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# taz.de -- Honigsüß und öde: Das Gefühl des Getragenwerdens
> Das Schöne im Leben ist: Nichts Schlimmes bleibt für immer. Das Schlimme
> im Leben ist: Nichts Gutes bleibt für immer.
Bild: Kinder werden ihre Eltern hoffentlich irgendwann in Frage stellen
Das Schöne im Leben ist ja: Nichts Schlimmes bleibt für immer. Das hat mir
das vergangene Jahr gezeigt: Wehen dauern maximal ein, zwei Tage, in
Nächten ohne Schlaf hab ich mich selbst damit bei Laune gehalten, dass
meine Tochter in nur wenigen Jahren ihre Kinderzimmertür zuschmettern wird,
weil sie ihre Ruhe möchte.
Das Schlimme im Leben ist: Nichts Gutes bleibt für immer. Meine Tochter
wird uns nicht immer bedingungslos lieben, sie wird uns – hoffentlich! –
irgendwann infrage stellen, aber vielleicht auch einfach uninteressant
finden.
Ob sie später mal einen Grund sieht, uns anzurufen, außer dem, dass wir
ihre Eltern sind, ist nicht sicher. Es wird davon abhängen, ob wir es
schaffen, eine Bindung zu ihr aufzubauen, die über das Begleiten auf dem
Weg in ihr eigenes Leben hinausgeht. Vielleicht auch davon, ob wir übers
Elternsein hinaus interessante Menschen bleiben, mit denen sie sich gerne
unterhält.
Aber auch andere schöne Gefühle vom letzten Jahr – etwa, dass die Ära Trump
endlich vorbei ist – waren natürlich flüchtig. Schon zum ersten Jahrestag
des Sturms seiner Anhänger aufs Kapitol rüttelt auch die Sorge schon wieder
an den inneren Bewusstseinabsperrungen, dass er in drei Jahren noch einmal
US-Präsident werden könnte.
## Schwurbler und Verschwörungsanhänger
Und selbst wenn nicht, sind seine Anhänger mit ihm nicht verschwunden. So
wie die Schwurbler und Verschwörungsanhänger hierzulande nicht verschwinden
werden, wenn die Pandemie abflaut. Was sie mit den Trump-Fans verbindet,
ist ein tiefes Misstrauen in den demokratischen Staat, gerne mystifizierend
umschrieben als „die Eliten“.
Warum Menschen, wann immer dieser Staat etwas tut, das nicht in ihre
persönliche Lebensanschauung passt, sich gleich gegängelt und manipuliert
fühlen und sich zum antiautoritären Widerstand gezwungen sehen (gegen ein
System, das ihnen genau diesen Widerstand in fast jeder Form erlaubt, sogar
Massendemos mitten in einer Pandemie), ist eher eine Frage für
Psychotherapeuten.
Manchmal wünsche ich mir, es gäbe tatsächlich Therapien für ganze
gesellschaftliche Gruppen, die narzisstischen [1][Hyper-Individualismus]
und antisoziales Verhalten genauso behandeln könnten wie kollektive
Traumata oder Schuldabwehr und -umkehr. Bitte nicht falsch verstehen, liebe
Impfgegner, dabei ginge es, wie in jeder normalen Therapie auch, nicht
darum, euch zu leicht regierbaren Bürgern zu machen, sondern lediglich
darum, die Verantwortung für ein gutes Leben in der Gesellschaft bei euch
selbst zu suchen.
Also: Meinetwegen lasst euch nicht impfen, aber lebt dann mit den
Konsequenzen, etwa keine Restaurantbesuche. So wie jeder sich für oder
gegen alles entscheiden kann. Nur halt ohne erwarten zu können, dass der
Staat oder Mama und Papa oder der Partner die unbequemen Folgen abpuffert
und applaudiert. Wär doch öde, wenn das Leben der immerselbe Fluss aus
Milch und honigsüßem Getragenwerden bliebe, das es als Kind ist.
## Ausmaß des linken und postkolonialen Antisemitismus
Ein bisschen findet sich diese Trag-mich-Haltung auch in den an- und
abflauenden Debatten, denen man als Journalist hinterherhechelt. Gerade
wieder zu beobachten an der wahrscheinlich noch weiter anflauenden Debatte
über das vom Kuratorenkollektiv der documenta 15 ruangrupa eingeladenen
palästinensischen Künstlerkollektivs The Question of Funding. Das wurde,
allerdings bislang nur in einem anonymen Blogbeitrag des Kasseler
Bündnisses gegen Antisemitismus, als antisemitisch kritisiert.
Ob was dran ist – also ob das Kollektiv oder Teile von ihm – zum Beispiel
tatsächlich das Existenzrecht des jüdischen Staates nicht anerkennen oder
eben nur die Besatzung kritisieren, wird erst mal ernsthaft zu prüfen sein.
Auf beiden Seiten werden Leute jeden Widerspruch unerträglich finden und am
Ende wird wieder keine neue Erkenntnis über das Ausmaß des linken und
postkolonialen [2][Antisemitismus] stehen.
Ich hoffe so lange einfach, dass ich es immer schaffe, meiner Tochter
zuzuhören, ganz gleich wie sehr sie rebelliert und wie sehr mich ihre
Ansichten oder ihr Verhalten in den Wahnsinn treiben werden.
17 Jan 2022
## LINKS
[1] /Individualismus-in-der-Coronakrise/!5679418
[2] /Antisemitismus-in-Deutschland/!5812743
## AUTOREN
Ariane Lemme
## TAGS
Antisemitismus
Donald Trump
Verschwörungsmythen und Corona
Kolumne Der rote Faden
Kindererziehung
Documenta
Schwerpunkt USA unter Trump
Verschwörungsmythen und Corona
Documenta
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