| # taz.de -- Frauen in der Männerdomäne Architektur: Im Widerstand | |
| > Margarete Schütte-Lihotzky gehörte zur ersten Generation von | |
| > Architektinnen im deutschsprachigen Raum. | |
| Bild: Sozialer Wohnungsbau im Roten Wien, 1926 mitentworfen von Margarete Schü… | |
| Sechseinhalb Quadratmeter, blaue Fronten, erschwinglicher Preis: Zweifellos | |
| ist [1][die Frankfurter Küche] das bekannteste Werk von Margarete | |
| Schütte-Lihotzky. Die österreichische Architektin entwickelt sie im Jahr | |
| 1926. Die Küche ist konzipiert für die beengten Arbeiterwohnungen der | |
| Weimarer Republik, wird zehntausendfach verkauft und gilt als Vorläuferin | |
| unserer heutigen Einbauküchen. | |
| Ihrer Erfinderin, die am 23. Januar 125 Jahre alt geworden wäre, verhilft | |
| sie zu internationalem Ruhm. Doch Schütte-Lihotzky hat nicht nur die | |
| berühmte Küche geschaffen, sondern sie gehört auch zu den Pionierinnen, zur | |
| ersten Generation von Frauen, die als Architektinnen im deutschsprachigen | |
| Raum arbeiten. | |
| Als die damals Achtzehnjährige ihr Architekturstudium im Jahr 1915 an der | |
| Kunstgewerbeschule in Wien aufnimmt, stellt sie noch eine Ausnahme unter | |
| den Studierenden dar. Vor 1918 ist die Schule die einzige Einrichtung in | |
| Österreich, die eine solche Ausbildung für Frauen anbietet. | |
| [2][In anderen Ländern sieht es ähnlich aus.] So erhalten Frauen | |
| beispielsweise in Preußen auch erst 1908 das Recht, einen Diplomabschluss | |
| an einer Technischen Hochschule zu erwerben. Nur in wenigen Staaten wie | |
| Finnland oder den USA dürften sie bereits im 19. Jahrhundert Architektur | |
| studieren. | |
| Dass Margarete Lihotzky, wie sie zu dieser Zeit noch heißt, an eine | |
| Hochschule gehen kann, verdankt sie der Herkunft aus einer bürgerlichen | |
| Familie. Im Studium wird sie dann von einflussreichen Lehrern gefördert, | |
| allen voran von Oskar Strnad, dessen Architekturklasse sie besucht. Ihren | |
| Abschluss macht sie, als gerade der Erste Weltkrieg beendet und die | |
| Habsburgermonarchie zusammengebrochen ist. | |
| ## Wiener Siedlungsbewegung | |
| In der neu gegründeten österreichischen Republik engagiert sich die junge | |
| Frau für die Wiener Siedlungsbewegung, die aufgrund der Wohnungsnot in der | |
| Stadt entstanden ist. Hier arbeitet sie unter anderem mit dem prominenten, | |
| älteren Kollegen Adolf Loos zusammen, der als einer der Wegbereiter der | |
| modernen Architektur gilt. | |
| Später ist sie dann im Baubüro des Österreichischen Verbandes für | |
| Siedlungs- und Kleingartenwesen tätig, dessen Generalsekretär der | |
| Nationalökonom Otto Neurath ist, mit dem sie fortan eine enge Freundschaft | |
| verbindet. | |
| Auch mit Josef Frank baut sie gemeinsam, ebenso mit dem Schweizer Ernst | |
| Egli. Neben Ella Briggs ist sie die einzige Frau, die Projekte zum | |
| kommunalen Wohnbauprogramm [3][des „Roten Wien“] beiträgt. | |
| Außerdem lernt sie Ernst May kennen, als dieser in der österreichischen | |
| Hauptstadt weilt. Mit ihm bleibt sie im losen Kontakt, bis er sie im Jahr | |
| 1926 ans Frankfurter Hochbauamt holt, wo sie ihre berühmte Küche | |
| entwickelt. | |
| Durch ihn nimmt sie ab 1929 zudem regelmäßig an den von [4][Le Corbusier] | |
| initiierten Congrès Internationaux d’Architecture Moderne (CIAM) teil, bei | |
