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# taz.de -- Rechtsextreme „Graue Wölfe“: Hass aus 3.000 Kilometern
> Der kurdischstämmige Politiker Civan Akbulut erhält Morddrohungen im
> Internet. Er ist nur eines von vielen Opfern. Taz-Recherchen führen in
> die Türkei.
Es ist ein kühler Freitagabend im August, als Civan Akbulut zum ersten Mal
auch in der analogen Welt bedroht wird. Akbulut, 21 Jahre alt, fährt in
einem Skoda des Deutschen Roten Kreuzes durch Essen. Er macht dort ein
Freiwilliges Soziales Jahr. Die letzten Stunden hat er Blutkonserven von
Labor zu Labor transportiert. Nun ist seine Schicht zu Ende, Akbulut ist
auf dem Weg zurück in die Zentrale.
Vor einer roten Ampel kommt er zum Stehen, neben ihm hält ein weißer
Sportwagen. Der Mann am Steuer schaut ihn direkt an. Akbulut lässt das
Fenster herunter, fragt, ob er ihm helfen könne. Der Mann nennt ihn einen
Hurensohn, einen Wichser und sagt: „Ich habe dich erkannt.“ Die Ampel
schaltet auf Grün, Akbulut fährt los, der Sportwagen folgt. Immer wieder
versucht der Unbekannte, Akbulut abzudrängen, zum Halten zu zwingen.
Erst als er in die Einfahrt der DRK-Zentrale einbiegt und der Sportwagen
weiterfährt, fühlt er sich in Sicherheit. So erzählt es Akbulut Anfang
Oktober im Vereinsheim des Demokratischen Gesellschaftszentrums der Kurden
in Essen. Akbulut weiß nicht, wer der Mann war oder was er wollte. Er weiß
zu diesem Zeitpunkt auch nicht, wer ihm immer wieder Morddrohungen auf
Instagram schickt: Bilder von Pistolen, Maschinengewehren und Leichen.
Civan Akbulut ist deutsch-kurdischer Aktivist und Politiker für die Linke
in Essen. Seit September 2020 sitzt er im Integrationsrat, zur nächsten
Kommunalwahl möchte er für den Stadtrat kandidieren. Er ist nicht das
einzige Opfer jenes Droh-Accounts auf Instagram.
Auch andere linke Politiker:innen und Aktivist:innen wie Cansu
Özdemir, Fraktionsvorsitzende der Linken in der Hamburger Bürgerschaft,
Sarya Atac, Mitglied in der kommunalen Ausländervertretung Frankfurt am
Main, und Kerem Schamberger, Aktivist aus München und Linken-Kandidat bei
der letzten Bundestagswahl, erhielten Drohungen von demselben Absender.
## „Idealisten“ nennen sich die Grauen Wölfe
Wer steckt dahinter? Ein Einzeltäter oder ein Netzwerk von sogenannten
Trollen? Also Leuten, die sich online organisieren und systematisch
Personen bedrohen, deren Weltbild nicht ihrem eigenen entspricht? Sucht man
nach Antworten, stößt man auf Konflikte, die weit in die türkische
Geschichte zurückreichen und immer wieder neu aufleben. Und man begegnet
Strukturen, denen deutsche Behörden nicht gewachsen zu sein scheinen.
Es ist Mitte Juni 2021, als Akbulut die erste Drohung auf Instagram
bekommt. Ein Bild von zwei Gewehren, kommentiert auf Türkisch mit „Komm,
ich warte auf dich“ und den Orten Erbil, Irak und Syrien sowie ein Video
mit dem Graffito „Es leben die Idealistenvereine“. „Idealisten“, so nen…
sich die ultranationalistische türkische Bewegung, die sogenannten Grauen
Wölfe. Ihre Anhänger:innen haben es auf vermeintliche Staatsfeinde
abgesehen, darunter Unterstützer:innen der kurdischen Bewegung – wie
Civan Akbulut.
Ende Juli folgt die zweite Drohung, wieder auf Instagram. Dieses Mal sind
es vier Fotos von einem anderen Account. Darunter eins von einer
Handfeuerwaffe, eins von einem türkischen Reisepass und zwei von
Frauenkörpern, die auf einem Fliesenboden in einer Blutlache liegen. Die
Screenshots liegen der taz vor.
Der Account des Absenders verschwindet immer wieder und taucht dann mit
leicht verändertem Namen erneut auf. Mal heißt er „Kod Adım Yeşil“ und …
das Emblem des türkischen Verfassungsgerichts als Profilbild, dann kommen
die Drohungen von einem Account mit dem Namen „jitem_turkey_tem2“.
