| # taz.de -- Schalke 04 als Fußballkosmos: Ganz großes Drama | |
| > Noch ein Text über den Schalker Fußballkosmos? Klar, es kann gar nicht | |
| > genug davon geben. So wie die Fans nie genug haben können von ihrem Klub. | |
| Bild: Mehr Farbe für die erste Liga: Graffito an der Glückauf-Kampfbahn in Ge… | |
| Gelsenkirchen taz | Geliebt und verhasst, verehrt und verhöhnt, permanent | |
| im Chaos und zugleich wichtigste Lebenskonstante von Hunderttausenden. Es | |
| gibt gewiss wenige Fußballvereine in Deutschland, die so polarisieren wie | |
| Schalke 04. Zweitligist, bis Sonntag jedenfalls, und trotzdem hat nur der | |
| FC Bayern in Deutschland mehr Mitglieder. | |
| Ein Klub, der gern knietief aus der Klischeekiste porträtiert wird: | |
| Arbeiterverein, Steigerlied und Zechensterben, Tristesse, Skandale und | |
| Zauberei, Schalker Kreisel, Eurofighter und Meister der Herzen, Tönnies, | |
| Gazprom und Eisbein bei Putin. Auf Schalke ist alles immer ganz großes | |
| Drama. Kann man einen Verein, wo Wahrheit und Mythen so verschmelzen, | |
| überhaupt erzählen? Ein Versuch: beim Anfang und beim Ende. | |
| Der Anfang: Schalke 04 wird 1904 gegründet als Westfalia Schalke aus dem | |
| Straßenfußball. Der Westdeutsche Verband weigert sich lange, die | |
| Jugendlichen aus dem Arbeitermilieu aufzunehmen. Bis zum Anschluss an einen | |
| bürgerlichen Verein 1912 ist Schalke vom Spielbetrieb ausgeschlossen. Diese | |
| proletarischen bis kleinbürgerlichen Underdogs, so idealisiert sie auch | |
| später wurden, sagen schon etwas: Es ist ein Verein der Menschen, von | |
| Anfang an. | |
| Das Ende: Schalke ist der einzige deutsche Profiklub neben dem HSV, der | |
| seinen eigenen Friedhof hat. Man wird als Schalker geboren, man lässt sich | |
| als Schalker bestatten. Schalke hat auch eine Kapelle im Stadion. Die ganze | |
| Hybris, der Widerspruch kulminiert in der Aussage von Ex-Geschäftsführer | |
| Peter Peters, für viele Inbegriff skrupelloser Eliten im Fußball, der | |
| sagte: „Wenn Menschen in unserer Stadt in Not sind, wenden sie sich | |
| entweder an die Kirche oder an Schalke 04.“ Ein Business-Objekt mit 183 | |
| Millionen Euro hohem Schuldenberg als Seelsorger. | |
| ## Religiöses Phänomen | |
| Pfarrer Ernst-Martin Barth wirkt eigentlich nicht wild auf noch ein | |
| Gespräch über Schalke als Religion. Als Pfarrer der Schalke-Kapelle, | |
| Dauerkarteninhaber, Schalker seit Kindesbeinen und neuerdings Mitglied des | |
| Schalker Ehrenrats ist diese Frage sein täglich Brot. „Wenn Schalke ein | |
| religiöses Phänomen für jemanden ist, rümpfe ich als Theologe darüber nicht | |
| die Nase“, sagt er. „Ich merke, wie viel Sinn dieser Verein den Menschen | |
| stiftet. Er ist Heimat von der Wiege bis zur Bahre.“ | |
| Das Frühjahr 2022 ist ein gutes Frühjahr nach vielen schlechten Jahren. | |
| [1][Der Klub grüßt von der Tabellenspitze der zweiten Liga], steigt auf und | |
| nach der langen Epoche der Misswirtschaft und Skandale, die im | |
| traumatischen Abstieg kulminierte, riecht es nach Neuanfang. Solides | |
| Wirtschaften und regionale Talente sollen die Maxime sein, wie alle | |
| gestürzten Klubs es eilig versprechen. Der Streit ist im Siegesrausch | |
| begraben – aber nicht tief. Für die Jahreshauptversammlung im Juni hat ein | |
| Mitglied einen Antrag auf Ehrenmitgliedschaft für den über seinen | |
| Rassismus gefallenen Fleischbaron und langjährigen Aufsichtsratschef | |
| Clemens Tönnies gestellt. Tönnies persönlich bat darum, den Antrag | |
| zurückzuziehen. Aber kann man alte Leichen einfach zurück in den Keller | |
| legen? | |
| Hinter der [2][Chiffre Tönnies] verbirgt sich ein Grundkonflikt, glaubt | |
| Susanne Franke von der antirassistischen Schalker Fan-Initiative. Seit | |
| Jahrzehnten gebe es zwei Lager. Jene, die für ethischere Finanzierung | |