| denen über einen Zeitraum von drei Jahrzehnten prominente (und überwiegend | |
| männliche) Stadtplaner und Architekten aus aller Welt zusammenkommen, um | |
| Fragen des Städtebaus und der Architektur zu diskutieren. Und May ist es | |
| auch, der die junge Architektin 1930 mit in die Sowjetunion nimmt, wo sein | |
| Team ganze Industriestädte baut. | |
| Lihotzky ist also in der ersten Dekade ihrer Tätigkeit mit zahlreichen | |
| einflussreichen Männern ihrer Zunft lose vernetzt, die sie fördern, | |
| wiederum selbst über große Netzwerke verfügen und ihr mehr als einmal | |
| Jobangebote machen können. Auch in späteren Zeiten bleibt das bedeutsam. | |
| Als sich Schütte-Lihotzky und ihr Mann Wilhelm Schütte beispielsweise | |
| 1937/38 erfolglos darum bemühen, in Paris Fuß zu fassen, erhalten sie das | |
| Angebot des Architekten Bruno Taut, nach Istanbul zu kommen, um dort bei | |
| ihm an der Akademie der schönen Künste zu arbeiten. Taut kennen sie schon | |
| seit einigen Jahren und haben ihn 1934 in seiner damaligen Wahlheimat Japan | |
| besucht. | |
| Doch zugleich bringt die Abhängigkeit von diesen Netzwerken auch | |
| Schwierigkeiten mit sich. Brechen sie nämlich weg, verschlechtern sich die | |
| Bedingungen für die Architektin. Erstmals zeigt sich dies Mitte der 1920er | |
| Jahre in Wien. Zu dieser Zeit erschwert sich Lihotzkys Situation durch | |
| wirtschaftliche Schwierigkeiten ihres Arbeitgebers und durch den Weggang | |
| ihrer Fürsprecher. Die Anfrage von May aus Frankfurt kommt also gerade zur | |
| rechten Zeit. | |
| Noch deutlicher wird es nach dem Zweiten Weltkrieg. 1947 kehrt | |
| Schütte-Lihotzky in ihre Heimatstadt zurück. Obwohl sie zu diesem Zeitpunkt | |
| eine international anerkannte Architektin ist, erhält sie in den kommenden | |
| Jahrzehnten nahezu keine öffentlichen Bauaufträge. | |
| ## Aufträge bleiben aus | |
| Ein Grund ist zweifellos der virulente Antikommunismus in der Republik | |
| Österreich – Schütte-Lihotzky gehört seit 1939 der Kommunistischen Partei | |
| Österreichs (KPÖ) an. Doch ebenso schwer wiegt die Tatsache, dass nach 1945 | |
| keiner ihrer prominenten Mentoren der Zwischenkriegszeit mehr in Wien lebt. | |
| Loos, Neurath und Strnad sind mittlerweile verstorben. Egli ist in die | |
| Schweiz übergesiedelt, Frank nach Schweden. | |
| Die Architektin reagiert darauf, indem sie versucht, Kontakte aus alten | |
| Netzwerken zu reaktivieren. Im Herbst 1960 kontaktiert sie beispielsweise | |
| Walter Gropius, den sie aus dem CIAM kennt. Sie fragt den Bauhaus-Gründer, | |
| der mittlerweile in New York lebt, ob er ihr nicht eine Tätigkeit bei den | |
| Vereinten Nationen vermitteln kann. Letztendlich kann Gropius nicht helfen, | |
| doch verdeutlicht es Schütte-Lihotzkys Strategie, persönliche Netzwerke bei | |
| der Suche nach Aufträgen zu nutzen. Erfolgreicher ist sie im Umfeld der | |
| KPÖ, die ihr verschiedene Arbeitsmöglichkeiten verschafft. So gehört sie | |
| unter anderem zu dem Team, welches das parteieigene Druckerei- und | |
| Verlagsgebäude „Globus“ in Wien realisiert. | |
| Zweifellos profitiert die Architektin von ihrem männlichen Umfeld. Doch sie | |
| kann dort keineswegs immer gleichberechtigt agieren. Ihr Mann Wilhelm ist | |
| beispielsweise drei Jahre jünger, hat sein Studium später abgeschlossen und | |
