# taz.de -- Ausbeutung bei Lieferdiensten: Uneasy Rider | |
> Fünf Monate arbeitete unsere Autorin als Fahrerin beim | |
> Lebensmittel-Lieferdienst Flink. Nicht nur ihr Handy ist dabei kaputt | |
> gegangen. | |
Bild: Es ist Knochenarbeit | |
Ein Tag im Oktober 2021, Arbeitsbeginn 17 Uhr. Mit Herzklopfen fahre ich | |
auf den Laden zu. Die knallpinken Schaufenster wirken auf mich inzwischen | |
wie ein Warnsignal. Meine Hände sind feucht, als ich mein Fahrrad absperre, | |
meine Ohren spannen sich an. Am Eingang stehen bereits zwei große | |
viereckige Rucksäcke in pink mit dem silbernen Logo „FLINK“, darauf ein | |
kleines Post-it mit einem Namen. Eine neue Bestellung. Ich schlängele mich | |
durch Fahrräder und Palettenwagen voller Lebensmittel, ständiges | |
Handy-Gebimmel weist auf immer neue Bestellungen hin. Ich logge mich im | |
Ladensystem ein, miete mir ein E-Bike, schnappe mir einen Helm, nehme mir | |
einen der Rucksäcke am Eingang und düse genervt wieder los. | |
So unmotiviert und beinahe panisch war ich nicht immer. Als ich im | |
vergangenen Mai den Minijob bei Flink begann, einem Online-Supermarkt mit | |
Direktauslieferung, war ich durchaus guter Dinge. Ein Freund hatte mir die | |
Stelle empfohlen: Die Menschen seien cool drauf, es werde sich um die | |
Mitarbeitenden gekümmert, und kleine Gimmicks, wie mal übrig gebliebene | |
Lebensmittel mitnehmen, seien auch drin. Außerdem konnte ich flexibel meine | |
Schichten einteilen, es wurde Sommer und ich fahre sehr gern Fahrrad – so | |
why not? | |
Bei Flink gibt es – ähnlich wie beim direkten Wettbewerber Gorillas, der | |
zuletzt immer wieder [1][wegen schlechter Arbeitsbedingungen in der Kritik | |
stand] – „Picker“, „Rider“ und „Hubmanager“. Kommt eine Bestellun… | |
klingelt das Handy der Picker. Sie holen die Ware aus insgesamt zig | |
Regalen, Tiefkühlschränken und Kühlschränken und packen sie in einen | |
Rucksack. In der Zwischenzeit zeigt die App den Ridern eine neue Lieferung | |
an, eine:r von ihnen schnappt sich den Rucksack und fährt zur angegebenen | |
Adresse. Alles in zehn Minuten, so das Produktversprechen. Vor Ort wird der | |
Empfang bestätigt, dann geht es zurück. | |
Ich bewarb mich auf einen Rider-Job in Hamburg. In unserem Hub, so werden | |
die Warenlager genannt, war es von Anfang an chaotisch. Die zwei Meter | |
hohen Palettenwagen mit neuen Waren standen ständig im Weg. Anfangs waren | |
wir überbesetzt, konnten nur warten. Drinnen war es stickig, also tummelten | |
wir uns auf dem Hof, zwischen knapp 30 Rädern. Doch das war okay. Wir | |
erzählten von unseren Fahrten und das Einzige, worüber wir uns ärgern | |
mussten, waren die Kund:innen, die kein Trinkgeld gaben. Wir lachten über | |
Leute, die eine Packung Klopapier bestellten, und freuten uns über das Obst | |
und Gemüse, das wir abends mit nach Hause nehmen durften. | |
Diese Stimmung hielt nicht lange. Nervig wurde es, als im Juli auf einmal | |
der Hub verschwunden war. Ich hatte ein paar Tage frei gehabt, war an die | |
alte Adresse gefahren, aber da war nichts mehr. Das Warenlager war | |
umgezogen, eine Nachricht darüber hatte ich nicht bekommen. Es hatte zwar | |
eine Information über den Messengerdienst Slack gegeben, der kurz zuvor | |
eingeführt worden war, aber ich hatte dazu keine Einladung erhalten. | |
Der neue Hub war um einiges größer, es gab sogar Sofas, aber keine | |
Klimaanlage. Wegen der Hitze stellten wir uns also wieder vor die Tür, | |
diesmal auf den Bürgersteig direkt an eine befahrene Straße. Die | |
Nachbarschaft war not amused. Bald hingen Zettel an den Häuserwänden, die | |
erklärten, wie gute Nachbarschaft auszusehen habe. „Die Bereiche (1–2 | |
Meter) direkt neben dem Hauseingang sollten frei bleiben“, stand dort unter | |
anderem. Meinte: Draußen rumhängen verboten. | |
In meiner Oktoberschicht bin ich nun seit knapp zwei Stunden unterwegs. Bei | |
einer Tour muss ich mit zehn Litern auf dem Rücken in den fünften Stock. | |
Fahrstuhl? Keiner. Trinkgeld? Nix. Mein Knie schmerzt mittlerweile | |
