# taz.de -- 100 Jahre nach dem Mord an Rathenau: Für immer Außenseiter | |
> Vor 100 Jahren wurde der deutsche Außenminister Walther Rathenau von | |
> Rechtsextremen ermordet. Ein Spaziergang zu Erinnerungsorten in Berlin. | |
Bild: Gedenkstein von Walther Rathenau in Grunewald | |
Ich stehe im elften Stock eines Apartmenthauses am Rathenauplatz. Der Blick | |
von oben über Berlin ist weit. Der Ku’damm erstreckt sich nach Osten, nach | |
Süden verlaufen die Hubertus- und die Koenigsallee, im Nordwesten | |
verschmilzt die Halenseestraße mit dem vielspurigen Asphalt der | |
Stadtautobahn, wo sich zur Zeit Rathenaus noch der Lunapark befand, ein | |
riesiger Vergnügungspark nach dem Vorbild von Coney Island in New York. | |
1935 wurde er abgerissen, um Platz zu schaffen für die Halenseestraße. Der | |
Verkehr sollte [1][bei den Olympischen Spielen zwei Jahre später], die als | |
Propagandaspektakel inszeniert wurden, reibungslos rollen. | |
An diesem Platz, der heute seinen Namen trägt, kam der damalige deutsche | |
Außenminister Walther Rathenau am späten Vormittag des 24. Juni 1922 nicht | |
mehr an. 900 Meter entfernt wurde er an der Kurve Koenigsallee, Ecke | |
Erdener Straße [2][vor nun genau 100 Jahren von drei rechtsextremen | |
Attentätern ermordet]. | |
Im Parterre des Apartmenthauses begegne ich einem Anwohner, der mir | |
erklärt, dass es zwar den Rathenauplatz, aber kein Haus mit dieser Adresse | |
gäbe. Walter Rathenau: Industrieller, Intellektueller und Politiker. | |
Geboren wurde er 1867 als ältester Sohn des AEG-Gründers Emil Rathenau. Er | |
studierte und promovierte in Naturwissenschaften und Maschinenbau, diente | |
beim preußischen Militär als Einjährig-Freiwilliger. Da er aus einer | |
jüdischen Familie stammte, blieb ihm eine Karriere beim Militär oder im | |
diplomatischen Dienst verwehrt. | |
Zugleich [3][hatte er ausprägte künstlerische Begabungen]: Er malte, | |
veröffentlichte als Schriftsteller und pflegte Briefwechsel mit Künstlern | |
und Intellektuellen wie Samuel Fischer, Annette Kolb, Harry Graf Kessler, | |
Maximilian Harden oder Gerhart Hauptmann. Die sechsbändige Gesamtausgabe | |
seiner Schriften umfasst beinahe 8.500 Seiten. Er stieg in das | |
Familienunternehmen ein, reiste zweimal nach Afrika und beriet den Kaiser | |
[4][in kolonialpolitischen Fragen]. Wilhelm II. war pro Kolonien, Rathenau | |
eher contra, aber aus wirtschaftspolitischer Sicht. Er fuhr 1907 und 1908 | |
auf zwei Reisen mit und rechnete dann dem Kaiser vor, dass sich | |
Kolonialbesitz nicht mehr lohnte. | |
## Zwangsarbeiter:innen aus Belgien | |
Während des Ersten Weltkriegs wurde er zum Leiter des Kriegsrohstoffamtes | |
ernannt, ein Amt, für das er auch vorgeschlagen wurde, weil er sich zuvor | |
für eine kartellfreundliche Politik eingesetzt hatte. Im Kriegsverlauf | |
unterstützte er die Idee, wegen des Arbeitskräftemangels | |
Zwangsarbeiter:innen aus Belgien zu deportieren, die bald darauf | |
umgesetzt wurde: 61.000 Menschen wurden völkerrechtswidrig ins Deutsche | |
Reich verschleppt. | |
Im Juni liegen vereinzelt Kiefernzapfen auf der Koenigsallee. Knapp zwei | |
Kilometer weiter südlich befindet sich Rathenaus ehemalige Villa. Er ließ | |
sie 1910 nach eigenen Plänen von Johannes Kraatz erbauen, der auch das | |
AEG-Werk Kabelwerk Oberspree in Köpenick mitgeplant hatte. Die Fassade ist | |
hellgelb gestrichen und wird von einem Gesims umrahmt, das sich wie ein | |
Geschenkband über dem ersten Stock um das Haus schlingt. Die Tür ist | |
schmal, und manche Rathenau-Expert:innen sind der Meinung, dass das den | |
bescheidenen Geist des Erbauers widerspiegle. | |
## Zunehmend Sündenbock | |
Rathenau lebte allein und zurückgezogen, er war nie verheiratet, pflegte | |
aber jahrelang eine innige Korrespondenz mit einer unbekannten Frau, die | |
ihre Briefe mit W. unterzeichnete. Sein Freund, der Publizist Maximilian | |
Harden, war hier ebenso zu Fuß zu erreichen wie sein Verleger Samuel | |
Fischer und seine Schwester Edith. Als er im Ersten Weltkrieg das Amt des | |
Leiters des Kriegsrohstoffamtes übernahm, war das sein Einstieg in den | |
politischen Betrieb. In wenigen Monaten baute Rathenau die Behörde auf, | |
dann gab er das Amt aber wieder ab. Nach dem verlorenen Krieg und dem | |
Kapp-Putsch im März 1920 wurde er in völkischen Kreisen zunehmend zur | |
Personifikation [5][einer jüdisch-kapitalistischen Weltverschwörung]. | |
Auf der Konferenz im belgischen Spa im Juli 1920, auf der die Höhe der | |
deutschen Reparationsleistungen festgelegt werden sollte, sprach er sich | |
als Sachverständiger dafür aus, die Forderungen der Alliierten zu erfüllen | |
