Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Evakuierungen in der Ostukraine: Die letzte Verbindung
> Pokrowsk ist der letzte Bahnof im Donbass, der noch in Betrieb ist.
> Täglich werden Alte und Gebrechliche aus dem Frontgebiet evakuiert.
Bild: Flucht aus dem Donbass: der Bahnhof von Pokrowsk Ende Mai
Pokrowsk taz | Es ist Mittag, die Sonne brennt, die Lufttemperatur beträgt
35 Grad. Die Fenster des Bahnhofsgebäudes in der ostukrainischen Stadt
Pokrowsk sind mit Sperrholzplatten vernagelt und von innen mit Sandsäcken
abgedichtet. Sollte es zu Angriffen kommen, dann, so die Hoffnung, können
diese Säcke vielleicht irgendwie Schutz vor Glassplittern bieten. In der
Wartehalle halten sich zu diesem Zeitpunkt nur Mitarbeiter*innen von
Rettungsdiensten auf – noch. Rollstühle stehen schon bereit, auch heißes
Wasser für Tee ist vorbereitet.
Hier treffen sonst fast minütlich Menschen aus Städten und Dörfern ein, die
ununterbrochen angegriffen werden. Ihre einzige Hoffnung, um ihr Leben zu
retten: sich evakuieren zu lassen. Der Bahnhof von Pokrowsk befindet sich
nur 100 Kilometer von der Frontlinie entfernt, etwa 70 Kilometer
nordwestlich von Donezk. Nur noch von hier fahren Züge ab, die die Menschen
aus dem Donbass herausbringen. Alle anderen Verbindungen wurden am 8. April
eingestellt, nachdem der Bahnhof in der benachbarten Stadt Kramatorsk
beschossen worden war. An diesem Tag starben 61 Menschen, darunter viele
Kinder. 121 Personen wurden verletzt.
Um überhaupt hierher nach Pokrowsk zu gelangen, müssen die Menschen einen
beschwerlichen und gefährlichen Weg auf sich nehmen. Angaben der
ukrainischen lokalen Behörden zufolge lebten in diesem von der Ukraine
kontrollierten Teil des Gebietes Donezk bis zum 24. Februar rund 1,7
Millionen Menschen. Jetzt sind in dieser Region, die fortwährend von
russischen Truppen angegriffen wird, noch 360.000 Personen übrig geblieben.
In der Regel sind dies vor allem alte Menschen, die krank, nicht mobil und
sich selbst überlassen sind.
Das Warten am Bahnhof hat plötzlich ein Ende. Mehrere Busse mit Menschen,
die evakuiert worden sind, halten vor dem Bahnhofsgebäude. Der erste Bus
ist gepanzert. Als sich die Türen öffnen, steigen die Ersten aus – ganz
langsam und zögerlich. Sie scheinen alle mindestens 60 Jahre oder älter zu
sein und haben jeweils nur eine kleine Tasche in der Hand. Später wird
klar, dass die 20 Menschen, die mit diesem Bus angekommen sind, alle aus
dem Dorf Raigorodok kommen, das in der Nähe der Stadt Slowjansk liegt. Die
meisten sind Nachbarn, die in den drei vergangenen Wochen gemeinsam in
einem Keller ausgeharrt haben.
## 20 Tage im Keller
Als Letzte steigt die 81-jährige Nina Romanowa aus dem Bus. Sie hat zwei
Pullover an, eine warme Hose und eine Jacke. Ihre Hände umklammern zwei
dicke Holzstöcke, die sie anstelle einer Gehhilfe benutzt. „Wo sind wir?“,
fragt sie als Erstes. „Hier ist Pokrowsk“, antwortet einer der
Freiwilligen. Die Frau hat jede Orientierung verloren, ihr ist heiß und sie
versteht kaum, was um sie herum passiert. „Ich habe die vergangenen 20 Tage
im Keller verbracht und die Sonne so viele Tage nicht gesehen“, sagt sie.
