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# taz.de -- Münchener Restaurant rettet Lebensmittel: Erst die Avocado, dann d…
> In ihrem Restaurant in München tischt Güneş Seyfarth Lebensmittel auf,
> die sonst aussortiert würden. Nur so, sagt sie, lässt sich das Klima
> retten.
Bild: Güneş Seyfarth rettet Lebensmittel und zaubert daraus leckere Gerichte
München taz | Senf-Eier mit Bratkartoffeln und kleinem Salat hätten sie
heute im Angebot. Oder auch eine Cous-Cous-Bowl mit fruchtiger
Paprikasauce, Papaya-Mangosalat und einer halben Avocado mit
Tomatenfüllung. Für den nicht ganz so großen Hunger gäbe es dann noch ein
Sandwich mit Grillgemüse. Und natürlich die Kuchen: Banana-Fudgebrownie,
Papaya-Schnitte oder Zimtschnecke.
Die Gerichte stehen liebevoll mit verschiedenfarbigen Kreiden
aufgeschrieben auf der Tafel hinter dem Tresen der Community Kitchen. Mit
allen notwendigen Informationen – [1][vegan, laktosefrei, glutenhaltig] et
cetera. Auch die recht manierlichen Preise stehen hier: 5,50 Euro für ein
Hauptgericht, 2,50 für ein Stück Kuchen. Aber die besonderen Zahlen liest
man in Hellgrün in einer Spalte am Rand neben den einzelnen Speisen, es
sind Prozentangaben: 95 Prozent für die Eier, 96 für die Bowl,
Spitzenreiter ist mit 98 Prozent das Sandwich, die Kuchen kommen nur auf 65
bis 75 Prozent. Über der Spalte die ominöse Abkürzung „RQ“.
Immer wieder werden Aicha Aridi und Mohamed Dakar, die das Essen ausgeben,
von den Gästen gefragt, was es mit diesen Zahlen auf sich hat. „RQ“, das
steht für Rettungsquote, heißt: Die Cous-Cous-Bowl etwa besteht also zu 96
Prozent aus geretteten Lebensmitteln. Das, was hier in München-Neuperlach
seit ein paar Wochen geschieht, ist [2][Foodsharing im großen Stil] – und
wenn es nach Güneş Seyfarth, der Initiatorin der Community Kitchen, geht,
ist es nur der Anfang.
Es ist ein außergewöhnliches Lebensmittelrettungsprojekt, das Seyfarth hier
im Münchner Südosten in kürzester Zeit aufgezogen hat: „Auch du kannst das
Klima retten – indem du aufisst, was eh schon da ist!“ lautet der Leitsatz,
[3][der in großen Buchstaben auf der Website der Community Kitchen prangt].
Und das, was eh schon da ist, das tischen Seyfarth und ihr Team jetzt eben
auf.
## 168 Tonnen Lebensmittel landen im Münchner Hausmüll
Neuperlach, Münchens größte Trabantenstadt, mit der man nach dem Krieg dem
Wohnungsmangel trotzte. Auch das größte Einkaufszentrum der Stadt befindet
sich hier, nur ein Steinwurf entfernt. Und einige Bürogebäude. In einem
davon hat Seyfarth am 1. Februar gemeinsam mit ihrer Partnerin Judith
Stiegelmayr das Restaurant eröffnen.
Je nach Lesart, sagt Seyfarth, sei Lebensmittelrettung die wirksamste oder
zumindest drittwirksamste Maßnahme für den Klimaschutz. 168 Tonnen
verzehrfähiges Essen landeten allein in München im Hausmüll. Jeden Tag.
Lebensmittel würden jedoch schon zuvor auf allen Produktionsstufen
vernichtet. „Der Bauer holt ja nicht einmal alles vom Feld rein, bei der
Weiterverarbeitung wird dann wieder aussortiert, [4][weil die Kartoffeln zu
klein, zu groß, zu irgendwas sind]“, schildert Seyfarth die Situation, „im
Großmarkt wird wieder Ware weggeworfen, und im Supermarkt schließlich
bleibt vieles liegen, weil der Kunde nur das nimmt, was aussieht wie auf
dem Werbeplakat.“
Der erste Weg führt Seyfarth und ihre Mitstreiter deshalb jeden Tag,
frühmorgens, in die Großmarkthalle, wo sie palettenweise Lebensmittel
retten, für die die Händler sonst keine Abnehmer mehr finden. Anderes kommt
auch direkt von Bauern oder verarbeitenden Betrieben, Molkereien zum
Beispiel oder Großbäckereien. Wählerisch sein gilt nicht, gekocht wird, was
in der Küche landet. Und dort stapeln sich gerade in den Kühlräumen Kisten
voll mit Kartoffeln, Avocados, Papayas und jeder Menge anderem Obst und
Gemüse. Auch Maisgrieß gibt es aktuell im Überfluss. Dazu kanisterweise
Bohnen in Tomatensoße und tiefgefrorenen Fleischersatz ohne Ende. Es gab
zuletzt viel Chili sin Carne.