und die Kohlelieferungen zu erhöhen, auch, um Zeit für weitere | |
Verhandlungen zu gewinnen. Er vertrat die Position, dass den | |
Reparationsforderungen nachgekommen werden müsse, sonst drohe im | |
schlimmsten Fall die Besetzung oder sogar Auflösung des Landes. Das war der | |
Beginn der sogenannten Erfüllungspolitik, die der völkischen Seite noch | |
mehr Gründe lieferte, ihn zum Sündenbock zu erklären. | |
## Klebezettel mit Schmähungen | |
Überall in der Stadt hingen Klebezettel mit Schmähungen und Drohungen gegen | |
ihn. Die Hassrede gipfelte in dem Vers: „Knallt ab den Walther Rathenau, | |
die gottverdammte Judensau“. Doch je mehr er von rechts ins Kreuzfeuer | |
geriet, umso mehr ließ ihn das als einen geeigneten Kandidaten in | |
republikanischen Kreisen erscheinen. Am 31. Januar 1922 wurde er | |
schließlich von Reichskanzler Joseph Wirth zum Außenminister ernannt. | |
Erneute Proteste gab es wegen seiner Teilnahme an der Konferenz von Genua | |
und Rapallo, es trafen Petitionen im Auswärtigen Amt ein. Die völkischen | |
Zeitungen stimmten in diesen Protest ein, der von kruden | |
Verschwörungstheorien getragen und mit unverhohlenen Morddrohungen gespickt | |
war, so sehr, dass sich das Auswärtige Amt dazu gezwungen sah, eine | |
Erklärung zu veröffentlichen. | |
Am 24. Juni 1922 um 10.45 Uhr stieg Rathenau vor seinem Haus in das offene | |
Cabriolet der firmeneigenen Marke NAG, in dem sein Chauffeur bereits vor | |
der Tür auf ihn wartete. Sie bemerkten nicht, dass sie verfolgt wurden. | |
## Der Ort des Attentats an der Koenigsallee | |
Rathenaus Tod ist Teil einer Attentatsserie durch die Mitglieder der | |
rechtsextremen, monarchistischen geheimen „Organisation Consul“. Ihr | |
Führer, der „Consul“ Hermann Ehrhardt, war 1920 in München untergetaucht, | |
knüpfte aber ein immer engeres Netzwerk von Unterstützern im ganzen Land. | |
Zu ihren Opfern zählt der ehemalige Reichsfinanzminister Matthias | |
Erzberger, der im August 1921 ermordet wurde. [6][Philipp Scheidemann], der | |
erste deutsche Ministerpräsident, hatte Anfang Juni einen | |
Blausäure-Anschlag überlebt. Zehn Tage nach Rathenaus Ermordung wurde auch | |
sein einstmals enger Freund Maximilian Harden auf offener Straße und ganz | |
in der Nähe Opfer eines Anschlags, der der O. C. aber nie nachgewiesen | |
wurde. Das Ziel war klar: die junge Republik zu destabilisieren und einen | |
Putsch zu provozieren. | |
Rathenau war mehrfach und von verschiedenen Seiten gewarnt worden, dass | |
sein Leben in Gefahr sei, er lehnte Polizeischutz aber ab. Die Attentäter | |
waren zu dritt: Der Student Ernst Werner Techow steuerte den Wagen, Erwin | |
Kern schoss mit einer Maschinenpistole auf ihn. Am Tatort befand sich eine | |
Krankenschwester auf dem Weg zum Dienst, die noch Hilfe zu leisten | |
versuchte. Der unverletzt gebliebene Chauffeur und sie entschieden, den | |
schwer verletzten Rathenau zurück in sein Haus zu bringen, wo er nur kurze | |
Zeit später verstarb. | |
## Zerrissenheiten seiner Zeit | |
Den Tätern gelang es, zu flüchten, sie wurden aber nach einer spektakulären | |
Fahndung im Juli gefasst. Hermann Fischer beging Selbstmord, Kern wurde | |
durch eine Kugel der Polizei tödlich getroffen, Techow war bereits vorher | |
verhaftet worden. Ihm und zwölf anderen Tatbeteiligten wurde im Oktober am | |
neugebildeten Staatsgerichtshof in Leipzig ein Prozess gemacht, der für | |
viel Aufsehen sorgte, aber dessen Anklageschrift die zentrale Frage nicht | |
in den Blick nahm: Waren sie Mitglieder einer terroristischen Organisation? | |
Der „Consul“ Hermann Ehrhardt wurde nie verurteilt, er starb 1971 auf einem | |
Wasserschloss in Niederösterreich. | |
In Rathenaus Leben, geprägt von Widersprüchen und Schwierigkeiten, spiegelt | |
sich die Zerrissenheit seiner Zeit wieder. Er war ein hellsichtiger und | |
kritischer Autor, einflussreicher Industrieller und leidenschaftlicher | |
Politiker, und blieb trotzdem als Jude Außenseiter. Der Gedenkstein in der | |
Koenigsallee befindet sich etwas zurückgesetzt in einer Senke der S-Kurve, | |
an der Rathenau ermordet wurde. Der Ort wird gerade für die Feierlichkeiten | |
herausgeputzt. Ein Mitarbeiter des Grünflächenamts sägt Triebe von einer | |
Linde am Straßenrand, ein anderer klopft Pflastersteine und bessert den | |
Boden aus. So ist das auch mit der Erinnerung: Sie muss immer wieder neu | |
zusammengesetzt und verstanden werden. | |
24 Jun 2022 | |
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## AUTOREN | |
Michaela Maria Müller | |
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