| # taz.de -- Rechtsextreme „Graue Wölfe“: Hass aus 3.000 Kilometern | |
| > Der kurdischstämmige Politiker Civan Akbulut erhält Morddrohungen im | |
| > Internet. Er ist nur eines von vielen Opfern. Taz-Recherchen führen in | |
| > die Türkei. | |
| Es ist ein kühler Freitagabend im August, als Civan Akbulut zum ersten Mal | |
| auch in der analogen Welt bedroht wird. Akbulut, 21 Jahre alt, fährt in | |
| einem Skoda des Deutschen Roten Kreuzes durch Essen. Er macht dort ein | |
| Freiwilliges Soziales Jahr. Die letzten Stunden hat er Blutkonserven von | |
| Labor zu Labor transportiert. Nun ist seine Schicht zu Ende, Akbulut ist | |
| auf dem Weg zurück in die Zentrale. | |
| Vor einer roten Ampel kommt er zum Stehen, neben ihm hält ein weißer | |
| Sportwagen. Der Mann am Steuer schaut ihn direkt an. Akbulut lässt das | |
| Fenster herunter, fragt, ob er ihm helfen könne. Der Mann nennt ihn einen | |
| Hurensohn, einen Wichser und sagt: „Ich habe dich erkannt.“ Die Ampel | |
| schaltet auf Grün, Akbulut fährt los, der Sportwagen folgt. Immer wieder | |
| versucht der Unbekannte, Akbulut abzudrängen, zum Halten zu zwingen. | |
| Erst als er in die Einfahrt der DRK-Zentrale einbiegt und der Sportwagen | |
| weiterfährt, fühlt er sich in Sicherheit. So erzählt es Akbulut Anfang | |
| Oktober im Vereinsheim des Demokratischen Gesellschaftszentrums der Kurden | |
| in Essen. Akbulut weiß nicht, wer der Mann war oder was er wollte. Er weiß | |
| zu diesem Zeitpunkt auch nicht, wer ihm immer wieder Morddrohungen auf | |
| Instagram schickt: Bilder von Pistolen, Maschinengewehren und Leichen. | |
| Civan Akbulut ist deutsch-kurdischer Aktivist und Politiker für die Linke | |
| in Essen. Seit September 2020 sitzt er im Integrationsrat, zur nächsten | |
| Kommunalwahl möchte er für den Stadtrat kandidieren. Er ist nicht das | |
| einzige Opfer jenes Droh-Accounts auf Instagram. | |
| Auch andere linke Politiker:innen und Aktivist:innen wie Cansu | |
| Özdemir, Fraktionsvorsitzende der Linken in der Hamburger Bürgerschaft, | |
| Sarya Atac, Mitglied in der kommunalen Ausländervertretung Frankfurt am | |
| Main, und Kerem Schamberger, Aktivist aus München und Linken-Kandidat bei | |
| der letzten Bundestagswahl, erhielten Drohungen von demselben Absender. | |
| ## „Idealisten“ nennen sich die Grauen Wölfe | |
| Wer steckt dahinter? Ein Einzeltäter oder ein Netzwerk von sogenannten | |
| Trollen? Also Leuten, die sich online organisieren und systematisch | |
| Personen bedrohen, deren Weltbild nicht ihrem eigenen entspricht? Sucht man | |
| nach Antworten, stößt man auf Konflikte, die weit in die türkische | |
| Geschichte zurückreichen und immer wieder neu aufleben. Und man begegnet | |
| Strukturen, denen deutsche Behörden nicht gewachsen zu sein scheinen. | |
| Es ist Mitte Juni 2021, als Akbulut die erste Drohung auf Instagram | |
| bekommt. Ein Bild von zwei Gewehren, kommentiert auf Türkisch mit „Komm, | |
| ich warte auf dich“ und den Orten Erbil, Irak und Syrien sowie ein Video | |
| mit dem Graffito „Es leben die Idealistenvereine“. „Idealisten“, so nen… | |
| sich die ultranationalistische türkische Bewegung, die sogenannten Grauen | |
| Wölfe. Ihre Anhänger:innen haben es auf vermeintliche Staatsfeinde | |
| abgesehen, darunter Unterstützer:innen der kurdischen Bewegung – wie | |
| Civan Akbulut. | |
