# taz.de -- Ein Jahr nach der Attacke aufs Kapitol: Mär vom gestohlenen Land | |
> Die Attacke auf das Kapitol war Ausdruck einer Verbitterung. Noch immer | |
> wirken die, die sich ihr Land zurückholen wollen, als disruptive Kraft. | |
Bild: Boston am 5. Januar 2022: der junge Mann wünscht sich eine Wiederwahl vo… | |
Vor einem Jahr neigte sich das Delirium der [1][Trump-Präsidentschaft], | |
jene große Blamage der amerikanischen Nation, ihrem Ende zu. Zuvor hatten | |
wir quälende Wochen durchlebt, in denen Trumps Helfershelfer immer neue | |
ebenso absurde wie aussichtslose Klagen gegen die Wahlergebnisse | |
anstrengten. Darunter Rudy Giuliani, der zwischen einem Porno-Buchladen und | |
einem Gartencenter eine Pressekonferenz abhielt, bei der ihm schwarze | |
Haarfärbetinktur das Gesicht herablief. | |
Mir fiel es lange schwer, die vier Jahre von Trumps Herrschaft per | |
Massenkundgebung ernst zu nehmen. Am 6. Januar schalteten die TV-Stationen | |
nach Trumps Rede zum [2][Kapitol] um, zu dem Hunderte seiner Anhänger | |
strömten. Ich ging davon aus, dass die Dinge aus dem Ruder laufen würden – | |
doch am Ende würden sie alle von der Polizei vertrieben werden. Verblüfft | |
verfolgte ich dann, wie die Menge die Polizisten überwältigte und mit | |
Knüppeln auf sie eindrosch, Metallbarrieren und kugelsichere Glastüren | |
durchbrach und durch die Gänge im Kapitol zog, Akten durchwühlte und Jagd | |
auf Kongressmitglieder machte, die im Labyrinth von Zimmern und Tunneln | |
sichere Orte suchten. Ein einsamer Reporter hockte verborgen in einem | |
Winkel und konnte hinterher alles berichten. | |
700 Teilnehmer wurden für ihre Beteiligung an dem Angriff angeklagt. Nicht | |
alle gehörten extremistischen Gruppen wie den Proud Boys an oder waren | |
Anhänger von QAnon. Es waren auch normale Bürger:innen, Armeeveteranen, | |
Geschäftsleute, die überzeugt waren, dass man Donald Trump den Wahlsieg | |
gestohlen hatte. Als ob es wahr würde, wenn man es immer wieder behauptet. | |
Trotz der fünf Todesopfer am 6. Januar weigern sich die Republikaner, zur | |
Aufklärung der Frage beizutragen, ob Trump bewusst die heiligen Regeln des | |
Kongresses brechen wollte, um an der Macht festzuhalten. | |
Dies ist der Punkt, an dem die aktuellen Entwicklungen in meinen Augen eine | |
echte Gefahr bilden: „Es ist so, weil ich es sage“ ist eine Fortsetzung des | |
Autoritarismus, mit dem Trump sein Amt geführt hat und den die | |
[3][Republikaner] zu ihrem Programm gemacht haben. Teilnehmer:innen an | |
der Attacke auf das Kapitol zeigen in Interviews keine Reue. Ihre Aktionen | |
waren Ausdruck ihrer Verbitterung darüber, dass man sie übersehe. Sie | |
wollen sich nicht damit abfinden, dass ihr Land sich in eine falsche | |
Richtung bewege, mit zu offenen Grenzen, mit einer Gesellschaft, in der | |
Hautfarben und Gender fließend sind, in der angebliche Traditionen und | |
Werte bedroht sind, die doch nur sie für wichtig galten. Sie unterstellen | |
den linken Kräften, alles zu kontrollieren. Der Republikaner Peter Meijer, | |
der einen Kongressdistrikt in Michigan vertritt, sieht bei ihnen | |
„Aufstandsneid“ als Reaktion auf die Black-Lives-Matter-Proteste. | |
Mir sind in unserer Hauptstadt Landsleute begegnet, die für eine Demo | |
angereist waren und mit ihren Flaggen für Gott und Vaterland in der U-Bahn | |
unterwegs waren. Sie kamen sich fühlbar höchst fremd in dieser Umgebung vor | |
und wagten nicht einmal, den freien Sitz neben mir in Anspruch zu nehmen. | |
Sie taten mir fast leid. Sie sind zum Jahrestag des Angriffs auf das | |
Kapitol nicht zurückgekehrt, aber sie bleiben überall im Land eine | |
disruptive Kraft, sammeln Anhänger und strömen zu Treffen von Schulbeiräten | |
und Stadtverwaltungen, schimpfen auf Lehrpläne und Maskengebote und schüren | |
den Zorn nicht nur auf eine gestohlene Wahl, sondern auf jene, die ihnen | |
ihr Land weggenommen haben, das sie sich nun zurückholen wollen. | |
Aus dem Englischen [4][Stefan Schaaf] | |
8 Jan 2022 | |
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## AUTOREN | |
Brenda Wilson | |
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