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# taz.de -- Die Künstlerin Nina Canell in Berlin: Was aus dem Meer kommt
> Nina Canell verbindet auf poetische Weise Natur und technische
> Infrastruktur. In Berlin ist ihre Ausstellung „Tectonic Tender“ zu sehen.
Bild: Aus dem Meer geborgen: Überreste von Seekabeln, aus Nina Canells Ausstel…
Diese Ausstellung ist zunächst eine zum Hinhören. Es knirscht und knarzt,
wenn Besucher*innen ihre Füße auf die Schalen von Muscheln setzen.
Sieben Tonnen Muschelschalen ließ die in Schweden geborene und mittlerweile
in Berlin lebende Künstlerin Nina Canell in einer dicken Schicht in der
[1][Berlinischen Galerie] auslegen.
Das Geräusch der Schritte erinnert an Spaziergänge am Meer, wenn die Wogen
Muschelschalen an den Strand gespült haben und sie den unsicheren
Untergrund für den Weg bilden. Die künstliche Umgebung der Galerieräume, in
der man jetzt zum Laufen aufgefordert ist, erinnert allerdings viel stärker
daran, dass dieses Treten ein Treten in einem Tierfriedhof ist. Worauf das
eigene Lebendgewicht jetzt lastet, sind Überreste gestorbener Lebewesen.
Besucher*innen der Ausstellung sind so etwas wie Todesverdichter.
Canell, die sich schon früh für Minerale und chemische Substanzen
interessierte, verweist allerdings auch darauf, dass diese Muschelschalen
Kalzit enthalten. Das Mineral ist ein wichtiger Bestandteil von Beton, wie
von Kunstdünger.
## Worin wir leben, war einst Gehäuse von Meeresgetier
Firmen wie Heidelberg Zement greifen noch heute zur Zementproduktion auf
geschredderte Muschelschalen zurück. Worin wir leben, war einst also das
Gehäuse von Meeresgetier. Was wir essen, wächst dank Meeresleichen besser,
zumindest lautet so das Versprechen der chemischen Industrie.
In zwei anderen Arbeiten legt Canell weitere Verbindungen zwischen Meer und
Industriegesellschaft offen. Wie archäologische Artefakte wirken zwei
zylindrische schwarze Objekte. Es handelt sich um Überreste von Seekabeln,
die unter der Meeresoberfläche zwischen den Kontinenten gespannt sind, um
den globalen Datenfluss des Internets überhaupt erst zu ermöglichen.
Man sieht den Kabelstücken Gebrauchsspuren an, glaubt zu erkennen, welche
Reaktionen das Salzwasser auf der Außenhaut ausgelöst haben mag – und
scheitert schier an der Vorstellung daran, welche Datenmassen einst durch
die Kabel gejagt wurden. Die von Canell ausgewählten Objekte erinnern an
die sehr [2][materielle Grundlage der Informationsgesellschaft]. Das
Flüchtige, das diese gewöhnlich kennzeichnet, wird hier zur anfassbaren
Substanz.
## Drachentore in der Stadt
Einen Schritt ins Mythische unternimmt die Künstlerin in ihrer dritten
Arbeit, dem Video „Energy Budget“. Zunächst zeigt die Kamera endlos
erscheinende Geschosszeilen von Wolkenkratzern in Hongkong. In sie sind
aber mehrere Etagen umfassende rechteckige Durchlässe integriert. Die
Löcher gehen auf Feng-Shui-Praktiken zurück. Es handelt sich um sogenannte
Drachentore.
Hintergrund ist die Annahme, dass Drachen – in der chinesischen Tradition
als Träger von Wissen und Weisheit angesehen – in den Bergen wohnen und
regelmäßig ans Meer müssen. Damit ihnen der Weg nicht durch die
Wolkenkratzer versperrt sind, sind ebendiese Tore in die gewaltigen
Betonkörper eingelassen. Zugleich sollen die Drachentore für einen guten
Energiefluss im Gebäude selbst sorgen.
Diese Praxis ist mittlerweile über Hongkong hinaus verbreitet. Der von Rem
Kohlhaas designte Sitz des chinesischen Staatsfernsehens in Peking weist
ebenfalls einen riesigen zentralen Durchlass auf wie auch der in Dubai
errichtete Opus Tower der mittlerweile verstorbenen Zaha Hadid.
Auch Kohlhaas’ nicht realisierter Entwurf des Hamburger
Wissenschaftszentrums war von einem zentralen Loch in der Hochhausscheibe
geprägt. Ob es sich auch hier um Geisterdurchlässe gehandelt hätte, ist
aber ungewiss.
Canells Anordnung von Arbeiten stellt interessante Verknüpfungen zwischen
Lebewesen und deren Lebensräumen, ihrer Verarbeitung zu Ressourcen, dem
Verhältnis von Habitat und technischer Infrastruktur sowie zu mythischen
Großerzählungen her. In Letzteren werden Konflikte möglicherweise
ausgeglichen, möglicherweise handelt es sich aber auch nur um pure
Illusionen. Canell enthält sich jeglicher Wertung.
Das öffnet den Raum zum tastenden Denken über die unterschiedlichen Zugänge
zur Welt, in der wir leben, die wir gestalten und im Gestalten zerstören.
Jeder Schritt auf den Muschelschalen ist ein Schritt auf Überresten
gestorbener Lebewesen. Jeder Druck auf die Schalen bringt sie dem Zustand
eines Zusatzstoffes für Beton und Dünger näher.
So ist der Ausstellungsbesuch eingebettet in eine industrielle Produktion.
Der Mensch als Massenwesen begriffen formt diesen Planeten. Ob Feng Shui
eine geeignete Abhilfe ist, bleibt zweifelhaft. Dass neue Gleichgewichte
zwischen Mensch, Gesellschaft, Industrie und dem Planeten gefunden werden
müssen, macht diese Ausstellung aber auf sehr ungewöhnliche Art und Weise
deutlich.
16 May 2022
## LINKS
[1] /Ausstellung-Stadtrand-Berlin/!5601062
[2] /Versteckte-Knotenpunkte-des-Internets/!5844991
## AUTOREN
Tom Mustroph
## TAGS
Kunst
Ausstellung
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