| # taz.de -- Internationales Frauen*Film Fest: Symbole von abwesendem Glück | |
| > Auf dem Internationalen Frauen* Film Fest Dortmund+Köln wucherten die | |
| > Verbindungen. Es ging um Gesellschaft, Vergangenheit, Pilze und Zukunft. | |
| Bild: Jung sein in Italien, „Futura“ (IT 2021) von Alice Rohrwacher, Pietro… | |
| „Wenn meine Welt zusammenbricht, gehe ich spazieren. Und falls ich Glück | |
| habe, finde ich Pilze“, heißt es in Marion Neumanns Dokumentarfilm „The | |
| Mushroom Speaks“ (CH 2021). Schönheit offenbart sich hier oft im | |
| Verborgenen, etwa anhand einer zunächst unansehnlich wirkenden, dunklen | |
| Knolle. Schneidet man sie jedoch auf, gibt sie ein schillerndes, | |
| schuppenartiges Muster preis, ein nahezu psychedelisches Innenleben. | |
| Die Pilze gedeihen in nährstoffarmen, sandigen Böden und vollbringen ein | |
| ökologisches Kunststück: Ihr Myzel verbindet sich mit den Wurzeln von | |
| Bäumen, deren Wachstum so überhaupt erst möglich wird. Eine Symbiose, | |
| unsichtbar und doch essenziell, wie man sie in Neumanns Film, der selbst | |
| zartgliedrig und verschlungen ist, immer wieder antrifft. | |
| „The Mushroom Speaks“ ist Ausdruck des üppigen Programms, das sich in | |
| diesem Jahr beim [1][Internationalen Frauen* Film Fest Dortmund+Köln (29. | |
| 3. –3. 4.)] präsentierte. Und der Film gibt eine Denkbewegung vor, die das | |
| Film Fest zusammenhält, denn seiner Regisseurin ist eine Art „myzelischer | |
| Blick“ zu eigen, der es vermag, scheinbar Unzusammenhängendes aufeinander | |
| zu beziehen. | |
| So setzt Neumann eine Schwarzwaldhexe und US-amerikanische | |
| Citizen-Science-Laboranten auf sehr interessante Weise in Dialog, sucht mit | |
| japanischen Pilz-Aficionados aber auch nach dem begehrten und selten | |
| gewordenen Matsutake. Und so treffen beim Schauen weiterer Filme G. B. | |
| Jones’ ausgerissene Teenager („The Lollipop Generation“, CA 2008) auf zwei | |
| koreanischen Schwestern, die nicht nur über rassistische Erfahrungen in | |
| einer nicht weiter benannten niedersächsischen Stadt berichten, sondern | |
| genauso vom Zuviel an Buttercreme in Karottenkuchen („Vlog #8998 / Korean | |
| Karottenkuchen & Our Makeup Routine“, Ji Su Kang-Gatto). | |
| ## Hoffnung essen | |
| Dabei sind es gerade die Speisen, die bei Kang-Gatto eine größere | |
| Aufmerksamkeit erfahren: Behände wechselt deutsche Kantinenkost | |
| (Kartoffelpüree und Erbsen) mit Tteokbokki (koreanische Reisnudeln). | |
| Auch der Matsutake in „The Mushroom Speaks“ landet über einem Minigrill f�… | |
| verzückte Gourmets, steht darüber hinaus aber noch für viel mehr: Hoffnung. | |
| Denn nicht nur für Neumann und viele ihrer Protagonisten – allen voran | |
| vielleicht [2][Anna Tsing, deren Buch „Der Pilz am Ende der Welt. Über das | |
| Leben in den Ruinen des Kapitalismus“] mehr als nur Inspirationsquelle für | |
| den Film gewesen sein dürfte – könnten die Pilze möglicherweise diejenigen | |
| sein, die den weiteren Fortbestand der Gattung Mensch auf diesem Planeten | |
| gewährleisten. | |
| Etwas weniger aufgeladen sind da schon die aus Kernen herangezogen Melonen, | |
| an denen in Anne Charlotte Robertsons kurzem Super-8-Dokument „Melon | |
| Patches, or Reasons to Go on Living“ (USA 1994) nicht nur Erwachsene, | |
| sondern auch Babys genüsslich knabbern und lutschen. „Ich hatte nie Kinder, | |
| alles was ich hatte, war ein Garten“, sagte Robertson einmal. Und eine | |
| Kamera, möchte man ergänzen, mit der sie das 38-stündige „Five Year Diary�… | |
| (1981–1997) aufnahm, dem „Melon Patches“ entnommen ist. | |
| Symbole eines abwesenden Glücks sind in „Futura“ (IT 2021) von [3][Alice | |
| Rohrwacher], Pietro Marcello und Francesco Munzi indes Fußballfelder. | |
| Jedenfalls theoretisch – zu wenige von ihnen existierten in diesem Italien | |
| des Jahres 2020, welches das Filmteam mit dem Ziel durchquert, mit | |
| Jugendlichen des Landes zu sprechen. | |
| ## Zukunftsangst in Italien | |
| Deren Urteil fällt mehrheitlich düster aus: Um die italienische | |
| Gesellschaft irgendwie zu retten, müsse man sie am besten verlassen – und | |
| mit neuen Erfahrungen zurückkehren. Rohrwacher, Marcello und Munzi spannen | |
| ihr Myzel dabei nicht nur von Neapel bis Mailand, sondern reisen auch in | |
| die Vergangenheit, zeigen Kinder und Jugendliche in Schwarz-Weiß, die | |
| Gedichte rezitieren. Ein warmer, nahbarer Film, der zumindest für die | |
| jungen Italiener und ihre Träume hoffen lässt. | |
| Einer der markantesten Programmpunkte aber war die Doppelvorführung | |
| [4][zweier Filme Ula Stöckls], „Rede nur niemand von Schicksal“ (D 1991) | |
| und „Das alte Lied“ (D 1992), kuratiert von Borjana Gaković in der Reihe | |
| „IFFF packt aus“. Angereist war hierfür nicht nur die Filmemacherin selbst, | |
| sondern auch Jeanne Richter, die in „Das alte Lied“ eine der Hauptrollen | |
| übernimmt. Handlungsort ist das Dresden der Nachwendezeit, das bei Stöckl | |
| mit seinen schwarz gewordenen Sandsteinen und einer gefühlt ständigen | |
| Dämmer- oder Nebelstimmung einen unheimlichen, fantastischen Charakter | |
| erhält. | |
| Eine Geisterstadt, in der sich Nationalsozialismus und Gegenwart verhaken. | |
| In der noch vieles nicht aufgearbeitet ist. Und in der, wie Gaković | |
| bemerkt, auch jüngst wieder gefährliche Geschichtsleugner mit ihren Parolen | |
| aufmarschierten. Das anschließende Filmgespräch bewegt sich schnell zum | |
| Krieg gegen die Ukraine. Und jemand, vielleicht ein Pilz, flüstert den | |
| Satz: Wenn meine Welt zusammenbricht, gehe ich ins Kino. | |
| 4 Apr 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://frauenfilmfest.com/ | |
| [2] /Buch-ueber-den-Matsutake-Pilz/!5492311 | |
| [3] /Archiv-Suche/!5638174&s=Alice+Rohrwacher&SuchRahmen=Print/ | |
| [4] /Regisseurin-Stoeckl-ueber-Frauen-im-Film/!5021066 | |
| ## AUTOREN | |
| Carolin Weidner | |
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