| kämpften, und jene, die „starke Männer mit dicken Hosen und großem Geld“ | |
| wollten. Wie viel Gewissen will man sich leisten? [3][Der Abschied von | |
| Gazprom], sagt Franke, habe zwar etwas verändert. „Aber nur, weil es gerade | |
| sportlich gut läuft. Wenn es schlecht liefe, würden viele Leute wieder | |
| schreien: Seht ihr, das ist der Untergang!“ | |
| ## Arbeiterklub als Spielzeug der Eliten | |
| Eine Debatte, wie sie viele Klubs führen. Was anders ist: vielleicht die | |
| Liebe. Womöglich ist sie ein Stück unkaputtbarer, ernsthafter. Natürlich | |
| umso mehr in der Stadt mit der geringsten Lebenserwartung in NRW, der | |
| höchsten Arbeitslosigkeit im Bund, dem niedrigsten Nettoeinkommen in | |
| Deutschland. Einer Stadt, von der die Auswärtigen nichts wissen, außer: | |
| Schalke. | |
| Ein Klub mit vielen Engagierten. Ein Arbeiterverein als Spielzeug der | |
| Eliten? Im gentrifizierten Stadion, wohin Schalke-Fans aus England zum | |
| Heimspiel jetten, während Familien vor Ort sich keine Tickets leisten | |
| können, ist der Kohlekumpel vor allem ein Marketingtool. Und wohl ein | |
| Grund, warum der Klub so viele Fans von außerhalb der Stadt zieht. „Die | |
| kommen nicht nur für den Erfolg“, glaubt Franke. „Die stehen auf den | |
| Arbeitermythos.“ | |
| 160.000 Mitglieder hat Schalke, immer noch mehr als Borussia Dortmund. | |
| Matthias Berghöfer, Mitautor des Schalker Leitbildes und verantwortlich für | |
| viele Schalke-Bücher, ist einer der Auswärtigen. An seinem Wohnort | |
| Düsseldorf, sagt er, sei Fußball weit weniger wichtig. „Und so wirklich | |
| viel wissen Fans dort auch gar nicht über ihren Verein und erst recht | |
| nicht, wer dort wie und mit welcher Motivation handelt.“ In Gelsenkirchen | |
| dagegen sei Schalke immer Thema. Wer sich von außen Schalke als Verein | |
| sucht, tut das vielleicht auch, weil er mehr will: mehr Hingabe, mehr | |
| Drama, mehr Leid. Und manchmal: mehr Mitsprache. | |
| Denn Schalke ist ja auch immer noch ein eingetragener Verein, hat also | |
| keine in eine Kapitalgesellschaft ausgegliederte Profimannschaft. „Von | |
| außen wird die Mitsprache manchmal als Unruhe begriffen, aber in Wahrheit | |
| ist es der Versuch, das Gute im Klub zu erhalten. Irgendwann hatten die | |
| Handelnden zuletzt den Eindruck, das sei ihr Klub. Aber es ist unser Klub.“ | |
| Schalke ist auch der Ort, an dem Demokratie noch möglich ist – zu einem | |
| gewissen Grad. „Solange die Mühe sich noch lohnt, ist das noch unser Klub“, | |
| sagt Berghöfer. | |
| ## Liebe, echt? | |
| Unverbrüchliche Schalker Liebe? So leicht ist es auch nicht. Die Welt | |
| verändert sich auch in Gelsenkirchen: Entfremdung vom Fußball, | |
| Diversifizierung der Freizeit, Migration, Übermacht einzelner Klubmarken. | |
| In Gelsenkirchen, so Berghöfer, gebe es durch viele Migrant:innen und | |
| deren Konzentration in einzelnen Vierteln jetzt auch Leute, die Schalke gar | |
| nicht kennen. Auf den Bolzplätzen sehe man Trikots internationaler | |
| Großklubs. „Vor 25 Jahren war die Verbundenheit im Viertel zu Schalke viel | |
| deutlicher als heute.“ | |
| Berghöfer ist im Kuratorium der Stiftung Schalker Markt, die die lokale | |
| Bindung wieder mehr stärken möchte. Durch ein blaues Leuchtband, das durch | |
| die Stadt führt, durch Forschungsprojekte zur Neugestaltung der | |
| Nachbarschaft. All das diene dazu, den Menschen wieder klarzumachen, | |
| „welchen enormen Wert sie da haben mit dieser besonderen Tradition, diesem | |
| Verein und dem Stadtteil selbst“. | |
| Aber welchen Wert hat ein millionenschwerer Großklub noch für die Menschen | |
| vor Ort? Schalke 04 lokal wieder so präsent zu machen wie einst, sagt auch | |
| Berghöfer, sei ein langer Weg. „Vielleicht einer, der nie endet.“ | |
| 14 May 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Alina Schwermer | |
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