| Ende Juli folgt die zweite Drohung, wieder auf Instagram. Dieses Mal sind | |
| es vier Fotos von einem anderen Account. Darunter eins von einer | |
| Handfeuerwaffe, eins von einem türkischen Reisepass und zwei von | |
| Frauenkörpern, die auf einem Fliesenboden in einer Blutlache liegen. Die | |
| Screenshots liegen der taz vor. | |
| Der Account des Absenders verschwindet immer wieder und taucht dann mit | |
| leicht verändertem Namen erneut auf. Mal heißt er „Kod Adım Yeşil“ und … | |
| das Emblem des türkischen Verfassungsgerichts als Profilbild, dann kommen | |
| die Drohungen von einem Account mit dem Namen „jitem_turkey_tem2“. | |
| Wörter, die in den Accountnamen immer wieder auftauchen, sind „Jitem“ und | |
| „Kod Adım Yeşil“. „Jitem“ ist der Name einer informellen paramilitär… | |
| Untergrundorganisation. Ihr werden eine Reihe von politischen Morden in den | |
| 1990er Jahren nachgesagt, als der türkisch-kurdische Konflikt auf seinem | |
| Höhepunkt war. | |
| „Kod Adım Yeşil“ heißt auf Deutsch: „Mein Codename ist Grün“. „Gr… | |
| lautete der Deckname des Agenten Mahmut Yıldırım, um den in der Türkei | |
| viele Mythen kreisen. Das Profilbild dieses Accounts zeigt ein Bild von | |
| Yıldırım. Er wird für mehrere Morde – ebenfalls in den 1990er Jahren – | |
| verantwortlich gemacht, die er mutmaßlich im Auftrag türkischer | |
| Geheimdienste ausführte. Er soll auch damit beauftragt gewesen sein, | |
| Abdullah Öcalan, den Chef der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK, zu | |
| töten. 1996 tauchte Yıldırım ab. | |
| ## Civan Akbulut ist nicht Cem Özdemir | |
| Der Lokalpolitiker Akbulut kennt die Mythen über Yıldırım aka Yeşil. Hinter | |
| den Drohnachrichten vermutet er einen türkischen Nationalisten in | |
| Deutschland, der sich an seinen politischen Aktivitäten stößt, vielleicht | |
| sogar jemanden aus seinem unmittelbaren Umfeld. Denn Civan Akbulut ist kein | |
| bekannter Name, er ist nicht Cem Özdemir, sondern ein junger Mann, der in | |
| Essen gerade in die Lokalpolitik einsteigt. | |
| Vielleicht sind die Drohungen aber auch das Resultat organisierten | |
| Handelns. Schließlich hatte er die erste Drohung erhalten, nachdem er auf | |
| seinem Blog ein Solidaritätsschreiben veröffentlicht hatte. Darin | |
| unterstützte er Cansu Özdemir, die im Juni mit einer Delegation in die | |
| kurdischen Gebiete im Nordirak fliegen wollte, [1][um angesichts der | |
| Eskalation Unterstützung vor Ort zu leisten.] | |
| Am Düsseldorfer Flughafen war sie jedoch von der Bundespolizei festgesetzt | |
| und an der Ausreise gehindert worden. Der Grund: „In der Mitteilung stand, | |
| dass die Delegation vorhabe, als ‚menschliche Schutzschilde der PKK‘ zu | |
| fungieren, und dass die Reise den deutsch-türkischen Beziehungen schaden | |
| würde“, sagte Özdemir später der taz über ein [2][Schreiben der | |
| Bundespolizei]. | |
| Im Juni und Juli 2021, jeweils kurz nach Erhalt der Drohnachrichten, geht | |
| Akbulut zur Polizei und erstattet Anzeige gegen unbekannt. Doch am 18. | |
| Oktober stellt die Staatsanwaltschaft die Verfahren ein. „Weitere | |
| Nachforschungen versprechen zurzeit keinen Erfolg“, heißt es in dem | |
| Schreiben. Akbulut sagt, am Telefon habe ihm der für seinen Fall zuständige | |
| Staatsschützer erklärt, sie gingen von einem Netzwerk außerhalb der EU aus | |
| und der türkische Staat werde ohnehin nicht kooperieren. | |