| verfügt auch nicht über mehr Berufserfahrung. Trotzdem enthalten seine | |
| Arbeitsverträge an verschiedenen Orten stets bessere Konditionen als die | |
| seiner Frau – und zwar jeweils beim selben Arbeitgeber. | |
| Hinzu kommt, dass Schütte-Lihotzkys Berufsaussichten trotz aller Prominenz | |
| in der Nachkriegszeit schlecht bleiben. So ist die oben beschriebene | |
| berufliche Ausgrenzung nicht nur auf den Antikommunismus des Kalten Krieges | |
| und wegbrechende Netzwerke zurückzuführen. Auch andere Frauen haben es im | |
| restaurativen Klima der 1950er Jahre schwer. Nur die wenigsten von denen, | |
| die in den 1920er Jahren zur weiblichen Avantgarde in der Architektur | |
| gezählt haben, können nun in Österreich oder in Westdeutschland beruflich | |
| wieder Fuß fassen. | |
| ## Es gab mehr als die Küche | |
| Nicht zuletzt wird Schütte-Lihotzky trotz eines breiten Œuvres bis heute | |
| meist auf ihre weiblich konnotierten Arbeiten reduziert. Obwohl sie | |
| Siedlerhütten entworfen, Gemeindebauten geplant und Verlagshäuser gebaut | |
| hat, stehen im Zentrum der Werkrezeption Kindergärten und Küchen. „Es kam | |
| den damaligen bürgerlichen und kleinbürgerlichen Vorstellungen entgegen, | |
| dass eine Frau im Wesentlichen am häuslichen Herd arbeitet. Deshalb wisse | |
| auch eine Frau als Architekt am besten, was für das Kochen wichtig ist“, | |
| merkt sie später kritisch zur öffentlichen Wahrnehmung der Frankfurter | |
| Küche an. | |
| Margarete Schütte-Lihotzky stirbt im Januar 2000 kurz vor ihrem 103. | |
| Geburtstag. In ihren letzten Lebensjahrzehnten tritt sie – die auch im | |
| Widerstand gegen das NS-Regime aktiv war, nur knapp der Hinrichtung entging | |
| und von 1941 bis Kriegsende inhaftiert war – in ihrer Heimat als mahnende | |
| Zeitzeugin auf. 1985 erscheint ihr Buch „Erinnerungen aus dem Widerstand“. | |
| Für eine junge Generation von Architektinnen wird sie derweil zur | |
| Identifikationsfigur. Denn zweifellos haben Pionierinnen wie | |
| Schütte-Lihotzky ihren späteren Kolleginnen den Weg bereitet. | |
| Inzwischen studieren deutlich mehr Frauen als Männer das Fach. Trotzdem | |
| kommen noch immer nicht alle in der Berufstätigkeit an. Die „missing group“ | |
| – also die Diskrepanz zwischen der Anzahl der Studentinnen und der Zahl der | |
| Frauen, die bei den Architektenkammern als Mitglied geführt werden – | |
| beträgt noch immer rund zwanzig Prozent. | |
| Der Autor Marcel Bois ist Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter an | |
| der [5][Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg]. Zusammen mit | |
| Bernadette Reinhold hat er den Band [6][„Margarete Schütte-Lihotzky. | |
| Architektur. Politik. Geschlecht. Neue Perspektiven auf Leben und Werk“] | |
| (Birkhäuser Verlag, 2019) herausgegeben. | |
| 21 Jan 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Ausstellung-in-Hamburg/!5075552 | |
| [2] /Architektinnen-Ausstellung-in-Hamburg/!5613054 | |
| [3] /Buch-zum-Roten-Wien/!5609499 | |
| [4] /Graphic-Novels-ueber-Architekten/!5622719 | |
| [5] https://www.zeitgeschichte-hamburg.de/contao/index.php/bois/articles/bois.h… | |
| [6] https://www.degruyter.com/document/isbn/9783035619591/html | |
| ## AUTOREN | |
| Marcel Bois | |
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