobe | |
gelingt es ihr schnell, im analogen Leben immer mehr Zeit mit Chloes enger | |
Freundin Livia (Pippa Bennett-Warner) und sogar dem trauernden Ehemann | |
(Billy Howle) zu verbringen. | |
Beckys Lügenkonstrukt ist jedoch ein permanenter Spagat zwischen den | |
sozialen Schichten – auf mitunter wackeligen Füßen. So spontan es ihr immer | |
wieder gelingt, Ungereimtheiten zu erklären, wie etwa den falschen, also | |
echten Name auf der Kreditkarte, so sehr droht stets auch die Enttarnung. | |
Denn nicht nur könnte ein One-Night-Stand (Brandon Micheal Hall), der ihren | |
echten Namen kennt, sie auffliegen lassen, auch Chloes Jugendfreund Richard | |
(Jack Farthing) ist schnell misstrauisch. Auch dass Becky nicht nur ihr | |
neues Leben genießen, sondern zusätzlich herausfinden will, was wirklich | |
mit Chloe geschehen ist, bringt zusätzliche Schwierigkeiten mit sich. | |
Schöpferin Alice Seabright, die zuletzt an der Serie „[1][Sex Education]“ | |
mitwirkte, erzählt im Thriller „Chloe“ dabei auf clevere Weise viel | |
darüber, wie wir uns durch eine Welt bewegen, in der soziale Netzwerke uns | |
gestatten, so viele verschiedene Identitäten zu haben, wie wir wollen. Hier | |
tragen alle immer wieder Masken und kuratieren die diversen nach außen | |
gezeigte Selbstbilder. Doch das ständige Wechseln zwischen realer und | |
behaupteter Persönlichkeit bringt nicht nur Suchtgefahr mit sich bringt, | |
sondern auch ein gefährliches Verschwimmen von Grenzen. Immer wieder | |
erinnert Becky gleiche Situationen, aber in unterschiedlichen Versionen. | |
Was ist wahr, was Wunsch? Auch Chloe scheint sich dessen nicht mehr sicher. | |
Glaubwürdig sind die Details des Plots nicht immer. Doch sobald die Serie | |
ihre sogartige Spannung voll entfaltet hat, fällt das nicht mehr ins | |
Gewicht. Auf reizvolle Weise funktioniert „Chloe“ zudem gleichzeitig als | |
moderne Antwort auf [2][Patricia Highsmiths] „Der talentierte Mr. Ripley“ | |
wie auch als kleinkalibrige Ergänzung zu aktuellen | |
Hochstapler*innen-Geschichten wie „[3][Inventing Anna]“ oder „[4][The | |
Dropout]“. | |
Doch all das wäre nur halb so interessant, wäre da nicht die | |
Hauptdarstellerin inmitten eines insgesamt überzeugenden Ensembles. Als | |
Prinzessin Anne in „[5][The Crown]“ war Erin Doherty bereits eine echte | |
Entdeckung, hatte allerdings viel zu wenig zu tun. Das kann man hier nicht | |
behaupten: Im Spektrum zwischen herzzerreißend und eiskalt gelingt ihr | |
geradezu eine Masterclass des nuancierten Spiels, die man nicht verpassen | |
sollte. | |
26 Jun 2022 | |
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## AUTOREN | |
Patrick Heidmann | |
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