## Der Rest ist Tierfutter
Natürlich gibt es auch Zutaten, die zugekauft werden müssen: Mehl und
Zucker beispielsweise. Auch Fleisch gibt es bislang nur selten auf der
Speisekarte. Man ist zwar im Gespräch mit Metzgereien, aber noch fehlt ein
passendes Auto, um die Kühlkette beim Transport aufrechtzuerhalten.
Ein fest angestellter Koch kümmert sich mit Praktikantinnen und
freiwilligen Helfern um die eingehenden Produkte: Sie werden nach
Verzehrbarkeit sortiert, gewaschen, kleingeschnitten und verkocht. Obst und
Gemüse, das tatsächlich nicht mehr frisch ist, wird geht an den Tierpark.
Güneş Seyfarth hat sich auf die Eckbank am hintersten Tisch im Gastraum der
Community Kitchen gesetzt, einen Cappuccino bestellt. Der Kaffee gehört zu
den wenigen nicht geretteten Lebensmitteln, die es hier gibt. „Güneş“ ist
türkisch und bedeutet Sonne. Das erzählt Güneş Seyfarth oft, wenn sie sich
vorstellt; ihre Mails beendet sie mit „sonnigen Grüßen“. Die 41-Jährige …
keine, die sich so schnell abschrecken lässt, auch wenn der Ausgang eines
Projekts ungewiss ist. „Ich habe sowieso viel mehr Freude am Weg, an der
Problemlösung, als am Ergebnis selber“, sagt sie. Ihr falle manchmal auf,
dass viele Menschen erst ihre Zeit für etwas investierten, wenn sie sich
auch sicher sind, dass es etwas werde. „Bei mir ist es eher so: Ich weiß,
wenn ich meine Zeit nicht investiere, wird es nichts. Also investiere ich
sie.“
## Eine Foodtruckaktion brachte sie auf die Idee
So wie damals mit der Kita. Seyfarth, Nürnbergerin, Ausbildung zur
Tanzlehrerin, BWL-Studium, war gerade zum ersten Mal Mutter geworden – und
hatte keinen Kita-Platz für den Sohn. Und da Kita-Plätze in München ähnlich
leicht zu bekommen sind wie bezahlbare Wohnungen, gründete sie eben selbst
eine Kita. Wenn sie das erzählt, klingt das ein bisschen wie: Uns ist die
Milch ausgegangen, also bin ich schnell zum Laden runter und habe eine
geholt. Natürlich war es nicht so einfach, ein monatelanger Kampf gegen die
Mühlen der Bürokratie, aber am Ende erfolgreich. Das Ergebnis: [5][die
Elterninitiative Karl & Liesl]. Es gibt sie noch immer, inzwischen sind zur
Krippe ein Kindergarten und ein Hort dazugekommen, über hundert Kinder
werden dort täglich betreut. „Es gibt einen Satz den ich in dieser Zeit
gelernt habe: Geh so weit, wie du sehen kannst, und wenn du da bist, kannst
du weiter sehen.“
Eine Online-Plattform zum Kauf und Verkauf von Kinderkleidung war die
nächste Gründung; es folgten [6][eine Startup-Beratung] und [7][weitere
Projekte].