Wörter, die in den Accountnamen immer wieder auftauchen, sind „Jitem“ und
„Kod Adım Yeşil“. „Jitem“ ist der Name einer informellen paramilitär…
Untergrundorganisation. Ihr werden eine Reihe von politischen Morden in den
1990er Jahren nachgesagt, als der türkisch-kurdische Konflikt auf seinem
Höhepunkt war.
„Kod Adım Yeşil“ heißt auf Deutsch: „Mein Codename ist Grün“. „Gr…
lautete der Deckname des Agenten Mahmut Yıldırım, um den in der Türkei
viele Mythen kreisen. Das Profilbild dieses Accounts zeigt ein Bild von
Yıldırım. Er wird für mehrere Morde – ebenfalls in den 1990er Jahren –
verantwortlich gemacht, die er mutmaßlich im Auftrag türkischer
Geheimdienste ausführte. Er soll auch damit beauftragt gewesen sein,
Abdullah Öcalan, den Chef der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK, zu
töten. 1996 tauchte Yıldırım ab.
## Civan Akbulut ist nicht Cem Özdemir
Der Lokalpolitiker Akbulut kennt die Mythen über Yıldırım aka Yeşil. Hinter
den Drohnachrichten vermutet er einen türkischen Nationalisten in
Deutschland, der sich an seinen politischen Aktivitäten stößt, vielleicht
sogar jemanden aus seinem unmittelbaren Umfeld. Denn Civan Akbulut ist kein
bekannter Name, er ist nicht Cem Özdemir, sondern ein junger Mann, der in
Essen gerade in die Lokalpolitik einsteigt.
Vielleicht sind die Drohungen aber auch das Resultat organisierten
Handelns. Schließlich hatte er die erste Drohung erhalten, nachdem er auf
seinem Blog ein Solidaritätsschreiben veröffentlicht hatte. Darin
unterstützte er Cansu Özdemir, die im Juni mit einer Delegation in die
kurdischen Gebiete im Nordirak fliegen wollte, [1][um angesichts der
Eskalation Unterstützung vor Ort zu leisten.]
Am Düsseldorfer Flughafen war sie jedoch von der Bundespolizei festgesetzt
und an der Ausreise gehindert worden. Der Grund: „In der Mitteilung stand,
dass die Delegation vorhabe, als ‚menschliche Schutzschilde der PKK‘ zu
fungieren, und dass die Reise den deutsch-türkischen Beziehungen schaden
würde“, sagte Özdemir später der taz über ein [2][Schreiben der
Bundespolizei].
Im Juni und Juli 2021, jeweils kurz nach Erhalt der Drohnachrichten, geht
Akbulut zur Polizei und erstattet Anzeige gegen unbekannt. Doch am 18.
Oktober stellt die Staatsanwaltschaft die Verfahren ein. „Weitere
Nachforschungen versprechen zurzeit keinen Erfolg“, heißt es in dem
Schreiben. Akbulut sagt, am Telefon habe ihm der für seinen Fall zuständige
Staatsschützer erklärt, sie gingen von einem Netzwerk außerhalb der EU aus
und der türkische Staat werde ohnehin nicht kooperieren.
Civan Akbulut ist eines von acht Kindern kurdischer Eltern, die 1991 aus
der Südosttürkei nach Deutschland auswanderten. Akbulut hat als Erster
Abitur gemacht, Notendurchschnitt 1,2. Bald möchte er Medizin studieren.
Ein wenig Stolz klingt aus seiner Stimme, als er die Reporter:innen
dazu einlädt, sich im kurdischen Vereinsheim umzuschauen. An den Wänden
hängen etliche Porträts gefallener Kämpfer:innen, Fahnen und Symbole der
kurdischen Bewegung.
Wenn Akbulut über Politik spricht, verhärten sich seine Gesichtszüge. Dann
spricht er lauter, tippt mit dem Zeigefinger energisch auf den Tisch. Als
der IS im September 2014 die kurdische Stadt Kobanê in Syrien angriff, habe
er sich politisiert. Da war er 14 Jahre alt. Als Jugendlicher fängt er an,
politische Texte zu verfassen und auf einem Online-Blog zu veröffentlichen.
