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# taz.de -- Folgen der Hochwasserkatastrophe: Von der Flut gespalten
> Fast ein Jahr nach der Flutkatastrophe in NRW sind die Folgen noch in
> Stolberg zu spüren. Das vergrößert die Kluft zwischen Arm und Reich.
Bild: Heftige Schäden in Stolberg nach der Flut
Die Flut kommt am 14. Juli 2021 nach Stolberg am Fuß der Eifel. Der nur
wenige Zentimeter tiefe Vichtbach im Stadtzentrum verwandelt sich an diesem
Mittwoch in einen reißenden, gefährlichen Strom. Die schlammigen, braunen
Wassermassen wälzen sich durch die Talachse, in der das Zentrum der 56.000
Einwohner:innen zählenden Stadt bei Aachen liegt. Auf der Stolberger
Rathausstraße werden Autos wie Spielzeuge weggespült, Bäume entwurzelt.
Menschen kämpfen um ihr Überleben.
„In der Nacht habe ich keine Minute geschlafen“, sagt Bürgermeister Patrick
Haas. „Ich habe einfach nur gehofft, dass niemand aus den oberen
Stockwerken nach unten geht, um Wertsachen zu retten“, erinnert sich der
40-Jährige. In Nordrhein-Westfalen [1][werden in den nächsten Tagen und
Wochen] 49 Tote gezählt, in Rheinland-Pfalz sind es 134, im benachbarten
Belgien 41.
In Stolberg stirbt niemand. „Gott sei Dank“, sagt Haas. „Aber die Stadt �…
hier sah es aus wie in einem Kriegsgebiet.“ In den Häusern steht öliger,
stinkender Schlamm. Das gerade erneuerte Straßenpflaster, die frisch
angelegten Grünanlagen sind weggerissen. Stattdessen klaffen auf der
Rathausstraße riesige, bis zu fünf Meter tiefe Löcher. „Das erste Fahrzeug,
das hier hergefahren ist, war ein Räumpanzer der Bundeswehr“, erinnert sich
der Sozialdemokrat.
Heute, knapp zehn Monate nach [2][der Katastrophe], sind die
allerschlimmsten Schäden beseitigt. Überall in der Innenstadt wird
gehämmert, gebohrt, geschraubt. Bei einem Rundgang trägt Haas ein blaues
Jackett und schwarze Sneakers. Der in Stolberg geborene Bürgermeister zeigt
die Kita, die jetzt in Containern untergebracht ist, redet über das
Glasfasernetz, das statt der alten Metallkabel verlegt werden soll. Über
mehr Radwege denkt Haas genauso nach wie über besseren Hochwasserschutz.
Dem Vichtbach will er schon vor der Stadt „mehr Raum geben“, dazu „Fläch…
entsiegeln“.
## Noch dominiert Leerstand
Das Zelt auf dem Kaiserplatz gegenüber dem Rathaus, in dem kleine Läden,
Gastronomiebetriebe und Friseursalons Unterschlupf gefunden hatten, wird
bald abgebaut – die Kaufleute sind bereits zurück in renovierten
Geschäftsräumen. „Wir kommen wieder“, steht auf einem Plakat an der
Rathaus-Apotheke.
„Ich kann jedem nur dankbar sein, der an Stolberg glaubt“, sagt der
Bürgermeister. Denn bis der Wiederaufbau abgeschlossen ist, werden Jahre
vergehen. Noch dominiert Leerstand: Bei jedem zweiten Laden sind die
Fenster vernagelt oder durch Baustaub fast blind. Dahinter sind
herausgerissene Böden und nackte Wände zu sehen.