Raigorodok ist bereits seit Längerem Ziel von russischen Angriffen. Licht,
Wasser, Gas und Telefonverbindungen gibt es seit geraumer Zeit nicht mehr.
Das Dorf legt zwischen Izjum und Liman – zwei Orten, die russische Truppen
vor Kurzem besetzt haben. Wenn die russische Armee die Stadt Slowjansk
einnehmen will, führt der Weg über Raigorodok. „Unser Dorf wird von
Explosionen erschüttert, alles brennt. Das Haus gegenüber von meinem wurde
in der vergangenen Nacht zerstört“, sagt Nina Romanowna und fügt hinzu:
„Morgen wird auch mein Haus nicht mehr da sein.“
Als Freiwillige gekommen seien, habe sie sich zunächst nicht evakuieren
lassen wollen. „Wir hatten doch nur wenige Minuten, um zu packen. Ich habe
mitgenommen, was ich konnte“, sagt die alte Frau und öffnet ihre Tasche.
Darin sind ihre Dokumente, mehrere Paar Socken und eine Jacke. „Ich habe
meine Hausschuhe vergessen! Was soll ich jetzt machen?“, fragt sie
verwirrt.
Schon kommt die nächste Frage: „Wohin bringen sie uns? Ich verstehe
überhaupt nichts mehr“, sagt sie zu ihrer Nachbarin Ljudmila, die mit ihr
im Keller gesessen hat und die sie jetzt nicht aus den Augen lässt. „Nach
Dnipro, aber mehr weiß ich auch nicht“, lautet die Antwort der Frau, die
ebenfalls ratlos ist.
In diesem Moment kommt ein Freiwilliger zu Nina Romanowna, in der einen
Hand hält er einen Tee, in der anderen zwei neue Stöcke. „Das ist für dich,
Großmutter. Deine Stöcke werfen wir weg, damit du die schrecklichen
Erlebnisse schnell vergisst“, sagt er und lächelt. Die Augen der alten Frau
füllen sich mit Tränen, zu unerwartet kommt diese freundliche Ansprache.
„Danke“, murmelt sie, mehr kann sie nicht sagen. Doch dann findet sie ihre
Worte wieder. „Wir haben so viele gute Menschen in der Ukraine. Ich will so
sehr, dass dieser Krieg endet, die Ukraine gewinnt und ich so schnell wie
möglich in meine Heimat zurückkehren kann. Ich hoffe so sehr, dass mein
Haus noch steht.“
Ihre Nachbarin Ljudmila wurde mit ihrem kranken Mann evakuiert. Während
alle anderen von Freiwilligen mit Tee versorgt werden, gibt Ljudmila ihrem
Mann in einer Ecke der Bahnhofshalle eine Betäubungsspritze und wechselt
seine Windeln. „Damit er die Fahrt besser durchhält“, sagt sie knapp.
Obwohl sich ihr Mann zwar langsam, aber selbstständig fortbewegen kann,
wird er in einen speziellen Behindertenwaggon gebracht. Später wird jedoch
klar, dass es ihm, im Vergleich zu anderen Reisenden, noch relativ gut
geht.
Als die meisten Passagiere bereits ihre Plätze im Zug eingenommen haben,
steht auf dem Bahnsteig neben dem Eingang des Waggons immer noch eine
Schlange von Krankenwagen. Menschen warten darauf, mitgenommen zu werden.
Rollstühle, in denen alte Frauen mit bunten Kopftüchern sitzen, stehen in
einer Reihe auf dem Bahnsteig. Mit einer speziellen Hebebühne werden sie
langsam einzeln in den Waggon gehoben. Dort werden alle von Freiwilligen in
Empfang genommen. „Machen Sie sich keine Sorgen! Ihr seid sicher, alles ist
in Ordnung“, sagen sie und halten die Hände ihrer Schützlinge.
