# taz.de -- Anekdoten aus Deutschlands Verwaltung: Ode aufs Analoge | |
> Die Digitalisierung der Verwaltung geht nur schleppend voran. Dabei hat | |
> der persönliche Umgang auf Ämtern durchaus Vorzüge. Einige Beispiele. | |
Bild: So unentbehrlich wie die Büropflanze: das Faxgerät (hier einsam in eine… | |
Schon bevor die Digital-first-Partei FDP das [1][Bundesministerium für | |
Digitales und Verkehr] übernahm, legte die alte Bundesregierung 2017 im | |
Onlinezugangsgesetz (OZG) fest: Bis Ende 2022 sollen die wichtigsten | |
Verwaltungsleistungen digital verfügbar sein. 500 Millionen Euro waren im | |
Bundeshaushalt vorgesehen, 2020 stellte der Bund mit dem | |
Corona-Konjunkturpaket weitere drei Milliarden Euro zur Verfügung. Und: | |
Sogar die [2][aktuelle Digitalisierungslage] der deutschen Verwaltung kann | |
digital eingesehen werden. Den „derzeitige Fortschritt der OZG-Umsetzung“ | |
nennt es das Bundesinnenministerium (BMI). Nun wirft der Bundesrechnungshof | |
in einem Bericht dem BMI vor, dieser Fortschritt sei beschönigt. | |
Tatsächlich habe der Bund nämlich erst 3,8 Prozent seiner | |
Verwaltungsleistungen wie vorgesehen digitalisiert, also 58 von insgesamt | |
1.532. Fünf Anekdoten aus einer Welt, in der Anträge noch aus Papier sind. | |
(Ruth Lang Fuentes) | |
## Lebensweisheiten gratis dazu | |
2007 war es, als ich mit meiner damals zehn Jahre alten Tochter nach | |
Berlin-Neukölln zog. Bei dem Anmeldetermin auf dem Bürgeramt quatschte sie | |
ständig irgendwie dazwischen. „Hat ja ’ne große Klappe, die Kleene“, | |
kommentierte die Mitarbeiterin im Bürgeramt. – „Das kann sie ja in Neuköl… | |
vielleicht ganz gut gebrauchen“, sagte ich vorsichtig, als Neubürgerin | |
damals noch nicht so richtig vertraut mit den Umgangsformen im Bezirk. Die | |
Neuköllner Beamtin schnalzte mit der Zunge. „Dit kann se uff de janze Welt | |
gut gebrauchen.“ Auch wieder wahr. Alke Wierth | |
## Ungewollt religiös | |
Erleichtert, nach Monaten überhaupt einen Termin abbekommen zu haben, hatte | |
ich mir keine Gedanken darüber gemacht, was mich bei meinem | |
Bürgeramtsbesuch in Berlin erwarten würde. Nachdem mir die Mitarbeiterin | |
dort immer wieder einen kritischen Blick über ihren Computerbildschirm | |
hinweg zuwarf, wurde mir doch etwas mulmig. | |
Hatte ich irgendein Dokument falsch ausgefüllt? Musste ich gleich eine | |
Gebühr bezahlen, von der ich noch nichts wusste? Nach mehrmaligem Räuspern | |
fragte sie: „Frau Schwarz, sind Sie wirklich Mormonin?“ Ich kann mich nicht | |
erinnern, wie ich meine Verwunderung gezeigt habe. Habe ich gelacht, „nein“ | |
ausgerufen oder den Kopf geschüttelt? Ich? Mormonin? Wie kam sie darauf? | |
Sie klärte mich auf: In Dresden, wo ich drei Jahre für mein Bachelorstudium | |
gewohnt hatte, war ich als Mormonin gemeldet. Wie das passieren konnte, | |
lässt sich für mich heute nicht mehr nachvollziehen. Wahrscheinlich war die | |
Mitarbeiterin damals in der Zeile verrutscht, als es um meine | |
Religionszugehörigkeit ging. Laut Dresdner Statistik war ich jedenfalls | |
eine von 4.500 Mormonen in der Stadt. | |
Gekostet hat’s mich zum Glück nichts, dafür ein paar Funfacts umsonst; | |
einmal als Mormonin gemeldet, will man natürlich mehr wissen: Wussten Sie | |
zum Beispiel, dass es auf der offiziellen Seite der größten Mormonenkirche | |
in den USA Beautytipps unter anderem für wasserfeste Mascara gibt? Carolina | |
Schwarz | |
## Die Freiheit, politisch zu sein | |
Wer sich in Berlin niederlässt, braucht nach spätestens zwei Wochen eine | |
Anmeldebescheinigung. Die Termine allerdings, die das Amt zu vergeben hat, | |
liegen sechs bis acht Wochen in der Zukunft. Es sei denn, man wählt morgens | |
um 7 Uhr die 115-Telefonnummer, nimmt sich Zeit für die Warteschleife und | |
wappnet sich mit Gemütsruhe für den Satz „Wir lieben Ihre Fragen“, der do… | |
alle paar Minuten ertönt. Man muss hoffen, dass am selben Tag irgendwo in | |
Berlin ein Termin frei geworden ist. | |
Der Freund hatte Glück. Weil er kein Deutsch spricht, begleitete ich ihn. | |
Wir fuhren zum Bürgeramt Biesdorf, am Südrand von Marzahn, im extremen | |
Osten der Stadt. Dort war ich eigentlich überflüssig. Denn der junge | |
Beamte, der uns an Tisch Nr. 8, empfing, konnte Englisch. Statt zu | |
übersetzen, konzentrierte ich mich auf die Brust des Beamten, wo auf einem | |