## Spärliche Aufbauhilfen
Grund dafür sind die nur langsam und spärlich fließenden [3][staatlichen
Aufbauhilfen]. „Wir hatten Schäden von 400.000 Euro“, erzählt Mariola Ici…
Die Geschäftsfrau hat Mut bewiesen und in der Rathausstraße 39 eine
Neueröffnung gewagt. „Taschenpracht“ heißt der Laden, in dem sie
hochwertige Designer-Handtaschen und Accessoires Second Hand verkauft – vor
der Flut hat sie ihre Bags und Clutches nur online angeboten. Doch die
Renovierung ihres Geschäftshauses mussten Icic und ihr Mann zunächst
komplett selbst bezahlen. „Bis jetzt haben wir nur 105.000 Euro
zurückbekommen – und auf die haben wir mehr als acht Monate gewartet“,
ärgert sich die 41-Jährige. „Natürlich hat mich das wütend gemacht.“
Ein Riesenproblem sei die langsame Bürokratie, findet auch Bürgermeister
Haas. Um an Wiederaufbauhilfen zu kommen, sei erst einmal ein Gutachten
nötig. Und danach würden nur 20 Prozent der Schadenssumme ausgezahlt. Wer
nicht gut versichert sei und mehr wolle, müsse Rechnungen vorlegen. Erst
dann gebe es neue Unterstützung. Hausbesitzer, die nicht in Vorleistung
gehen könnten, würden die Renovierung deshalb oft aufschieben. „Viele
Handwerksbetriebe machen das nicht mit“, sagt Haas. „Die haben auch so
genug zu tun.“
## Renovieren kann nur, wer Geld hat
Renovieren, schnell nach vorn schauen kann also nur, wer eine gute Bank hat
– oder Geld. „Viele bekommen keinen Vorabkredit“, sagt Haas. Denn in Arm
und Reich gespalten war Stolberg schon vor der Katastrophe. Viele, die es
sich leisten konnten, haben in den Dörfern auf den Hügeln rund um die
Kernstadt neu gebaut. In diesen hoch liegenden Ortsteilen leben fast zwei
Drittel der Einwohner:innen. Getroffen hat die Flut sie nicht.
Sozial gespalten ist aber auch die Innenstadt. Sichtbar war das schon vor
dem Hochwasser: In Unterstolberg in der Nähe der Glasfabrik Saint-Gobain
wohnen viele Migrant:innen. In Oberstolberg mit seinen wunderschönen, teils
Jahrhunderte alten Bruchstein- und Jugendstilhäusern am Fuß der Burg
dominiert biodeutsches Publikum. Noch heute nennt sich Stolberg „die
Kupferstadt“. Doch von den einst 16.000 Arbeitsplätzen in der
Metallindustrie und beim Waschmittelhersteller Dalli ist die Hälfte
verschwunden.
## Bedürftige hatten kaum Essen
Viele, die keinen Job haben, leben im tief gelegenen Unterstolberger
Stadtteil Mühle. „Arm war Mühle schon immer“, sagt der Unternehmer René
Schömer. Um Flutopfern zu helfen, hat er zusammen mit engagierten
Bürger:innen wie Duygu Ulfig und ihrem Mann Enrique die
„Interessengemeinschaft Mühle für Stolberg“ gegründet. Denn nach der
Katastrophe hatten hier viele nicht einmal genug zu essen – im Hochwasser
untergegangen ist auch die Stolberger Tafel, die zuvor kostenlose
Lebensmittel verteilt hat.
Noch heute stehen etwa 2.000 Menschen auf den Bedarfslisten der
Interessengemeinschaft. Spendenfinanziert lagern in deren Containern
Nudeln, Reis, Zucker, Dosengemüse, aber auch Shampoo und Duschgel. „Für die
Leute hier sind 20 oder 40 Euro sehr, sehr viel Geld“, erklärt Duygu Ulfig.
Ein Einkauf im Supermarkt sei oft einfach nicht drin. Auch Kleidung,
Hausrat, Möbel konnte Ulfig, die alle nur Çil nennen, mit Unterstützung
einer Bürgerstiftung und des Roten Kreuzes verteilen. „Über 50
Waschmaschinen haben wir zur Verfügung gestellt“, erzählt die 34 Jahre alte
Geschäftsführerin der Interessengemeinschaft, „und Kühlschränke und
Fahrräder“.
## „Wir haben alles verloren“
Unterstützt wurden so auch Savas Sahan und seine Frau Medine. „Wir haben
alles verloren“, erzählt der 53-Jährige. „In unserer Wohnung im Erdgescho…
stand das Wasser drei Meter hoch.“ Zusammen mit ihren vier Kindern mussten
die beiden in zwei leerstehende Zimmer im ersten Stock ziehen. „Ein halbes
Jahr hatten wir keine Heizung, kein warmes Wasser“, sagt Sahan. Die volle
Miete habe der Hauseigentümer trotzdem kassieren wollen.
