# taz.de -- Sportwelt und Weltpolitik: Das Zeitalter der Haltung | |
> Sportler:innen müssen für das Gute einstehen: gegen Krieg, für | |
> Menschenrechte. Nur: Ändert das den Sport überhaupt? | |
Bild: Die großen Sportverbände sind keine Schiedsrichter:innen: Volunteer in … | |
Die These von der Zeitenwende ist dieser Tage inflationär in den | |
Sprachgebrauch gesickert. Ein eitler Begriff, der aus jeder Veränderung | |
eine schillernde These macht, ein zutiefst geschichtsfeindlicher auch, der | |
Entwicklung nur als harten Bruch kennt. Und der Sport? Eine Zeitenwende | |
scheint auch der Ausschluss Russlands. Aber vielleicht ist er eher die | |
logische Fortsetzung einer Epoche. Nennen wir sie: das Zeitalter der | |
Haltung. | |
Es ist derzeit leichter, aufzuzählen, in welchen Sportarten Russ:innen | |
und Belaruss:innen international noch antreten dürfen (etwa Tennis), | |
als von welchen Sportarten sie [1][ausgeschlossen] wurden (von beinah allen | |
anderen). In der deutschen Öffentlichkeit wird dieser epochale Ausschluss | |
einer der größten Sportnationen der Welt wenig debattiert. Zwischen | |
Nachrichten von ermordeten ukrainischen Zivilist:innen und russischen | |
Atomdrohungen liegt die Aufmerksamkeit nachvollziehbar nicht auf Eishockey. | |
Allenfalls wird bekräftigt: „vorbildlich“, „mutig“, oder oft auch: vie… | |
spät, zu zaudernd, zu wenig Haltung. | |
Viel Mut allerdings gehört aktuell wirklich nicht dazu, russische | |
Sportler:innen zu sanktionieren. Im Gegenteil, die Boykottdrohungen | |
haben dem organisierten Sport kaum eine Wahl gelassen. Aber ist die | |
Sanktion überhaupt, wie es oft heißt, richtig, vorbildlich, gut? | |
Zunächst ist ein [2][Sportboykott] gegen einen kriegstreibenden | |
autokratischen Staat moralisch sehr gut zu begründen. Einen Aggressor | |
auszuschließen und ihm die Bühne zu nehmen, ist ethisch und taktisch recht | |
unzweifelhaft. Und doch ist es auch verdächtig, dass das gerade jetzt | |
geschieht. | |
In den vergangenen siebzig Jahren hat es unzählige völkerrechtswidrige | |
Kriege gegeben. Es ist nicht einmal nötig, die von Putin-Freund:innen gern | |
genannten US-Invasionen zu zitieren, um zu wissen: Sportpolitisch belangt | |
wird dafür niemand. Außer denen, die sich nicht wehren können. Während des | |
Irakkriegs wurde 2008 ironischerweise der Irak von Olympia ausgeschlossen. | |
Und 1964, während des Vietnamkriegs, Nordvietnam. | |
Die großen Sportverbände sind keine Schiedsrichter:innen. Sie sind | |
Instrumente westlichen Machterhalts, auch, wenn ihre Spitzen heterogener | |
werden. Sie sind zutiefst parteiisch. Das IOC begründet seinen aktuellen | |
Ausschluss mit dem Bruch des olympischen Friedens, aber es dürfte eher | |
dankbar für diese Steilvorlage sein. Wer auf öffentlichen Druck nicht | |
teilhaben sollte, dafür fand sich schon immer irgendein Grund. Oft waren | |
Schuldfragen keinesfalls eindeutig beantwortet. | |
Als gerechte Sportboykotte aus Sicht der Spätgeborenen gelten der | |
Ausschluss Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg und der jahrzehntelange, | |
sehr wirksame Boykott von Apartheid-Südafrika auf Druck der unabhängig | |
gewordenen afrikanischen Staaten. Die segregierten USA oder die sogenannten | |
Kolonialmächte dagegen wurden sportlich nie bestraft. Boykotte sind | |
Ausdruck von Macht, nicht von Recht. | |
## Das Richtige aus falschen Gründen | |
Es ist naiv, wer annimmt, hier ginge es um Moral. Keine | |
menschenrechtsbewusste Öffentlichkeit konnte je Gazprom vertreiben, und es | |
