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# taz.de -- Ex-Botschafter zur Lage in Kasachstan: „Kampf gegen superreiche E…
> Quasi über Nacht ist Kasachstan in eine politische Krise gestürzt.
> Ex-Botschafter Arman Melikyan über die Gründe für die Unruhen – und wie
> es weitergehen könnte.
Bild: „Es herrschen Chaos und Ungewissheit“: Kasachische Truppen am Mittwoc…
taz: Herr Melikyan, Massenproteste, der Rücktritt der Regierung, ein
landesweiter Ausnahmezustand und gewaltsame Zusammenstöße mit Dutzenden
Toten – [1][quasi über Nacht ist Kasachstan in eine tiefe politische Krise
gestürzt]. Hat Sie diese Entwicklung überrascht?
Arman Melikyan: Allenfalls der Umstand, dass die Situation offenbar außer
Kontrolle geraten ist. Doch das Szenario an sich war vorhersehbar, das
Terrain war dafür bereitet.
Inwiefern?
In den dreißig Jahren seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 und der
Unabhängigkeit Kasachstans hat sich die Kluft zwischen Arm und Reich enorm
vergrößert. Hass und Wut auf den ehemaligen Präsidenten Nursultan
Nasarbajew und sein Umfeld haben ein extremes Ausmaß erreicht. Dieser Hass
kommt auch in den jetzigen Demonstrationen zum Ausdruck, wenn zum Beispiel
Menschen die Statuen von Nasarbajew zertrümmern.
Ist die Zivilgesellschaft endlich aufgewacht?
Ich würde das anders ausdrücken: Was wir sehen, ist ein Kampf der armen
Kasach*innen gegen eine superreiche Elite. Es herrschen eine klare
Hierarchie und ein Wettbewerb innerhalb der kasachischen Stammes- und
Clanstruktur, sowohl im Alltag als auch in der Politik Kasachstans
generell. Auch die wirtschaftlichen Hebel liegen in den Händen der Clans.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass die Demonstrationen, zumindest aus
der Sicht der Beteiligten, einen nationalen, das heißt einen ethnisch
kasachischen Hintergrund haben. Und das, obwohl Kasachstan ein
multinationaler Staat ist. Es gibt ein großes Potenzial, dass der
nationalistische Faktor noch mehr Gewicht bekommen wird.
Können Sie das etwas genauer erklären?
Nach offiziellen Angaben sind über zwanzig Prozent der Bevölkerung
russischsprachige Christ*innen. Die Vertretung dieser Bevölkerungsgruppe
im Staatsapparat ging gegen null. Nationale Minderheiten sind vom
politischen Leben ausgeschlossen. Das hat bei ihnen zu einem tiefen
Misstrauen gegenüber dem Staat geführt, auch was ihre Zukunftsperspektiven
angeht. Viele Vertreter*innen dieser Minderheiten sind bereits
ausgewandert. Dieser Trend könnte sich noch verstärken, wenn, bedingt durch
die aktuelle Radikalisierung, die Verfolgung zunimmt. Dazu könnten auch
russische, belarussische oder armenische Militäreinsätze beitragen.
Sie meinen die von Moskau geführte Organisation des Vertrags über
kollektive Sicherheit (OVKS), die Militäreinheiten auf Wunsch von Präsident
Kassym-Schomart Tokajew geschickt hat, um den Mitgliedstaat vor einer
„terroristischen Bedrohung“ zu schützen. Welche Konsequenzen könnte diese
Entscheidung haben?
Das ist eine politische Entscheidung, die in Moskau, jedoch mit
Einwilligung der kasachischen politischen Eliten getroffen wurde. Da das
Land über ein riesiges Territorium verfügt, bleibt offen, wie groß das
Militärkontingent ist, das nach Kasachstan geschickt wird und wo die
Truppen eingesetzt werden. Eine der wichtigsten Fragen ist, was sie dort
eigentlich genau tun sollen. Die Konsequenzen sind nicht abschätzbar. Doch
eins ist jetzt schon klar: Die Entscheidung der OVKS, Truppenkontingente
nach Kasachstan zu entsenden, kann zu einem destabilisierenden Faktor in
der ganzen Region werden.