„Alle unsere Möbel waren zerstört“, sagt der Mann, der von 1997 bis 2003 …
einer Fabrik und dann 14 Jahre bei einer Handautowäsche gearbeitet hat. Auf
mehr als 30.000 Euro schätzt er den entstandenen Schaden – und die seien
mittlerweile fast vollständig ersetzt worden. „Vorher haben wir auf dem
Boden geschlafen“, sagt Sahan, der heute auf einen Ein-Euro-Job angewiesen
ist und deshalb dankbar auf die kostenlosen Lebensmittel wartet.
## Keine Kraft mehr
Andere haben weniger Glück. Gerade einmal 4.000 Euro Unterstützung habe sie
bekommen, erzählt eine Frau, die seit ihrer Kindheit im Stadtteil Mühle
lebt. Aus Angst, „Ärger zu bekommen“, will sie ihren Namen nicht in der
Zeitung sehen. „Ich habe gebrauchte Sachen gekauft. Etwas Neues konnte ich
mir nicht leisten“, sagt die 56-Jährige, die in Vollzeit 1.281 Euro netto
im Monat verdient. Weitere Hilfe will sie trotzdem nicht beantragen: „Ich
kann nicht mehr kämpfen. Ich bin zu müde.“
Bürgermeister Haas kennt die Not. In Mühle sei die Hälfte der
Bürger:innen auf Transferleistungen angewiesen. In den ersten Wochen
habe seine Stadtverwaltung gespendete Hilfsgelder bar verteilt. „Hätten wir
überwiesen, wäre versucht worden, die Konten zu pfänden.“ Selbst manche
Hausbesitzer:innen hätten nicht mehr die Kraft, ihnen zustehende Hilfe
zu beantragen. „Eigentlich bräuchten wir viel mehr Sozialarbeit“, sagt der
ehemalige Lehrer. Die aber könne sein dünn besetztes Sozialamt, das in den
vergangenen Wochen 250 Geflüchtete aus der Ukraine dezentral untergebracht
hat, nicht stemmen – schließlich drückten die Stadt schon vor der Flut
Schulden von mehr als 151 Millionen Euro.
## Hilfe braucht auch die Stadt
Hilfe braucht also auch die Stadt. Auf etwa eine Milliarde Euro schätzt
Haas die Summe aller Schäden in ganz Stolberg. 300 Millionen davon dürften
den städtischen Haushalt direkt belasten. Allein der Neubau des massiv
beschädigten Rathauses, dessen Abriss der Stadtrat Ende Mai beschließen
soll, dürfte 60 Millionen Euro kosten. „Eine Sanierung ist nicht billiger“,
argumentiert der Bürgermeister: Ein Großteil der Technik sei zerstört, die
abgesoffenen Papierakten des Stadtarchivs lagern tiefgefroren in Bonn.
Doch an Unterstützung an die Stadt geflossen sind bisher nicht einmal vier
Millionen. Überraschend ist das nicht: Von in Nordrhein-Westfalen „für den
Wiederaufbau zur Verfügung stehenden Finanzmitteln in Höhe von 12,3
Milliarden Euro“ waren am 10. März erst 607 Millionen Euro bewilligt,
musste CDU-Heimatschutzministerin Ina Scharrenbach in einer Zwischenbilanz
einräumen – also nicht einmal fünf Prozent.
„Enttäuscht“ ist SPD-Mann Haas aber besonders von der einstigen, für
Hochwasserschutz zuständigen Umweltministerin Ursula Heinen-Esser. Die
Christdemokratin [4][ist mittlerweile zurückgetreten], weil sie die
Jahrhundertkatastrophe aus ihrem Mallorca-Urlaub heraus managen wollte.
Erst danach habe Heinen-Esser kurz in Stolberg vorbeigeschaut, erzählt der
Bürgermeister. An das Datum erinnert er sich genau: Am 28. Juli sei das
gewesen. „Das war mein 40. Geburtstag“, sagt Haas. „Ich war nicht im
Urlaub.“
13 May 2022
## LINKS
[1] /Flutkatastrophe-in-Westdeutschland/!5787239
[2] /Flutkatastrophe-in-Westdeutschland/!5781481
[3] /Unterstuetzung-fuer-Flutopfer/!5781792
[4] /Konsequenzen-nach-Kritik/!5848231
## AUTOREN
Andreas Wyputta
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