| Civan Akbulut ist eines von acht Kindern kurdischer Eltern, die 1991 aus | |
| der Südosttürkei nach Deutschland auswanderten. Akbulut hat als Erster | |
| Abitur gemacht, Notendurchschnitt 1,2. Bald möchte er Medizin studieren. | |
| Ein wenig Stolz klingt aus seiner Stimme, als er die Reporter:innen | |
| dazu einlädt, sich im kurdischen Vereinsheim umzuschauen. An den Wänden | |
| hängen etliche Porträts gefallener Kämpfer:innen, Fahnen und Symbole der | |
| kurdischen Bewegung. | |
| Wenn Akbulut über Politik spricht, verhärten sich seine Gesichtszüge. Dann | |
| spricht er lauter, tippt mit dem Zeigefinger energisch auf den Tisch. Als | |
| der IS im September 2014 die kurdische Stadt Kobanê in Syrien angriff, habe | |
| er sich politisiert. Da war er 14 Jahre alt. Als Jugendlicher fängt er an, | |
| politische Texte zu verfassen und auf einem Online-Blog zu veröffentlichen. | |
| Erst benutzt er ein Pseudonym, bis er im September 2020 als Teil der Linken | |
| für den Essener Integrationsrat kandidiert. „Da dachte ich mir, okay, wenn | |
| ich jetzt gewählt werde, dann let’s go.“ Heute spricht er auf prokurdischen | |
| Demos und organisiert Soli-Aktionen für seine Community. | |
| ## Auch ein deutsches Problem | |
| Oft heißt es hierzulande, die Menschen würden den Konflikt aus der Türkei | |
| und Kurdistan nach Deutschland importieren. Akbulut sagt: „Solange Menschen | |
| hier in Deutschland bedroht werden, weil sie kurdisch sind, ist das kein | |
| politisches Problem aus der Türkei, sondern eines in Deutschland.“ | |
| Seine These unterstützen auch die Arbeiten einiger Wissenschaftler, wie zum | |
| Beispiel die des Politik- und Sozialwissenschaftlers Kemal Bozay. In seiner | |
| Dissertation analysiert Bozay, wie deutsch-türkische Jugendliche der | |
| zweiten und dritten Generation im Kontext von Globalisierung und Migration | |
| reethnisiert und renationalisiert werden. Dabei handelt es sich vor allem | |
| um Anhänger:innen der Grauen Wölfe, über die im November 2020 eine | |
| Verbotsdebatte im Bundestag entbrannte. | |
| Die Ideologie dieser ultranationalistischen und rassistischen Bewegung | |
| reicht bis in die Zeit des Ersten Weltkriegs zurück. Im Zentrum der Grauen | |
| Wölfe stand einst eine vermeintliche Einheit aller „Turkvölker“. Ihr Ziel: | |
| Der Zusammenschluss dieser „Völker“ zu einem türkischen Großreich. Von d… | |
| 1950er bis in die 1980er Jahre erlangte die panturkistische Vision | |
| wachsende Beliebtheit unter Rechtsextremist:innen in der Türkei. | |
| Die Folge waren eine Serie von Gewalttaten und Morden, vor allem an | |
| Kommunist:innen und Kurd:innen, die neben Jüd:innen, Christ:innen | |
| und Armenier:innen als größtes Feindbild gelten. | |
| Der Politikwissenschaftler Kemal Bozay sagt, die antikurdische Stimmung in | |
| der Türkei, die sich durch die Koalition von Erdoğans AKP und der | |
| rechtsextremen MHP verschärft habe, strahle auch nach Deutschland in die | |
| migrantischen Communitys aus. „Dort entstehen ethnische Nischen, in denen | |
| gerade jungen Leuten Identitätsangebote gemacht werden“, erklärt Bozay am | |
| Telefon. | |
| Die sozialen Medien hätten dabei ein großes Mobilisierungspotenzial. In | |
| Deutschland mache man immer wieder den Fehler, sich „auf den einen | |
| Rechtsextremismus“ zu konzentrieren, und vernachlässige dabei den | |
| migrantischen. | |
