# taz.de -- Kultur und Sport in Kriegszeiten: Die große Vereinfachung | |
> Zwischen Solidarität und einem Stellvertreter-Nationalismus drohen | |
> Kulturschaffende eine politische Unschuld zu verlieren – die sie nie | |
> hatten. | |
Bild: Ukraine, 12. April: eine Rakete steckt im Boden nahe der Ortschaft Yahidne | |
Es gibt, meiner bescheidenen Meinung nach, nur einen Satz, der unumstößlich | |
und nachhaltig als vollkommen wahr erachtet werden kann. Dieser Satz | |
lautet: Es ist kompliziert. | |
Fatalerweise ist der wahrste zugleich auch der unpraktischste Satz, | |
jedenfalls wenn es um das richtige Leben geht. Jemand, der auf die Frage: | |
Liebst du mich? die (vermutlich vollkommen wahre) Antwort gibt „Es ist | |
kompliziert“, hat rein beziehungstechnisch wohl nicht die beste Wahl | |
getroffen, und eine Richterin hat bei einem entscheidenden Schuldspruch | |
allenfalls das Strafmaß als Spielraum für die allgemeine und besondere | |
Kompliziertheit der menschlichen Beziehungen und ihrer Störungen. Und ist | |
nun gar ein Krieg – wie sagt man? – „ausgebrochen“, so ist für ein „… | |
kompliziert“ schon gar kein Platz mehr. | |
Ich vermute, die Erkenntnis, die in der Frucht eines gewissen Baumes im | |
Paradies lauerte, war ebendiese: Es ist kompliziert. Aber was ist das für | |
ein Paradies, in dessen Mitte ein striktes Erkenntnisverbot steht und in | |
dem ein zischelnder Verführer wenig hilfreiche Ratschläge erteilt? Nein, | |
die Kompliziertheit war offenbar schon vorher da und das Paradies eine | |
Falle oder, freundlicher formuliert, genau die Illusion, von der man sich | |
verabschieden muss, um Mensch zu sein. So viel zur negativen Dialektik. | |
Sie steckt schließlich auch in einem kriegsbedingten Dilemma, was die mehr | |
oder weniger utopisch-paradiesische Funktion der Kultur anbelangt. Dem | |
demokratischen, humanistischen und kosmopolitischen Verständnis nach ist | |
Kultur dasjenige Feld, auf dem sich Angehörige verschiedener Nationen, | |
Kulturen, Religionen, Sprachen und Interessen treffen, um Dialog und | |
Kooperation zu üben, auch da, wo auf anderen Feldern – Politik, Ökonomie, | |
Ideologie etwa – Konkurrenz und Konflikt vorherrscht. Kultur wäre, | |
natürlich neben vielem anderen, das Mittel, so viel von einander wissen zu | |
können und so viel Gemeinsames in Vielfalt zu erkennen, dass sich Hass, | |
Verachtung und Aggression verflüchtigen. Früher oder später. | |
Diese völkerverbindende, grenzüberschreitende, verständigungsinnige Idee | |
von Kultur erhält derzeit einen schweren Dämpfer. Seit Russland die Ukraine | |
angegriffen hat, werden nicht nur die politischen und ökonomischen | |
Beziehungen reduziert, sondern auch – vielleicht sogar mehr als die anderen | |
– die kulturellen. Das Ausladen [1][russischer Künstlerinnen] und Künstler | |
gehört so sehr zum politischen Konsens wie die Boykotte auf dem Gebiet des | |
Sports – bis hin zum Ausschluss russischer Teilnehmer an den Paralympics. | |
Man könnte sich nun standhaft auf die Verständigungsmetapher von Kultur und | |
Sport zurückziehen und behaupten, da träfe es in aller Regel (sehen wir von | |
einigen erklärten Putin-Parteigängern und Oligarchenlieblingen ab) nicht | |
nur die Falschen, sondern es werde gerade ein Dialogfeld geschlossen, auf | |
dem am ehesten noch Friedenshoffnungen, Kritik und Versöhnungsbereitschaft | |
zu finden wären. | |
Doch bei näherem Hinsehen wird auch das wieder eher kompliziert. Denn auch | |
hinter einem Paralympics-Sportler aus Russland, dem wir persönlich die | |
Erfüllung seines Traumes wünschen mögen, steckt so sehr wie hinter der | |
Autorin, die uns Einblick in Alltag und Abgrund ihrer Gesellschaft | |
verschafft, ein Heer von Bürokraten, systemtreuen Funktionären und | |
Lobbyisten. Die Autonomie von [2][Kultur] und Kritik, wie sie für einen | |
offenen Dialog vonnöten wäre, reicht offensichtlich im Krisenfall nicht | |
weit. Genauer gesagt: Die Krise macht erst richtig deutlich, wie abhängig | |
auch Kunst, Kultur und Sport von politischen und ökonomischen Strukturen | |
sind. Und wie wenig der sprichwörtliche gute Wille und das mehr oder | |
weniger diplomatische Geschick gegen diese Abhängigkeit vermag. | |
Dabei geht es nicht allein um den Ausschluss eines Landes aus den globalen | |
Kulturnetzen. Auch die hiesige Kulturlandschaft droht in dem Niemandsland | |
zwischen der Solidarität mit den Menschen in der Ukraine, die zur | |
humanistischen Verpflichtung von Kultur gehört, und einem | |
Stellvertreter-Nationalismus mit fatalen Untertönen die politische Unschuld | |
zu verlieren. Oder genauer gesagt: Es wird deutlich, wie wenig sie diese je | |
besessen hat. Negative Dialektik eben. | |
Das Dilemma von Kultur im Feld der Politik äußert sich derzeit noch an | |
anderem Ort. So droht Italien damit, (unter anderem und ausgerechnet) das | |
Goethe-Institut in Rom zu enteignen, um mit dem Erlös Opfer der | |
nationalsozialistischen Besetzung des Landes zu entschädigen. Die | |
politischen und juristischen Hintergründe dieses bizarren Streites sind in | |
der Tat reichlich kompliziert, doch sehr einfach ist die Metapher: Es | |
genügt eine Entscheidung an machtvoller Stelle, und aus einem Ort der | |
Begegnung und der kritischen Arbeit an Geschichte wird ein Objekt der | |
Entzweiung. Und wir – die „Kulturschaffenden“ – sitzen wieder in der Fa… | |
Wenn mich nicht alles täuscht, dann ist Kultur dafür zuständig, Menschen | |
und Gesellschaften den Umgang mit der Kompliziertheit von Welt und | |
Geschichte zu ermöglichen. Kein Wunder also, dass sie von bestimmten | |
Menschen und Institutionen so gehasst wird. Umgekehrt nämlich ist Politik | |
offenbar nie zu denken ohne das Versprechen der großen Vereinfachung. Der | |
politische Druck auf Kultur wächst in Zeiten der Krise. Doch es gibt einen | |
Punkt der freiwilligen wie der erzwungenen Vereinfachung, an dem wir nicht | |
mehr von Kultur, sondern von [3][Propaganda] sprechen sollten. | |
Aber vielleicht verhält es sich ja so, dass jede Künstlerin und jeder | |
Künstler schon von einem dunklen Schatten, seiner oder ihrer | |
Instrumentalisierung in Politik und Ökonomie, begleitet wird. In der Krise | |
wird dieser Schatten übermächtig. Und der Satz „Es ist kompliziert“ muss | |
verboten werden. So oder so. Auch die Vertreibung aus dem Kultur-Paradies | |
offenbart eine große Illusion. | |
4 May 2022 | |
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## AUTOREN | |
Georg Seeßlen | |
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