Erst benutzt er ein Pseudonym, bis er im September 2020 als Teil der Linken
für den Essener Integrationsrat kandidiert. „Da dachte ich mir, okay, wenn
ich jetzt gewählt werde, dann let’s go.“ Heute spricht er auf prokurdischen
Demos und organisiert Soli-Aktionen für seine Community.
## Auch ein deutsches Problem
Oft heißt es hierzulande, die Menschen würden den Konflikt aus der Türkei
und Kurdistan nach Deutschland importieren. Akbulut sagt: „Solange Menschen
hier in Deutschland bedroht werden, weil sie kurdisch sind, ist das kein
politisches Problem aus der Türkei, sondern eines in Deutschland.“
Seine These unterstützen auch die Arbeiten einiger Wissenschaftler, wie zum
Beispiel die des Politik- und Sozialwissenschaftlers Kemal Bozay. In seiner
Dissertation analysiert Bozay, wie deutsch-türkische Jugendliche der
zweiten und dritten Generation im Kontext von Globalisierung und Migration
reethnisiert und renationalisiert werden. Dabei handelt es sich vor allem
um Anhänger:innen der Grauen Wölfe, über die im November 2020 eine
Verbotsdebatte im Bundestag entbrannte.
Die Ideologie dieser ultranationalistischen und rassistischen Bewegung
reicht bis in die Zeit des Ersten Weltkriegs zurück. Im Zentrum der Grauen
Wölfe stand einst eine vermeintliche Einheit aller „Turkvölker“. Ihr Ziel:
Der Zusammenschluss dieser „Völker“ zu einem türkischen Großreich. Von d…
1950er bis in die 1980er Jahre erlangte die panturkistische Vision
wachsende Beliebtheit unter Rechtsextremist:innen in der Türkei.
Die Folge waren eine Serie von Gewalttaten und Morden, vor allem an
Kommunist:innen und Kurd:innen, die neben Jüd:innen, Christ:innen
und Armenier:innen als größtes Feindbild gelten.
Der Politikwissenschaftler Kemal Bozay sagt, die antikurdische Stimmung in
der Türkei, die sich durch die Koalition von Erdoğans AKP und der
rechtsextremen MHP verschärft habe, strahle auch nach Deutschland in die
migrantischen Communitys aus. „Dort entstehen ethnische Nischen, in denen
gerade jungen Leuten Identitätsangebote gemacht werden“, erklärt Bozay am
Telefon.
Die sozialen Medien hätten dabei ein großes Mobilisierungspotenzial. In
Deutschland mache man immer wieder den Fehler, sich „auf den einen
Rechtsextremismus“ zu konzentrieren, und vernachlässige dabei den
migrantischen.
Nach und nach gehen immer mehr Opfer via Twitter an die Öffentlichkeit, die
Civan Akbuluts Schicksal teilen. Unter ihnen der Aktivist und
Kommunikationswissenschaftler Kerem Schamberger aus München. Auch er erhält
Drohnachrichten von demselben Absender wie Akbulut. Schamberger hat sich in
den vergangenen Jahren in den sozialen Medien einen Namen als Beobachter
und Kommentator der Ereignisse in den kurdischen Gebieten und der Türkei
gemacht.
Auch er ist politisch eher auf lokaler Ebene aktiv. Und auch in seinem Fall
seien die Ermittlungen eingestellt worden, sagt er der taz. Akbulut,
Schamberger, Özdemir und weitere Opfer solidarisieren und vernetzen sich,
und sie stellen eigene Recherchen zu dem Täter an.
## Täter lebt Tausende Kilometer entfernt
In einem anderen Fall unterstützt die Abteilung Cybercrime des
Bundeskriminalamts (BKA) die Polizei bei den Ermittlungen. Im Juni kommen
die Beamt:innen zu einem überraschenden Ergebnis. Eine Überprüfung der
IP-Adresse des Absenders der Drohnachrichten ergibt: Die Nachrichten wurden
von der zentralanatolischen Stadt Kayseri versendet. Ein entsprechendes
Schreiben der Behörde liegt der taz vor.
Die Gruppe um Akbulut und Schamberger erfährt von dem Ermittlungsergebnis.
Sie wissen nun zumindest, dass sich der Täter vermutlich dauerhaft in der
Türkei aufhält – und nicht in Deutschland.