| Nach und nach gehen immer mehr Opfer via Twitter an die Öffentlichkeit, die | |
| Civan Akbuluts Schicksal teilen. Unter ihnen der Aktivist und | |
| Kommunikationswissenschaftler Kerem Schamberger aus München. Auch er erhält | |
| Drohnachrichten von demselben Absender wie Akbulut. Schamberger hat sich in | |
| den vergangenen Jahren in den sozialen Medien einen Namen als Beobachter | |
| und Kommentator der Ereignisse in den kurdischen Gebieten und der Türkei | |
| gemacht. | |
| Auch er ist politisch eher auf lokaler Ebene aktiv. Und auch in seinem Fall | |
| seien die Ermittlungen eingestellt worden, sagt er der taz. Akbulut, | |
| Schamberger, Özdemir und weitere Opfer solidarisieren und vernetzen sich, | |
| und sie stellen eigene Recherchen zu dem Täter an. | |
| ## Täter lebt Tausende Kilometer entfernt | |
| In einem anderen Fall unterstützt die Abteilung Cybercrime des | |
| Bundeskriminalamts (BKA) die Polizei bei den Ermittlungen. Im Juni kommen | |
| die Beamt:innen zu einem überraschenden Ergebnis. Eine Überprüfung der | |
| IP-Adresse des Absenders der Drohnachrichten ergibt: Die Nachrichten wurden | |
| von der zentralanatolischen Stadt Kayseri versendet. Ein entsprechendes | |
| Schreiben der Behörde liegt der taz vor. | |
| Die Gruppe um Akbulut und Schamberger erfährt von dem Ermittlungsergebnis. | |
| Sie wissen nun zumindest, dass sich der Täter vermutlich dauerhaft in der | |
| Türkei aufhält – und nicht in Deutschland. | |
| Am 24. November erhält Kerem Schamberger die Drohungen plötzlich nicht mehr | |
| von einem anonymen Account. Die verbalen Angriffe, „Kerem, früher oder | |
| später wirst du in das Flugzeug steigen“ oder „Es gibt kein Verstecken | |
| mehr“, samt Fotos bekommt er jetzt von einem Account mit dem Namen | |
| „teknotell_kayseri“ geschickt. Eine Recherche von Schamberger ergibt, dass | |
| „Teknotell“ ein Handyladen im Bezirk Kocasinan in Kayseri ist. Der Laden | |
| befindet sich in der Nähe des Bezirks Talas, den das BKA als Herkunftsort | |
| der Drohnachrichten identifizieren konnte. | |
| Schamberger dokumentiert die Drohungen und ein Foto, das er auf dem Profil | |
| des Täters findet. Darauf ist ein Mann mit kahlem Kopf und grauem | |
| Sweatshirt zu sehen, der vor einer in die Wand eingearbeiteten | |
| dreidimensionalen Türkeifahne an einem Schreibtisch sitzt und in die Kamera | |
| grinst. In der Bildunterschrift gratuliert der Mann zwei | |
| Parlamentsabgeordneten der rechtsextremen MHP. „Selahattin Demirtaş ist ein | |
| Terrorist“ steht außerdem unter dem Foto. Gemeint ist der ehemalige | |
| Co-Vorsitzende der prokurdischen HDP, der seit 2016 in Haft sitzt. | |
| Warum agiert der bisher anonyme Absender nun von einem identifizierbaren | |
| geschäftlichen Account, mit Foto? Hat er sich ungewollt enttarnt, weil er | |
| vergessen hat, die Instagram-Accounts zu wechseln? Oder tat er es bewusst, | |
| weil er davon überzeugt ist, keine Konsequenzen fürchten zu müssen? | |
| Die taz konnte den Absender identifizieren. Der Mann heißt Tayfun K.* und | |
| betreibt den kleinen Handyladen auf dem Sivas-Boulevard, einer mehrspurigen | |
| Hauptstraße im Zentrum Kayseris. Eine Meldeadresse von Tayfun K., die die | |
| taz recherchiert hat, befindet sich in Talas, jenem Stadtteil von Kayseri, | |
| auf den das BKA bei der Überprüfung der IP-Adresse gestoßen ist. | |