wurde versucht. Antirussisches Kriegspathos konnte es. Ideale sind nur | |
Glasur. Im Herzen geht es um Macht. Ein europäischer, weißer Staat wurde | |
angegriffen, eine Ordnung ist bedroht. Und auch „wir“ bekommen in diesem | |
Krieg nur eine Seite der Information, darüber sollte sich niemand | |
Illusionen machen. | |
Die öffentlich bis heute kaum beachteten neokolonialen Kriege der | |
französischen Armee in Nordafrika wiederum, der saudische Krieg im Jemen, | |
der chinesische Massenmord an den Uigur:innen, die russischen Invasionen in | |
Georgien oder der Ostukraine waren nie einen Ausschluss wert. Und wer dank | |
Macht über die richtigen Verträge verfügt oder unliebsame Staatsführer | |
wegputschen lässt, muss nicht einmal schießen, um zu herrschen. | |
Wahrscheinlich ist „Krieg“ nicht einmal das sinnvollste | |
Ausschlusskriterium. | |
Das macht Sanktionen nicht falsch oder unnütz. Die Russland-Sanktionen | |
könnten sich als sehr wertvolles Instrument erweisen, diesen Krieg zu | |
beenden und die Stellung Wladimir Putins zu gefährden. Man kann aus den | |
falschen Gründen das Richtige tun. Aber die falschen Gründe sind eine | |
schwere Hypothek. Was, wenn das nächste Mal ein Staat einen Angriffskrieg | |
startet? Ist das dem Sport dann egal? Was, wenn die Ukraine Putins Vietnam | |
wird oder Russland den Staat dauerhaft besetzt? Können und sollen russische | |
Athlet:innen dann zehn, zwanzig, fünfzig Jahre aus dem Weltsport | |
ausgeschlossen sein? Was macht das mit dem russischen und mit dem | |
internationalen Sport? | |
Über Letzteres wird in Russland gerade intensiv diskutiert. Nach außen gibt | |
die russische Diktatur sich drohend: Dimitri Swischschew, Vorsitzender des | |
Sportkomitees der Duma, erklärte gegenüber der Moskauer Onlinezeitung | |
Lenta.ru: „Russland ist einer der größten Treiber internationaler | |
Sportentwicklung. Russland ist mit 150 Millionen Menschen der größte Markt | |
für die Sportindustrie.“ | |
Tenor: Der Weltsport werde so in Mitleidenschaft gezogen, dass er bald | |
einknicke. Die Inkonsequenz rund ums Doping ist auch in Russland in | |
Erinnerung geblieben. Solange aber das öffentliche Bedrohungsgefühl durch | |
den Krieg so hoch ist, ist die Lage eine völlig andere. Zu sehr stehen die | |
Verbände unter Druck. Konterkariert wurde die Machtdemonstration dann auch | |
unfreiwillig durch die eigene Athletenvereinigung RSS, die, welche | |
Wortwahl, von einem „Genozid“ an russischen und belarussischen | |
Sportler:innen sprach. | |
Für einen nüchterneren Blick ist eine Analyse von Wladimir Mosgowoi in der | |
unabhängigen Nowaja Gaseta hilfreich. Mosgowoi, der den Ausschluss | |
befürwortet, schreibt: Russ:innen und Belaruss:innen könnten so viele | |
Turniere gemeinsam abhalten, wie sie wollten. Stars würden erst Stars, weil | |
sie sich mit der Welt messen. Eine Invasion kurz vor den Paralympics zeige | |
klar, was Russland wirklich von seinen Sporthelden halte. Und ein | |
Kulturwandel hin zu Massensport? | |
„Ich glaube nicht an das schöne Bild von Sportschulen in jedem Viertel und | |
Rentner:innen auf den besten Plätzen des Landes.“ Wenn der Leistungsport | |
in Russland verschwände, entstehe ein Vakuum. Eines, das auch die | |
Legitimität des Weltsports berührt. Denn ein Wettkampf, bei dem viele der | |
Besten nicht dabei sind, ist keine Bestenermittlung. Russland | |
auszuschließen, ist nicht dasselbe wie ein Ausschluss des Irak. | |
Und das Vertrackte ist: Je ernster man es meint mit Menschenrechten, desto | |