Am 24. November erhält Kerem Schamberger die Drohungen plötzlich nicht mehr
von einem anonymen Account. Die verbalen Angriffe, „Kerem, früher oder
später wirst du in das Flugzeug steigen“ oder „Es gibt kein Verstecken
mehr“, samt Fotos bekommt er jetzt von einem Account mit dem Namen
„teknotell_kayseri“ geschickt. Eine Recherche von Schamberger ergibt, dass
„Teknotell“ ein Handyladen im Bezirk Kocasinan in Kayseri ist. Der Laden
befindet sich in der Nähe des Bezirks Talas, den das BKA als Herkunftsort
der Drohnachrichten identifizieren konnte.
Schamberger dokumentiert die Drohungen und ein Foto, das er auf dem Profil
des Täters findet. Darauf ist ein Mann mit kahlem Kopf und grauem
Sweatshirt zu sehen, der vor einer in die Wand eingearbeiteten
dreidimensionalen Türkeifahne an einem Schreibtisch sitzt und in die Kamera
grinst. In der Bildunterschrift gratuliert der Mann zwei
Parlamentsabgeordneten der rechtsextremen MHP. „Selahattin Demirtaş ist ein
Terrorist“ steht außerdem unter dem Foto. Gemeint ist der ehemalige
Co-Vorsitzende der prokurdischen HDP, der seit 2016 in Haft sitzt.
Warum agiert der bisher anonyme Absender nun von einem identifizierbaren
geschäftlichen Account, mit Foto? Hat er sich ungewollt enttarnt, weil er
vergessen hat, die Instagram-Accounts zu wechseln? Oder tat er es bewusst,
weil er davon überzeugt ist, keine Konsequenzen fürchten zu müssen?
Die taz konnte den Absender identifizieren. Der Mann heißt Tayfun K.* und
betreibt den kleinen Handyladen auf dem Sivas-Boulevard, einer mehrspurigen
Hauptstraße im Zentrum Kayseris. Eine Meldeadresse von Tayfun K., die die
taz recherchiert hat, befindet sich in Talas, jenem Stadtteil von Kayseri,
auf den das BKA bei der Überprüfung der IP-Adresse gestoßen ist.
Mithilfe von Tayfun K.s Handynummer, die die taz ebenfalls herausgefunden
hat, kann man seine Profilbilder auf den Messengern Whatsapp und Telegram
einsehen. Sie stimmen mit dem Foto des Mannes auf dem Teknotell-Account
überein. Sein Name taucht auf der offiziellen Website des
Mobilfunkanbieters Vodafone auf, wo er als Dienstleister gelistet wird. Auf
der Plattform LinkedIn gibt er an, Elektrotechniker zu sein.
## Das Telefonat mit Tayfun K.
Die taz ruft Tayfun K. an, konfrontiert ihn mit den Drohnachrichten von den
verschiedenen Accounts und fragt, ob er allein handelt oder mit anderen
zusammen. Er räumt ohne Umschweife ein, der Absender der Nachrichten zu
sein. „Von Geburt an“ sei er ein „Idealist“, also ein Grauer Wolf, geh�…
jedoch keiner politischen Partei an.
Tayfun K. redet viel und schnell, er wird wütend, wenn er über die
„falschen Türken“ in Deutschland spricht, die hierher geflüchtet seien, um
mit ihrem vermeintlich antitürkischen Aktivismus seinem Land aus der
Entfernung zu schaden. Er sehe es als seine Pflicht an, dem
entgegenzuwirken – mit Morddrohungen auf Instagram.
Auf die Frage, wie Tayfun K. seine Opfer auswählt und ob er mit anderen
zusammenarbeitet, reagiert er ausweichend. Zum Teil suche er die Empfänger
seiner Drohnachrichten selbst aus. Die taz findet heraus, dass seine
Telefonnummer mit einem Facebook-Account namens „Ramazan Kılıç“ verknüp…
ist. Der Name ist ein Allerweltsname in der Türkei, vermutlich ein
Pseudonym.
Der Account hat nur ein Profilfoto und erweckt insgesamt den Eindruck eines
Fake Accounts. Auffällig ist: „Ramazan Kılıç“ hat fast ausschließlich
Seiten gelikt, die entweder politisch links verortet sind oder der
kurdischen Bewegung nahestehen. Auch welche aus Deutschland.
Nutzt Tayfun K. das gefälschte Facebook-Profil, um potenzielle Opfer für
seine Drohnachrichten zu finden? Ein Indiz dafür ist, dass Kılıç
Facebook-Seiten gelikt hat, die auch Kerem Schamberger und Civan Akbulut
gefallen. Eine der Seiten hat Posts von Schamberger geteilt.