| Mithilfe von Tayfun K.s Handynummer, die die taz ebenfalls herausgefunden | |
| hat, kann man seine Profilbilder auf den Messengern Whatsapp und Telegram | |
| einsehen. Sie stimmen mit dem Foto des Mannes auf dem Teknotell-Account | |
| überein. Sein Name taucht auf der offiziellen Website des | |
| Mobilfunkanbieters Vodafone auf, wo er als Dienstleister gelistet wird. Auf | |
| der Plattform LinkedIn gibt er an, Elektrotechniker zu sein. | |
| ## Das Telefonat mit Tayfun K. | |
| Die taz ruft Tayfun K. an, konfrontiert ihn mit den Drohnachrichten von den | |
| verschiedenen Accounts und fragt, ob er allein handelt oder mit anderen | |
| zusammen. Er räumt ohne Umschweife ein, der Absender der Nachrichten zu | |
| sein. „Von Geburt an“ sei er ein „Idealist“, also ein Grauer Wolf, geh�… | |
| jedoch keiner politischen Partei an. | |
| Tayfun K. redet viel und schnell, er wird wütend, wenn er über die | |
| „falschen Türken“ in Deutschland spricht, die hierher geflüchtet seien, um | |
| mit ihrem vermeintlich antitürkischen Aktivismus seinem Land aus der | |
| Entfernung zu schaden. Er sehe es als seine Pflicht an, dem | |
| entgegenzuwirken – mit Morddrohungen auf Instagram. | |
| Auf die Frage, wie Tayfun K. seine Opfer auswählt und ob er mit anderen | |
| zusammenarbeitet, reagiert er ausweichend. Zum Teil suche er die Empfänger | |
| seiner Drohnachrichten selbst aus. Die taz findet heraus, dass seine | |
| Telefonnummer mit einem Facebook-Account namens „Ramazan Kılıç“ verknüp… | |
| ist. Der Name ist ein Allerweltsname in der Türkei, vermutlich ein | |
| Pseudonym. | |
| Der Account hat nur ein Profilfoto und erweckt insgesamt den Eindruck eines | |
| Fake Accounts. Auffällig ist: „Ramazan Kılıç“ hat fast ausschließlich | |
| Seiten gelikt, die entweder politisch links verortet sind oder der | |
| kurdischen Bewegung nahestehen. Auch welche aus Deutschland. | |
| Nutzt Tayfun K. das gefälschte Facebook-Profil, um potenzielle Opfer für | |
| seine Drohnachrichten zu finden? Ein Indiz dafür ist, dass Kılıç | |
| Facebook-Seiten gelikt hat, die auch Kerem Schamberger und Civan Akbulut | |
| gefallen. Eine der Seiten hat Posts von Schamberger geteilt. | |
| Auf den Account angesprochen, bestreitet Tayfun K., ihn zu betreiben. Bei | |
| der Beantwortung der Frage, ob er Kompliz:innen habe, bleibt er vage. Er | |
| pflege Kontakte zu den „Grauen Wölfen“ in Deutschland, auch zum islamischen | |
| Dachverband der Moscheen, Ditib. Genauer wird er nicht, doch er bemüht sich | |
| darum, dass man glaubt, er sei Teil eines Netzwerks. | |
| Ist Tayfun K. „nur“ ein virtueller Troll, dessen Aktionen sich auf das | |
| Internet beschränken? Oder folgen aus seinen Online-Drohungen gewollt oder | |
| ungewollt tätliche Angriffe, wie auf den Lokalpolitiker Civan Akbulut oder | |
| den Journalisten und taz-Autor Erk Acarer? [3][Im Juli 2021 wurde Acarer im | |
| Eingang seines Berliner Wohnhauses von zwei Männern zusammengeschlagen], | |
| von mutmaßlichen Anhängern der Grauen Wölfe. | |
| Die Ermittlungen laufen noch. Nicht auszuschließen ist, dass die Täter ohne | |
| direkten Auftrag handelten und sich von Postings, wie jenen von Tayfun K., | |
| dazu ermutigt fühlten. | |
| Auch Tayfun K. macht deutlich, dass er bald über die Drohungen hinaus zur | |
| Tat schreiten könnte. Obwohl K., wie er sagt, schon „seit Jahren kämpfe“, | |
| sei er bisher weder von deutschen noch von türkischen Behörden belangt | |
