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# taz.de -- 100 Jahre nach Mord an Außenminister: Was uns Rathenau heute sagt
> Der vor 100 Jahren ermordete Außenminister Walther Rathenau war Visionär,
> Ökologe und Konsumkritiker. Er sah die Probleme, vor denen wir heute
> stehen.
Bild: Der deutsche Außenminister Walter Rathenau, aufgenommen im April 1922 in…
Erinnerung muss immer wieder neu zusammengesetzt werden“, so endet die
Erinnerung der Schriftstellerin Michaela Maria Müller an den Mord Walther
Rathenaus, [1][veröffentlicht in der taz]. Richtig. Aber bei dieser
Rekombination geht gelegentlich das Beste verloren. Die Gedenktexte der
vorigen Woche nahmen den jüdischen Patrioten in den Blick, den die
antisemitischen Eliten ausschlossen; sie erinnerten an den von Reaktionären
finanzierten Terrorismus; sie betrauerten den Außenminister, der zwischen
Westbindung und Versorgung mit russischem Öl zerrissen war.
All das wurde mehr oder weniger dezent in Bezug zur Gegenwart gesetzt –
aber es führen keine vitalen Verbindungen von der rechtsradikalen
[2][Organisation Consul] zu den Schüssen von Halle 2019 und keine vom
Rapallo-Vertrag zu Gerhard Schröder. Die Kontakte des AEG-Chefs zu den
künstlerischen Avantgarden sind nicht der Vorschein einer
„volkswirtschaftlich relevanten Synthese aus Kreativwirtschaft und
Industrie“, wie es Nils Minkmar schwant. Und Rathenaus Wirtschaftstheorie
ist nicht, wie FDP-Justizminister Marco Buschmann glauben möchte, die
geistige Grundlegung für die Soziale Marktwirtschaft der Bonner Republik.
Rathenau ging weiter. Und genau das ist für mich der Grund, für einen
Augenblick patriotisch zu trauern. Um den exemplarischen Bürger Rathenau,
den Ingenieur, den Unternehmer und Politiker, der die besten Erbschaften
des 19. Jahrhunderts verkörperte, kurz bevor ihre Strahlkraft in den
Schlachten des Weltkriegs erlosch: die Weltoffenheit und der Humanismus des
humboldtschen Kosmos, der aufgeklärte Pantheismus Goethes, die
Wissenschaftsblüte und der Konstruktionswille der Gründerjahre.
Rathenau glaubte, dass das größtmögliche Glück für die größtmögliche Za…
von Menschen herzustellen – oder eher wohl das geringstmögliche Unglück –
ein ebenso politisches wie technisches Problem sei. Also schwierig und doch
machbar.
Auch wenn sich Geistigkeit und Ingenieursdenken in seiner pathetischen
Prosa ineinanderdrehen: die Lektüre seines Hauptwerks „Von kommenden
Dingen“ lohnt immer noch. 1917 skizziert Rathenau eine deutsche
Gesellschaft, in der die Forderungen der Französischen Revolution und der
Arbeiterbewegung, die Fortschritte der Wissenschaft und die Produktivität
der Großindustrie zusammenschießen zur Verfassung einer demokratischen,
meritokratischen und egalitären Arbeitsgesellschaft.
„An der Arbeit, die in unsichtbarer Verkettung alle leisten, sind alle
berechtigt. Jeder bedarf des gemeinsamen Schutzes, der gemeinsamen
Einrichtungen, die er nicht geschaffen hat. Das Dach, unter dem er schläft,
die Straße, die er betritt, das Werkzeug, das er hebt, dies alles ist von
der Gesamtheit geschaffen. Eigentum, Verbrauch und Anspruch sind nicht
Privatsache.“ Individueller Reichtum ruht auf der Vorarbeit von
Generationen, und darum gehören die Früchte der Produktivität allen.