Seit zehn Jahren rettet Güneş Seyfarth Lebensmittel. Ein Freund hatte sie
auf die 2012 in Köln gegründete Foodsharing-Initiative aufmerksam gemacht,
sie schloss sich an, gründete den Münchner Foodsharing-Verein mit. 2019
organisierte sie [8][in Zusammenarbeit mit dem bayerischen
Ernährungsministerium eine Foodtruckaktion], bei der an verschiedenen Orten
in der Stadt gerettete Lebensmittel verkocht und an Passanten verschenkt
wurde. Die Leute waren begeistert. Damit war das Konzept für die Community
Kitchen eigentlich schon geboren. Und als Ende 2020 der Immobilienkonzern
Hines Ideen für eine sinnvolle Zwischennutzung des Bürokomplexes in der
Fritz-Schäffer-Straße für drei bis fünf Jahre suchte, stand Seyfarth mit
der ihren gleich auf der Matte.
Früher wurden hier 2.500 Essen ausgegeben
Es ist das ehemalige Allianzgebäude, in dem die Community Kitchen ins Leben
gerufen wurde. Genauer gesagt: der ältere von zwei Gebäudekomplexen.
Während der jüngere nebenan gerade aufwendig saniert wird, wünscht sich der
Eigentümer für das alte Haus eine Nutzung, die der Allgemeinheit zugute
kommt – bis es in einigen Jahren voraussichtlich einem Neubau weichen soll.
Der Versicherungskonzern ist Ende 2020 hier ausgezogen, am Eingang befinden
sich noch die Drehkreuze und Zeiterfassungsgeräte, die die Angestellten
früher passieren mussten. Auch im übrigen Haus breitet sich Seyfarth längst
mit ihren Ideen aus. Vom Secondhandmode-Laden über die Fahrradwerkstatt bis
zum Künstlercafé, von der Lernothek bis zu diversen Werkstätten gibt es
hier ein vielfältiges, noch immer wachsendes Angebot.
Kern des Ganzen bleibt freilich die Community Kitchen in der ehemaligen
Kantine. 2.500 Essen sollen hier früher täglich ausgegeben worden, 30
Köchinnen und Köche im Einsatz gewesen sein. Entsprechend groß und in
vielen Teilen ungenutzt ist noch die Küche. Rund 50 Essen verkauft die
Community Kitchen heute pro Tag; Seyfarth hofft, möglichst bald auf 100 zu
kommen. Die Kundschaft ist bunt gemischt, kommt beispielsweise in der
Mittagspause aus den nahen Büros.
## Weltrettung im Glas
Um noch mehr Lebensmittel retten zu können und die Möglichkeiten der
Großküche auszunutzen, wird allerdings nicht nur für die Gäste hier im Haus
gekocht: Gläser mit Eintöpfen, Ratatouille, Marmeladen sollen demnächst in
den Münchner Supermärkten stehen, Kitas, Schulen und Unternehmen mit
Catering versorgt werden. Und Schulkinder können sich dann zwischen 7 und 8
Uhr ein „Schulbrot mit Frischekomponente“ abholen.
Seyfarth ärgert es, dass das Thema Lebensmittelverschwendung trotz seiner
enormen Bedeutung so wenig Aufmerksamkeit bekommt. Wenn Aktivistinnen und
Aktivisten jetzt Autobahnen und Flughäfen blockieren, hat sie Verständnis
dafür. „Meine Art ist es nicht, aber jeder macht das, was er kann.“ So wie
sie.
Und dabei bloß nie stehenbleiben.
Ihr Ziel, sagt Seyfarth, sei es, dass es in acht Jahren 4.500 Community
Kitchens weltweit gebe. Ein ambitioniertes Ziel. Aber wieso ausgerechnet
4.500? Mit 9.000 Community Kitchens, so habe man berechnet, könne man den
5,2 Milliarden Menschen, die in Städten lebten, eine Alternative zur
Lebensmittelverschwendung bieten. Zumindest die Hälft wolle man bis dahin
erreichen. Anders lasse sich der Klimawandel schließlich nicht aufhalten.
Unter der Rettung der Welt macht’s Güneş Seyfarth nicht.
1 Jun 2022
## LINKS
[1] /Veganer-Sternekoch-Ricky-Saward/!5827251
[2] /Aus-fuer-Sirplus-Laeden/!5795658
[3] https://com-kit.de/
[4] /Lebensmittelrettung-bei-der-Produktion/!5766302
[5] https://www.karlundliesl.de/
[6] https://www.diemacgyvers.de/
[7] https://guenesseyfarth.com/
[8] https://guenesseyfarth.com/wp-content/uploads/2021/03/Final-Foodsharing-STM…
## AUTOREN
Dominik Baur
## TAGS
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