| worden. Er ist überzeugt davon, dass er von der gegenwärtigen Regierung in | |
| der Türkei nichts zu befürchten hat. | |
| Er sagt, auch die deutsche Regierung könne seine Opfer nicht beschützen. | |
| Dass er sich nicht einmal mehr hinter Fake-Profilen versteckt, sondern | |
| offen agiert, zeigt noch mal mehr, wie sicher er sich fühlt. | |
| ## Auch Politiker:innen in der Türkei betroffen | |
| Tayfun K. beschränkt sich bei seinen Morddrohungen nicht auf Deutschland. | |
| Mit wechselnden anonymen Accounts hat er auch Politiker:innen und | |
| Journalist:innen in der Türkei bedroht. Die ersten Drohungen, die der | |
| taz vorliegen, gehen auf den März 2020 zurück. Ein Account von Tayfun K. | |
| verschickte damals den Satz „Der Tod wird dich finden“ gemeinsam mit Fotos | |
| von einer Handfeuerwaffe und einem türkischen Pass. | |
| Die Empfänger:innen waren Parlamentsabgeordnete der prokurdischen HDP, | |
| die von Teilen der Erdoğan-Regierung schon lange als „Terroristen“ | |
| denunziert werden. | |
| Auch der kurdischstämmige Journalist Hayri Demir hat im Oktober 2020 | |
| Drohungen erhalten und Anzeige erstattet. Die Drohungen kamen von Tayfun | |
| K.s Accounts. Ein kurzes Schreiben, das Demir von der Staatsanwaltschaft im | |
| April 2021 erhalten hat, zeigt, wie die staatlichen Behörden in der Türkei | |
| mit dem Fall umgehen. | |
| Die Staatsanwaltschaft schreibt, dass die zuständigen Behörden trotz aller | |
| Untersuchungen die Identität und die Adresse des Nutzers nicht herausfinden | |
| konnten, da diese nicht öffentlich zugänglich seien. Deshalb seien keine | |
| weiteren Ermittlungen möglich. Um die benötigten Informationen zu erhalten, | |
| müssten türkische Behörden die USA, also den Sitz des Unternehmens Meta, zu | |
| dem Instagram gehört, um Hilfe bitten. | |
| Die USA würden aber nur auf Anfragen antworten, in denen es um „Anstiftung | |
| zum Suizid, Kindesmissbrauch oder Terror“ gehe. Demirs Anwalt hat Einspruch | |
| eingelegt, jedoch erfolglos. Demir glaubt, dass die Einstellung des | |
| Verfahrens Tayfun K. weiter ermutigen wird. | |
| ## Wenn aus Drohungen Angriffe werden | |
| Auch die HDP-Abgeordnete Dirayet Taşdemir, die ebenfalls von Tayfun K. | |
| bedroht wurde, denkt das. Und sie übt scharfe Kritik an den | |
| Regierungsparteien AKP und MHP. Jeden Tag drohten diese öffentlich den | |
| Parteimitgliedern der HDP und ermutigten damit auch ihre Basis dazu, es | |
| ihnen gleichzutun. Sie sagt: „Früher, in den 1990ern, war der Staat noch | |
| darum bemüht, solche Aktivitäten zu verschleiern und es gab so etwas wie | |
| ‚Jitem‘. Heute braucht es so eine Organisation nicht mehr. Heute wird offen | |
| gehandelt.“ | |
| Was Taşdemir beschreibt, zeigen auch zwei Vorfälle, die sich 2021 | |
| ereigneten: Am 17. Juni greift ein 27-Jähriger das Parteigebäude der HDP in | |
| Izmir an und tötet Deniz Poyraz, deren Familienmitglieder für die HDP | |
| arbeiten. Der Täter teilt daraufhin ein Foto ihres blutüberströmten Körpers | |
| in den sozialen Medien und stellt sich 40 Minuten später der Polizei. Bei | |
| seiner Vernehmung sagt er der Staatsanwaltschaft, dass er den Angriff | |
| eigenständig geplant habe, eigentlich mehr Menschen habe töten wollen und | |
| ihn begangen habe, weil er die PKK hasse. | |
| Ein weiterer Angriff gegen die HDP hat sich in den letzten Tagen von 2021 | |