## Plädoyer für Enteignungen
Daraus folgt für den AEG-Erben, dass die „verdienstlosen Massenerben“
enteignet, die „Erblichkeit der Kapitalmacht“ gebrochen werden müsse,
zugunsten des öffentlichen Wohlstands: durch Kultureinrichtungen, kommunale
Dienste, sozialen Ausgleich, vor allem aber durch Volksbildung. Nur mit
gebildeten Bürgern und „nur auf der Grundlage ähnlicher Lebensumstände“
könne Demokratie existieren.
[3][Wie sich zeigte, waren solche Gedanken tödlich]. Aktuell sind sie, weil
Rathenau die sozialen Ziele mit ökologischen und wirtschaftlichen
Notwendigkeiten verknüpfte. Seine ökonomische Theorie rechnet nicht mit
Geld, sondern mit Materie, sprich: mit der Endlichkeit der Ressourcen. Er
sieht den energetischen Kollaps und die Ressourcenerschöpfung des
kapitalistischen „Kreislaufs ohne Ziel“ voraus, in dem die Menschen durch
„Ströme von Waren stampfen“ und „Ströme von Abfällen hinter sich lasse…
Er verachtet diese Unersättlichkeitsmaschine, aber anders als Max Weber
resigniert er nicht, sondern arbeitet an der rationellen Nutzung von
Ressourcen. Einiges davon ließ sich in der Kriegswirtschaft erproben.
Verzicht sei angesagt, damit das „Kügelchen, das wir bewohnen“, auch in
Zukunft bewohnbar bleibt. Und die Beschränkung des Konsums, „der Zwang, mit
Kräften und Stoffen hauszuhalten“, führe wiederum zur Notwendigkeit eines
demokratischen Wohlstandsausgleichs. „Reich im Staat darf nur einer sein:
der Staat.“ Nicht als Eigentümer, sondern als Agent der
gesamtwirtschaftlichen Regulierung und Verteilung.
## Er sah die Menschheitsprobleme
Aber was in den Gefechtspausen des Krieges denkbar war, zerbrach in den
Parteikämpfen der Republik. Die Rechte wollte den ungebremsten
Kapitalismus, und der politische Sozialismus war gespalten. „Der Moment
wird so bald nicht mehr kommen“, schrieb Rathenau 1921, „und es ist
vielleicht kein Unglück; denn es ist notwendig, dass der Umgestaltung der
Einrichtungen die Umgestaltung des Denkens vorausgeht.“ Er machte weiter,
preußisch, stoisch und ohne Bodyguard.
Die Grenzen, an die Rathenau damals dachte, liegen knapp vor uns. Aber die
Forderung, dass „jeder Mensch in jedem Augenblick zu prüfen hat, ob das
Gut, das er (der Erde) entnimmt, der Verantwortung entsprechend entnommen
werden darf“, hat den Weg in die Verfassungen noch nicht gefunden. „Es muss
geteilt werden“, auch international. Das forderte Rathenau ein Lebensalter
vor der Entkolonisierung, und er sagte „Deutschlands Jugend“ voraus, dass
es „Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte“ bedürfe, bis aus den
„imperial-nationalen Wirtschaftskämpfen“, aus dem „Polizeibund der
Staaten“, eine „Gemeinwirtschaft der Erde“ werde.
In hundert Jahren ist viel zerstört, viel gelernt, am Ende einiges gewonnen
worden. Aber Terraingewinne in diesem Kampf gehen schnell wieder verloren.
Wie jetzt gerade wieder. In unserer Zeitenwende.
Mathias Greffrath lebt als freier Autor für Print und Radio in Berlin. Er
ist Herausgeber von „RE: Das Kapital. Politische Ökonomie im 21.
Jahrhundert“ (Kunstmann, 2017).
29 Jun 2022
## LINKS
[1] /100-Jahre-nach-dem-Mord-an-Rathenau/!5859848
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Organisation_Consul
[3] /Beginn-des-rechten-Terrors/!5836899
## AUTOREN
Mathias Greffrath
## TAGS
Weimarer Republik
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