schwarzen T-Shirt ein riesiges gelbes Strahlenzeichen prangte. | |
Mir kamen die Schilder am New Yorker Straßenrand in den Sinn, die mit | |
demselben Zeichen den Weg zum nächsten Atomschutzbunker weisen. Der Krieg | |
in der Ukraine hatte eine Woche zuvor begonnen. Vielleicht hatten Putins | |
nukleare Drohungen den Beamten verunsichert? Oder war er ein Anhänger der | |
Atomwaffen Division in den USA, einer terroristischen Neonazigruppe, die | |
ebenfalls das Strahlensymbol benutzt? | |
Als die Anmeldung fertig war, fragte ich den Beamten nach seinem T-Shirt. | |
Er lehnte sich zurück und erklärte mir, dass Atomkraftwerke eine weit | |
unterschätzte Energie seien und dass es ein Fehler sei, aus der Atomenergie | |
auszusteigen. Er fügte hinzu, dass ihm das Strahlensymbol auch grafisch | |
gefalle. Ich staunte. Und dachte zurück an mich selbst im Alter des | |
Beamten. AKWs waren offizieller Bestandteil der westdeutschen | |
Energiepolitik, und ich verließ das Haus nie ohne einen kleinen | |
Anti-AKW-Button. Auf Behörden allerdings musste ich ihn des Öfteren | |
abnehmen. Damals galt das als politisch. Dorothea Hahn | |
## Toxische Lektionen | |
12.37 Uhr, fast zwei Stunden stand ich an in einem Gang mit blaugrauen | |
Wänden, PVC-Boden und einer Pflanze, die ihren Kopf hängen ließ. Jetzt | |
blicke ich in das Gesicht eines Mannes.„Das sollen Sie sein? Wie gut, dass | |
Sie endlich die Haare abgeschnitten haben, sonst würden Sie sicher keinen | |
Job finden“, sagt er und zeigt auf meinen Personalausweis. | |
Ich, 21, hatte gerade einen Gewerbeschein beantragt und lief rot an, zu | |
schüchtern, um zu kontern. Seitdem hat sich einiges verändert. Also bei | |
mir, nicht bei den Ämtern. Meine Wut auf die unsensible Bürokratie und ihre | |
ordnungshörigen Verwalter*innen ist einer soziologischen Neugier | |
gewichen – und der zynischen Einsicht, dass toxische Lektionen wie die des | |
Beamten besonders in postdemokratischen Zeiten gar nicht schlecht sind. | |
Denn sie lehren, dass es da draußen nicht nur mich und dich gibt, sondern | |
auch eine Bürokratie, die mich verwaltet, die wiederum verwaltet wird von | |
Menschen, die derart verwaltet werden, bis sie Empathie verlernen. Eine | |
Einübung in die zeitgenössische Entfremdung, die selbst ein unpersönlicher | |
Bildschirm nie leisten können wird. Philipp Rhensius | |
## Ort der Vergangenheitsaufarbeitung | |
Als ich Kind war, entschied sich meine Mutter, die deutsche | |
Staatsbürgerschaft zu beantragen, für sich und mich. Geboren war sie in der | |
Sowjetunion und besaß später den Reisepass und die Staatsbürgerschaft des | |
Nachfolgestaates, der Republik Moldau. Auch ich war dort geboren, besaß | |
also ebenfalls die moldauische Staatsangehörigkeit, was mich als Kind wenig | |
interessierte, hatte ich doch keine Ahnung von dem Konzept einer | |
Zugehörigkeit zu einem Staat. | |
Ich vergaß meine alte, ursprüngliche [3][Staatsbürgerschaft]. So reiste ich | |
also durch die Gegend mit meinem deutschen Pass, als Deutsche. Viele Jahre | |
später war mein Reisepass abgelaufen und ich hatte tatsächlich einen Termin | |
auf dem Berliner Bürgeramt ergattert, um einen neuen zu beantragen. Die mir | |
gegenüber sitzende Mitarbeitern fragte in Berliner Freundlichkeit meine | |
persönlichen Daten ab, als sie plötzlich zu stocken begann. | |
„Sie kommen also, sie sind also, nun ja, da ist also noch eine moldausisch, | |
moldaisch, moldauische Staatsangehörigkeit eingetragen?“, stotterte sie und | |
blickte mich erwartungsvoll an. Die Erinnerung an etwas Vergangenes kam | |
zurück. Ich dementierte zunächst, sagte, das könne nicht sein, schließlich | |
sei ich gerade wegen meines deutschen Reisepasses da. Die Mitarbeiterin | |
hatte wenig Lust, zu diskutieren, das sagte ihr Blick. | |
Draußen, vor dem Amt, rief ich meine Mutter an. Sie bestätigte mir unsere | |
doppelte Staatsangehörigkeit. Die alte abzulegen hätte so viel Geld | |
gekostet, erklärte sie. Und dieses Geld hatte sie damals nicht. Das | |
Bürgeramt ist ein Ort, an dem man Dinge über sich erfährt, die man | |
verdrängt oder vergessen hat. Es ist ein Ort der | |
Vergangenheitsaufarbeitung. Das will ich in Zukunft nicht missen. Erica | |
Zingher | |
7 Apr 2022 | |
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