Am schlimmsten ist es für diejenigen, die aus eigener Kraft nicht einmal
aufrecht sitzen können. Freiwillige haben diese alten Menschen aus Gegenden
unter starkem Beschuss gerettet, indem sie sie einfach nebeneinander auf
Matratzen auf den Boden von Bussen gelegt haben. Für viele von ihnen war
dies die einzige Chance, dem Krieg zu entkommen. „Ich will nur eins: dass
keiner von ihnen dort allein im Bombenhagel oder vor Hunger stirbt“, sagt
ein Helfer, als der letzte bettlägerige alte Mann, den er gerade aus dessen
Haus an der Front gerettet hat, in den Waggon getragen wird. „Morgen werden
wir wieder dorthin fahren und übermorgen auch. Wir machen das so lange, bis
wir alle Menschen gerettet haben, die wir retten können“, sagen die
Freiwilligen, die dabei ihr eigenes Leben riskieren.
Endlich sind alle Reisenden im Zug. Plötzlich weicht die Sommerhitze einem
Gewitter. Blitze und rollender Donner lassen alle aus ihren Fenstern
schauen, um sich zu vergewissern, dass es Donner und keine Angriffe sind.
Heute reisen etwa 300 Personen in diesem Zug mit sieben Waggons.
Einige von ihnen werden in drei Stunden in Dnipro sein, wo sie ein neues
vorübergehendes Zuhause finden werden. Andere werden nach Lemberg fahren.
Doch die meisten von ihnen sind auf dem Weg in die Ungewissheit. Sie wissen
nicht genau, wo sie in naher Zukunft leben werden, genauso wie sie nicht
wissen, wann sie nach Hause kommen. Und ob sie überhaupt einen Ort haben,
an den sie zurückkehren können.
Aus dem Russischen: Barbara Oertel
6 Jun 2022
## AUTOREN
Anastasia Magasowa
## TAGS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Donbass
Russland
Wladimir Putin
Geflüchtete
Evakuierung
Bahnhof
GNS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Atomkraft
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Russland Heute
## ARTIKEL ZUM THEMA
Krankenversorgung in der Ostukraine: OPs hinter Sandsäcken
Das Krankenhaus Nr. 1 in Kramatorsk arbeitet schon jetzt unter Hochdruck.
Der russische Vormarsch dürfte die Lage weiter verschlimmern. Ein Besuch.
Ausländische Soldaten in der Ukraine: Im Einsatz für die zweite Heimat
Zwei Briten und ein Marokkaner sind jüngst wegen ihres Einsatzes im
Ukrainekrieg zum Tode verurteilt worden. Die Kritik daran wächst.
Aktuelle Lage in der Ukraine: Vermittlung in Ankara
Der russische Außenminister präsentiert sich kompromissbereit bei der
Blockade von Weizenexporten. In der Ukraine stößt das Angebot auf Skepsis.
+++ Nachrichten zum Ukrainekrieg +++: Roth sieht Identität bedroht
Kulturstaatsministerin Claudia Roth besucht Odessa. Die ukrainische
Luftwaffe attackiert russische Stellungen im Gebiet Cherson. Und Selenski
dankt Johnson.
Kooperation mit US-Konzern: Ukraine setzt auf Atomkraft
Um Versorgungssicherheit zu gewährleisten, will Kiew die Nutzung der
Atomenergie ausbauen. Doch das ist nicht der einzige Grund.
Infrastruktur in der Ukraine: Statistik der Zerstörung
Tausende Wohnungen, Krankenhäuser und Schulen sind dem Krieg bereits zum
Opfer gefallen. Ein Wiederaufbau könnte zehn Jahre dauern.
Russischer Angriff auf die Ukraine: 100 Tage Krieg
Zerrissene Familien, Künstler*innen an der Front. Und zwei Länder, die
nicht mehr wiederzuerkennen sind. Vier persönliche Bilanzen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.