schwerer wird es mit einem legitimen Kampf der Besten. Desto eher auch | |
drohen Blockbildungen. Boykotte waren immer dort am wirksamsten, wo die | |
überwältigende Mehrheit langfristig einen Staat ausschloss. Schon ein | |
gleichzeitiger Ausschluss etwa von Russland und [3][China] birgt sofort das | |
Risiko neuer, paralleler Strukturen. Und wer bestimmt, was illegitim ist? | |
Reichtum, Verschulden der Klimakatastrophe, rassistische Abschottung, auch | |
das kann man sanktionieren. Dann wären wir dran. | |
## „Haltung zeigen!“ Ob's wirkt, ist egal | |
Bewegt sich also der Sport in eine neue Phase des Isolationismus? Manches | |
spricht dafür. Nicht, weil Ausschlüsse neu wären. Sondern aufgrund eines | |
Kulturwandels. „Die Zeit der Annäherung durch Wirtschaft ist vorbei. Es | |
wird Zeit für Haltung“ – diese derzeit populäre These findet sich seit au… | |
im Sport. Und wie so oft in der Geschichte entsteht in der Öffentlichkeit | |
daraus die Forderung nach dem Gegenteil. Ein Zeitalter der Haltung. | |
Verstärkt wird das durch Social Media. Spieler:innen müssen „Haltung | |
zeigen“, ob sie klug oder differenziert ist, ist dabei relativ egal. | |
Verbände sollen „Haltung zeigen“, ob diese Haltung mehr bewirkt als | |
Diplomatie, ist relativ egal. Es ist eine ähnliche Dynamik wie rund um die | |
Männer-Fußball WM in Katar. Eine der beliebtesten Fragen ist: „Wie können | |
Sie es verantworten, da und dort hinzugehen?“ Der Fokus liegt | |
interessanterweise auf der sich äußernden Person: Charakterprüfung statt | |
einer differenzierten Debatte über Folgen. | |
Dabei zeigt die wechselhafte Geschichte der Ausschlüsse: Ob sie wirkten | |
oder nicht, was sie verursachten und ob sie gerecht waren, hängt sehr vom | |
Einzelfall ab. Nordkorea oder das sozialistische Albanien zeigen, dass | |
Isolation auch desaströs wirken kann. Sie kann die Gesellschaft passiv und | |
wehrlos, erst recht in den Händen eines Diktators zurücklassen. Haltung und | |
Wirkung sind nämlich nicht ganz dasselbe. Unerlässlich ist also, sich | |
wirklich für die Situation zu interessieren. | |
Man könnte ja mal fragen, was oppositionelle Russ:innen und | |
Belaruss:innen eigentlich vorschlagen. Und dabei das blühende Vertrauen | |
in den eigenen Nationalstaat ablegen: Auch dem geht es um Macht, Herrschaft | |
und Propaganda. Wirklicher Wandel durch Annäherung funktioniert nur durch | |
eine oppositionelle Zivilgesellschaft – oppositionell auf beiden Seiten. | |
Russland ausschließen? Vielleicht ist das in der aktuellen Notlage eine | |
gute Idee. Entpolitisieren lässt sich der Sport ohnehin nicht. Aber es muss | |
nun die Diskussion folgen, die es nie gab. Es braucht eine Charta des | |
Sports. Eine, die abwägt zwischen dem Primat der Teilhabe aller, nämlich | |
dem schützenswerten Recht von Sportler:innen auf Berufsausübung, und | |
Situationen, wo sie wirklich nicht zu verantworten ist. Ausschlüsse dürfen | |
nicht auf der Macht des Westens basieren, sondern müssen transparenten | |
Kriterien folgen. | |
Vielleicht ja wirklich dies: keinen Krieg. Net voyny. Und wer auch immer | |
dagegen verstößt, ist nicht mehr dabei. Es wäre ein pazifistischer Sport | |
mit allen Stärken und Schwächen. Und einer, dessen teilnehmende Staaten ihr | |
Geld aus Militärbudgets sinnvoller investierten. Vielleicht sogar in | |
Sportanlagen für Rentner:innen. Im Zeitalter der Haltung darf man ja wohl | |
noch träumen. | |
7 Mar 2022 | |
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## AUTOREN | |
Alina Schwermer | |
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