Könnte Russland mit solchen Aktionen versucht sein, die volle Kontrolle
über Kasachstan zu übernehmen?
Wenn Russland auf diese Weise Kasachstan an sich binden will, dann halte
ich diese Entscheidung für falsch. Moskau wird dadurch nur einen
gegenteiligen Effekt erreichen. Das wird antirussische Stimmungen
hervorrufen und zu antirussischen Aktionen im Land führen.
Belarus ist auf dem besten Wege, sich mit Russland in einen Unionsstaat
zusammenzuschließen. Schon jetzt ist Präsident Alexander Lukaschenko
komplett von Moskau abhängig. Halten Sie ein ähnliches Szenario in
Kasachstan für wahrscheinlich?
Diese Möglichkeit halte ich nicht für realistisch, denn die Realität in
Kasachstan ist eine andere, vor allem was das ökonomische Potenzial des
Landes betrifft. Aber es gilt noch eine Sache zu bedenken. In Kasachstan
ist deutlich zu erkennen, dass die Türkei im Begriff ist, an die Stelle
Russlands zu treten. Die alte politische Garde, die in Kasachstan gegen
Ende der Sowjetzeit an die Macht gekommen ist, darunter auch der Clan
Nasarbajews, tritt allmählich zur Seite. Die junge Generation hat jedoch
nichts mehr mit der russischen Welt zu tun. Viele junge Leute wurden in der
Türkei oder an den türkischen Hochschulen in Kasachstan und anderen Städten
Zentralasiens ausgebildet. Nein, die Russen sind nicht in der Lage, die
volle Kontrolle über Kasachstan zu erlangen. Übrigens glaube ich auch
nicht, dass Moskau dieses Ziel anstrebt. Falls doch, besteht die Gefahr,
dass Kasachstan zu einem zweiten Afghanistan wird.
Wie schätzen Sie die Rolle des Nachbarlandes China ein?
China könnte Interesse daran haben, dass Kasachstan in einem Chaos
versinkt. Nehmen wir beispielsweise die Infrastruktur. Die einzige
Eisenbahnverbindung Chinas mit den Ländern Zentralasiens führt über das
Territorium Kasachstans. Aber jetzt einzugreifen, ist auch keine Option.
Denn das könnte antichinesische Stimmungen, die schon jetzt vorhanden sind,
nicht nur befeuern, sondern zum Explodieren bringen, und das in der
gesamten Region. Daher denke ich, dass Peking versuchen wird, neutral zu
bleiben.
Wagen Sie eine Prognose – wie könnte es in Kasachstan weitergehen? Halten
Sie es für möglich, dass unter Präsident Tokajew wieder Normalität
einkehrt?
Es herrschen Chaos und Ungewissheit. Es fehlen Anführer*innen aufseiten
der Demonstrierenden, mit denen die Regierung verhandeln könnte, um die
Situation zu beruhigen. Daher liegt die Initiative für einen politischen
Wandel weiter in Tokajews Händen. Allerdings bezweifle ich, dass er die
Probleme lösen kann.
Also lautet die Alternative, weiteres Blutvergießen in Kauf zu nehmen …
Zumindest scheint es, dass der erbitterte Kampf weitergeht. Es wird weitere
Opfer geben, viele Opfer. Und die Opfer sind eine Art Zündstoff, um die
Konfrontation zu intensivieren und zu verlängern. Auch wenn [2][die
Zusammenstöße mit den Militäreinheiten] vorübergehend aufhören, bedeutet
dies nicht, dass das Land befriedet ist. Dabei gibt es einen wichtigen
Faktor: Wir sehen, dass sich viele kasachische Militär- und Polizeikräfte
offen auf die Seite der Demonstrant:innen stellen. Andere haben noch
nicht die Seiten gewechselt, sympathisieren jedoch mit den Protesten. Das
zeigt: Der Einmarsch ausländischer Truppen wäre nicht notwendig gewesen,
wenn die inneren Sicherheitskräfte der kasachischen Regierung treu ergeben
geblieben wären.
9 Jan 2022
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## AUTOREN
Tigran Petrosyan
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