Auf den Account angesprochen, bestreitet Tayfun K., ihn zu betreiben. Bei
der Beantwortung der Frage, ob er Kompliz:innen habe, bleibt er vage. Er
pflege Kontakte zu den „Grauen Wölfen“ in Deutschland, auch zum islamischen
Dachverband der Moscheen, Ditib. Genauer wird er nicht, doch er bemüht sich
darum, dass man glaubt, er sei Teil eines Netzwerks.
Ist Tayfun K. „nur“ ein virtueller Troll, dessen Aktionen sich auf das
Internet beschränken? Oder folgen aus seinen Online-Drohungen gewollt oder
ungewollt tätliche Angriffe, wie auf den Lokalpolitiker Civan Akbulut oder
den Journalisten und taz-Autor Erk Acarer? [3][Im Juli 2021 wurde Acarer im
Eingang seines Berliner Wohnhauses von zwei Männern zusammengeschlagen],
von mutmaßlichen Anhängern der Grauen Wölfe.
Die Ermittlungen laufen noch. Nicht auszuschließen ist, dass die Täter ohne
direkten Auftrag handelten und sich von Postings, wie jenen von Tayfun K.,
dazu ermutigt fühlten.
Auch Tayfun K. macht deutlich, dass er bald über die Drohungen hinaus zur
Tat schreiten könnte. Obwohl K., wie er sagt, schon „seit Jahren kämpfe“,
sei er bisher weder von deutschen noch von türkischen Behörden belangt
worden. Er ist überzeugt davon, dass er von der gegenwärtigen Regierung in
der Türkei nichts zu befürchten hat.
Er sagt, auch die deutsche Regierung könne seine Opfer nicht beschützen.
Dass er sich nicht einmal mehr hinter Fake-Profilen versteckt, sondern
offen agiert, zeigt noch mal mehr, wie sicher er sich fühlt.
## Auch Politiker:innen in der Türkei betroffen
Tayfun K. beschränkt sich bei seinen Morddrohungen nicht auf Deutschland.
Mit wechselnden anonymen Accounts hat er auch Politiker:innen und
Journalist:innen in der Türkei bedroht. Die ersten Drohungen, die der
taz vorliegen, gehen auf den März 2020 zurück. Ein Account von Tayfun K.
verschickte damals den Satz „Der Tod wird dich finden“ gemeinsam mit Fotos
von einer Handfeuerwaffe und einem türkischen Pass.
Die Empfänger:innen waren Parlamentsabgeordnete der prokurdischen HDP,
die von Teilen der Erdoğan-Regierung schon lange als „Terroristen“
denunziert werden.
Auch der kurdischstämmige Journalist Hayri Demir hat im Oktober 2020
Drohungen erhalten und Anzeige erstattet. Die Drohungen kamen von Tayfun
K.s Accounts. Ein kurzes Schreiben, das Demir von der Staatsanwaltschaft im
April 2021 erhalten hat, zeigt, wie die staatlichen Behörden in der Türkei
mit dem Fall umgehen.
Die Staatsanwaltschaft schreibt, dass die zuständigen Behörden trotz aller
Untersuchungen die Identität und die Adresse des Nutzers nicht herausfinden
konnten, da diese nicht öffentlich zugänglich seien. Deshalb seien keine
weiteren Ermittlungen möglich. Um die benötigten Informationen zu erhalten,
müssten türkische Behörden die USA, also den Sitz des Unternehmens Meta, zu
dem Instagram gehört, um Hilfe bitten.
Die USA würden aber nur auf Anfragen antworten, in denen es um „Anstiftung
zum Suizid, Kindesmissbrauch oder Terror“ gehe. Demirs Anwalt hat Einspruch
eingelegt, jedoch erfolglos. Demir glaubt, dass die Einstellung des
Verfahrens Tayfun K. weiter ermutigen wird.
## Wenn aus Drohungen Angriffe werden
Auch die HDP-Abgeordnete Dirayet Taşdemir, die ebenfalls von Tayfun K.
bedroht wurde, denkt das. Und sie übt scharfe Kritik an den
Regierungsparteien AKP und MHP. Jeden Tag drohten diese öffentlich den
Parteimitgliedern der HDP und ermutigten damit auch ihre Basis dazu, es
ihnen gleichzutun. Sie sagt: „Früher, in den 1990ern, war der Staat noch
darum bemüht, solche Aktivitäten zu verschleiern und es gab so etwas wie
‚Jitem‘. Heute braucht es so eine Organisation nicht mehr. Heute wird offen
gehandelt.“
Was Taşdemir beschreibt, zeigen auch zwei Vorfälle, die sich 2021
ereigneten: Am 17. Juni greift ein 27-Jähriger das Parteigebäude der HDP in
Izmir an und tötet Deniz Poyraz, deren Familienmitglieder für die HDP
arbeiten. Der Täter teilt daraufhin ein Foto ihres blutüberströmten Körpers
in den sozialen Medien und stellt sich 40 Minuten später der Polizei. Bei
seiner Vernehmung sagt er der Staatsanwaltschaft, dass er den Angriff
eigenständig geplant habe, eigentlich mehr Menschen habe töten wollen und
ihn begangen habe, weil er die PKK hasse.
