# taz.de -- Buch zum „Roten Wien“: Mehr Wien wagen | |
> Inspiration gefällig, liebe Städteplaner_innen und | |
> Kommunalpolitiker_innen? Die Geschichte Wiens bietet jede Menge | |
> Vorbilder. | |
Bild: Kinderfreibad am Margaretengürtel, 1926 (Bildausschnitt) | |
Das Rote Wien ist derzeit in aller Munde, nicht nur weil es seltsam gegen | |
den rechtskonservativen Zeitgeist steht, sondern weil sein Ursprung in den | |
ersten freien Kommunalwahlen vor hundert Jahren verortet wird. | |
Das Wien Museum hat aus diesem Anlass eine Ausstellung gestaltet und einen | |
prallvollen Katalog herausgegeben. Gleichzeitig veröffentlicht der Picus | |
Verlag die einschlägigen Vorträge der Wiener Vorlesungen aus dem | |
vergangenen Jahr als handliche Sammlung. | |
Die ersten Gemeinderatswahlen nach dem Zusammenbruch der | |
österreichisch-ungarischen Monarchie brachten der Sozialdemokratischen | |
Arbeiterpartei (SDAP) eine absolute Mehrheit im Wiener Rathaus. Die Stadt | |
platzte aus allen Nähten, und es bedurfte schneller und effektiver | |
Lösungen. | |
Schon weil Tausende wohnungslose Menschen ihr Schicksal selbst in die Hand | |
nahmen und auf Brachflächen illegal Siedlungen errichteten, worauf die | |
junge Stadtregierung reagieren musste. „Auch Brachen im Spekulationsvorfeld | |
der gründerzeitlichen Blockrandbebauung, Industrie- und Bahnareale, | |
Ziegelgruben und Exerzierplätze wurden besetzt und urban gemacht“, | |
schreiben Friedrich Hauer und Andre Krammer in ihrem Aufsatz „Wilde | |
Siedlungen und rote Kosakendörfer“. | |
## Gegen den Abriss | |
Windschiefe Bretterhütten, wie man sie heute aus den Slums der sogenannten | |
Entwicklungsländer kennt, wurden errichtet und mit Gemüsegärten für die | |
Selbstversorgung umgeben. Die Sozialdemokratie entschied sich gegen | |
Repression und Abriss und setzte vielmehr auf Vereinnahmung. | |
Sie gründete die Wiener Siedlerbewegung, die dabei half, die teilweise | |
gefährlichen Unterkünfte solider zu machen, durch Umwidmungen der Flächen | |
auf eine legale Basis zu stellen und mittels Kommunalkrediten zu | |
unterstützen. Die Hyperinflation der zwanziger Jahre war dabei hilfreich, | |
die Grunderwerbskredite für kommunale Ankäufe zu tilgen. | |
Einige der renommiertesten Architekten der Zeit, darunter auch Adolf Loos | |
und Margarete Schütte-Lihotzky, die Erfinderin der Frankfurter Küche, | |
wurden verpflichtet, zweckmäßige und ästhetisch ansprechende Wohnkomplexe | |
zu entwerfen. Gleichzeitig galt es, die Tuberkulose zu bekämpfen, Schulen | |
zu bauen und sauberes Trinkwasser für alle zugänglich zu machen. | |
Wenn man vom Roten Wien der Zwischenkriegszeit spricht, dann bezieht man | |
sich meist auf die rege Bautätigkeit, die in einem Jahrzehnt nicht weniger | |
als 800 Gemeindebauten entstehen ließ und damit nicht nur der Wohnungsnot | |
begegnete, sondern auch Experimentierfelder für eine sozialistische | |
Arbeiterkultur schuf. | |
## Proletarischer Stolz | |
Es wurden nicht billige Plattenbauten wie im Realsozialismus hochgezogen, | |
sondern architektonisch interessante Zweckbauten errichtet, von denen | |
einige neue Formen des Zusammenlebens ermöglichten. Neben kollektiven | |
Waschküchen und Kinderkrippen gab es auch Versuche, Gemeinschaftsküchen | |
einzurichten, was es der modernen Frau erlaubte, ganztags einer bezahlten | |
Beschäftigung nachzugehen. | |
Bibliotheken, Arbeitersportvereine, Frei- und Hallenbäder, Volkshochschulen | |
und Lesezirkel ermöglichten es dem Proletariat, einen gewissen Klassenstolz | |
zu entwickeln. | |
Einer dieser Proletarier war Bürgermeister Jakob Reumann, der eine | |
Drechslerlehre absolviert hatte und in seiner Antrittsrede im Mai 1919 auf | |
seinen sozialen Hintergrund Bezug nahm, „als Vertreter der Arbeiterschaft, | |
die jahrzehntelang rechtlos und nur ein Objekt der Verwaltung war“. Im | |
Roten Wien kann man sich Ideen holen, wie Immobilienspekulation und | |
Mietpreiswucher vorgebeugt werden kann. | |
Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) zählte damals in Wien mehr | |
als 400.000 Mitglieder. Das ist mehr, als die SPÖ bei den | |
Gemeinderatswahlen 2015 an Stimmen – nämlich 329.773 – erzielte. | |
Der Katalog deckt in seinen über 70 Beiträgen sämtliche Aspekte jener | |
revolutionären 14 Jahre ab, die mit dem Putsch der Christlichsozialen und | |
der Errichtung des Ständestaates unter Engelbert Dollfuß 1933 beendet | |
wurden. | |
Das Panorama reicht von historischen Texten über die Frauenpolitik und die | |
Modernisierung der Hauswirtschaft, die Schulreform und die Psychoanalyse | |
über den zwiespältigen Umgang der Sozialdemokraten mit den Juden bis zu | |
Detailstudien über den berühmten Karl-Marx-Hof und Aufsätze über das | |
Praterstadion und das Amalienbad. | |
12 Jul 2019 | |
## AUTOREN | |
Ralf Leonhard | |
## TAGS | |
Rotes Wien | |
Wien | |
Österreich | |
Stadtplanung | |
Wohnungsbau | |
Wohnen | |
Architektur | |
Berlin | |
Sozialer Wohnungsbau | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Neue Wohnflächenstatistik: Wir wohnen zu groß | |
Viele Menschen leben im Alter in zu großen Buden. Jetzt sind neue | |
Kulturtechniken gefragt, um mit Fremden oder Bekannten zusammenleben zu | |
können. | |
Geschichte der „Neuen Heimat“: An ihrer Radikalität gescheitert? | |
Der ehemals größte Baukonzern Europas begann als sozialdemokratische | |
Utopie. Eine Schau beleuchtet die Geschichte der „Neuen Heimat“. | |
Berliner Stadtplanung: Ohne städtebauliche Vision | |
Die „Europacity“ in Berlin sollte in zentraler Lage ein vollwertiger | |
Stadtteil werden. Doch nun deutet alles auf einen weiteren urbanisierten | |
Gewerbepark. | |
Kommentar Sozialer Wohnungsbau: Heikle Fragen für Stadtplaner | |
Soziales und Ökologie gegeneinander auszuspielen, ist nicht klug. Für Linke | |
gilt es, beides beim Wohnungsbau zusammen zu denken. |