| ereignet. Ein Mann betritt ein HDP-Gebäude in Istanbul und gibt an, | |
| Parteimitglied werden zu wollen. Den Tee, den man ihm serviert, schleudert | |
| er auf die Menschen, die ihn empfangen. Dann geht er bewaffnet auf sie los | |
| und verletzt eine Person. | |
| Der Angreifer wird später gefasst, am 3. Januar aus der Untersuchungshaft | |
| entlassen, vor Kurzem allerdings wieder festgenommen. | |
| HDPler:innen, die mit einer Presseerklärung zunächst gegen die Freilassung | |
| protestierten, wurden von der Polizei unter Anwendung von Gewalt | |
| festgenommen. Auch dieser Vorfall zeigt, wie die Regierung zur HDP oder zu | |
| linksgerichteten Personen zu stehen scheint: Die Täter werden eher | |
| geschützt, die Opfer bestraft. | |
| ## Die Behörden bleiben untätig | |
| Bei den taz-Recherchen bleibt offen, ob Tayfun K. allein oder als Teil | |
| eines Netzwerks agiert, das möglicherweise bis nach Deutschland reicht. | |
| Offen bleibt auch, ob es in Deutschland Personen gibt, die ihm zuarbeiten. | |
| Das Bundeskriminalamt möchte sich auf Anfrage nicht zu möglichen | |
| Ermittlungsverfahren in dem Fall äußern. | |
| Allerdings gab es in den vergangenen Jahren immer wieder Diskussionen über | |
| türkische Geheimdienstaktivitäten in Deutschland, in denen es auch um die | |
| Weitergabe von Personeninformationen ging. Eine Antwort der Bundesregierung | |
| auf eine Kleine Anfrage der Linken-Politikerin Sevim Dağdelen vom 28. | |
| Dezember 2021 dazu hat ergeben, dass der Generalbundesanwalt im Jahr 2021 | |
| sechs Verfahren wegen des Verdachts der geheimdienstlichen Agententätigkeit | |
| türkischer Nachrichtendienste eingeleitet hat. Im Jahr 2020 waren es vier. | |
| In keinem der Fälle ist bisher Anklage erhoben worden. | |
| Civan Akbulut fühlt sich in Essen nicht mehr sicher. Im Sommer 2021, nach | |
| der zweiten Drohung auf Instagram, kauft er sich Pfefferspray. Mittlerweile | |
| hat er eine neue Wohnung bezogen, für die er eine Meldesperre einrichten | |
| lassen will, damit fremde Personen keine Auskünfte über seinen Wohnort | |
| einholen können. | |
| Doch wie kann es sein, dass Tayfun K. so offen und ungeniert auftreten | |
| kann, ohne von den deutschen und türkischen Behörden belangt zu werden? | |
| Solange die Behörden nicht handeln, sind Akbulut und andere linke und | |
| kurdische Politiker:innen, Aktivist:innen und Journalist:innen | |
| weiterhin dem rechten Terror ausgesetzt. | |
| Am 3. Januar postet Tayfun K. ein letztes Mal, bevor der Account seines | |
| Handyladens Teknotell offline geht. Es ist wieder eine | |
| Schwarz-Weiß-Aufnahme des Rechtsextremisten und mutmaßlichen Mörders Mahmut | |
| Yıldırım aka Yeşil. In der Bildunterschrift gratuliert Tayfun K. ihm zum | |
| Geburtstag. Getaggt sind die Linkenpolitiker:innen Cansu Özdemir, | |
| Kerem Schamberger und der Journalist und taz-Autor Erk Acarer. | |
| Mitarbeit: Sebastian Erb | |
| *Der volle Name von Tayfun K. ist der Redaktion bekannt. | |
| 15 Jan 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Linken-Abgeordnete-ueber-ihre-Festsetzung/!5774917 | |
| [2] https://twitter.com/cansuoezdemir/status/1403676248182767616 | |
| [3] /Attacke-auf-tuerkischen-Journalisten/!5780835 | |
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| Nora Belghaus | |
| Ali Çelikkan | |
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