Ein weiterer Angriff gegen die HDP hat sich in den letzten Tagen von 2021
ereignet. Ein Mann betritt ein HDP-Gebäude in Istanbul und gibt an,
Parteimitglied werden zu wollen. Den Tee, den man ihm serviert, schleudert
er auf die Menschen, die ihn empfangen. Dann geht er bewaffnet auf sie los
und verletzt eine Person.
Der Angreifer wird später gefasst, am 3. Januar aus der Untersuchungshaft
entlassen, vor Kurzem allerdings wieder festgenommen.
HDPler:innen, die mit einer Presseerklärung zunächst gegen die Freilassung
protestierten, wurden von der Polizei unter Anwendung von Gewalt
festgenommen. Auch dieser Vorfall zeigt, wie die Regierung zur HDP oder zu
linksgerichteten Personen zu stehen scheint: Die Täter werden eher
geschützt, die Opfer bestraft.
## Die Behörden bleiben untätig
Bei den taz-Recherchen bleibt offen, ob Tayfun K. allein oder als Teil
eines Netzwerks agiert, das möglicherweise bis nach Deutschland reicht.
Offen bleibt auch, ob es in Deutschland Personen gibt, die ihm zuarbeiten.
Das Bundeskriminalamt möchte sich auf Anfrage nicht zu möglichen
Ermittlungsverfahren in dem Fall äußern.
Allerdings gab es in den vergangenen Jahren immer wieder Diskussionen über
türkische Geheimdienstaktivitäten in Deutschland, in denen es auch um die
Weitergabe von Personeninformationen ging. Eine Antwort der Bundesregierung
auf eine Kleine Anfrage der Linken-Politikerin Sevim Dağdelen vom 28.
Dezember 2021 dazu hat ergeben, dass der Generalbundesanwalt im Jahr 2021
sechs Verfahren wegen des Verdachts der geheimdienstlichen Agententätigkeit
türkischer Nachrichtendienste eingeleitet hat. Im Jahr 2020 waren es vier.
In keinem der Fälle ist bisher Anklage erhoben worden.
Civan Akbulut fühlt sich in Essen nicht mehr sicher. Im Sommer 2021, nach
der zweiten Drohung auf Instagram, kauft er sich Pfefferspray. Mittlerweile
hat er eine neue Wohnung bezogen, für die er eine Meldesperre einrichten
lassen will, damit fremde Personen keine Auskünfte über seinen Wohnort
einholen können.
Doch wie kann es sein, dass Tayfun K. so offen und ungeniert auftreten
kann, ohne von den deutschen und türkischen Behörden belangt zu werden?
Solange die Behörden nicht handeln, sind Akbulut und andere linke und
kurdische Politiker:innen, Aktivist:innen und Journalist:innen
weiterhin dem rechten Terror ausgesetzt.
Am 3. Januar postet Tayfun K. ein letztes Mal, bevor der Account seines
Handyladens Teknotell offline geht. Es ist wieder eine
Schwarz-Weiß-Aufnahme des Rechtsextremisten und mutmaßlichen Mörders Mahmut
Yıldırım aka Yeşil. In der Bildunterschrift gratuliert Tayfun K. ihm zum
Geburtstag. Getaggt sind die Linkenpolitiker:innen Cansu Özdemir,
Kerem Schamberger und der Journalist und taz-Autor Erk Acarer.
Mitarbeit: Sebastian Erb
*Der volle Name von Tayfun K. ist der Redaktion bekannt.
15 Jan 2022
## LINKS
[1] /Linken-Abgeordnete-ueber-ihre-Festsetzung/!5774917
[2] https://twitter.com/cansuoezdemir/status/1403676248182767616
[3] /Attacke-auf-tuerkischen-Journalisten/!5780835
## AUTOREN
Volkan Ağar
Nora Belghaus
Ali Çelikkan
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