ziemlich. Im Hub ignoriere ich den schon bereitstehenden Rucksack und laufe | |
in die Küche, ich brauche ein Glas Wasser. Ich treffe zwei Kollegen, die | |
sich Kaffee nehmen. „Es ist eine Katastrophe“, sagt der eine, als ich | |
frage, wie es ihnen inzwischen hier geht. „Die ersten zwei Monate waren | |
gut, aber jetzt … [2][wenn ich einen anderen Job finde, bin ich hier weg].“ | |
Viele teilen diese Meinung. Aber für die meisten ist es schwer, eine andere | |
Anstellung zu finden. Wer bei Flink arbeitet, muss keine Referenz, kein | |
Zeugnis vorweisen. Die Bewerbung ist ein Onlineformular, in das man eine | |
Adresse und Telefonnummer tippt. Meine Kolleg:innen kommen aus | |
Deutschland, Portugal, Italien, Syrien, Tunesien, Südafrika. Es sind | |
Studierende, Asylbewerber:innen und viele junge Erwachsene, die | |
während der Pandemie ihre Arbeit verloren haben. | |
Die Zahl der Bestellungen ist stark gestiegen, seit etwa August gehen | |
minütlich neue im Hub ein. Meine sechs- bis achtstündigen Schichten | |
verbringe ich oft ohne Pause auf dem Fahrrad. Die Stimmung wird | |
angespannter. Es gibt Tage, an denen im Laden vier Wagen voll mit Obst und | |
Gemüse neben fünf Wagen Hygieneartikeln und Trockennahrung stehen, dann | |
kommt der Fisch, anschließend noch das Fleisch und schließlich die | |
Alkohollieferung. Und dann sind da noch eine ganze Menge E-Bikes. | |
Mein Knie tut mittlerweile so weh, dass ich nicht mehr aufs Rad steigen | |
kann. Also helfe ich im Lager. Auch hier frage ich einen Kollegen, was ihn | |
hier hält. „Geld!“, kommt die Antwort prompt. Wir verdienen 10,50 Euro die | |
Stunde. „Es ist mein Lebenstraum“, sagt eine Pickerin ironisch, die an uns | |
vorbeidüst. „Ja, aber auch weil hier coole Leute sind. Sonst würde ich es | |
nicht machen.“ | |
Das sagen viele: Wären die Kolleg:innen nicht, wären wir alle schon | |
längst weg. Denn ansonsten ist der Unmut groß. Da ist die Buchhaltung, die | |
manchen das Gehalt auch mal zwei Monate zu spät schickt. Da ist die neue | |
App, die mittlerweile sogar unsere Rückfahrt trackt, die uns aber | |
gleichzeitig manchmal an die komplett falsche Adresse schickt oder ständig | |
hängt. Auch müssen wir unsere eigenen Handys nutzen, auf die wir drei | |
verschiedene Akku fressende Apps downloaden – ohne Zuzahlung mobiler Daten. | |
Und dann ist da die sogenannte Ridercare, eine E-Mail-Adresse, an die wir | |
uns mit sämtlichen Belangen wenden können, von der wir oft aber erst Tage | |
später oder gar keine Antwort erhalten. | |
Der Freund, der mir den Job empfohlen hatte, ist bereits weg. „Es werden | |
einige kündigen. Weil sich hier ein paar Menschen mit Verantwortung neue | |
Regeln erlauben, die einfach gar nicht gut ankommen“, sagt mir ein Kollege. | |
Übrig gebliebene Lebensmittel sollen wir auch nicht mehr mitnehmen. | |
Seit Neuestem werden mir auch einfach Schichten zugeteilt, ohne Absprache. | |
Normalerweise konnten wir uns eine Woche vorher in der App „Shyftplan“ für | |
Arbeitseinsätze bewerben. Nun wurde mir eine bereits bestätigte Schicht an | |
einem Freitag unkommentiert durch zwei Spätschichten am Mittwoch und | |
Samstag ersetzt. Ich hatte keine Zeit und konnte letztlich in der Woche gar | |
nicht arbeiten. Als ich bei Slack nach einer Antwort suchte, sah ich, dass | |
ich nicht die Einzige mit dem Problem war. | |
Das System hinter Flink versteht niemand so recht. Ich blicke gar nicht | |
mehr durch, an wen ich mich für was wenden kann, die Zuständigkeiten ändern | |
sich gefühlt wöchentlich. Die Warenverteilung an die Hubs läuft auch nicht. | |
Alles kommt aus Berlin und angeblich kontrolliert eine App, was wo fehlt. | |
Aber ständig werden massenhaft Waren geliefert, die wir bereits haben. | |
Hubmanager, die ihre Schicht um 7.30 Uhr starten, sind deswegen oft noch um | |
19 Uhr da. Einmal helfe ich meinem Kollegen bis Mitternacht, die Waren | |
einzusortieren. Am nächsten Tag kommt er mit tiefen Augenringen in den | |
Laden, er hat erst lange nach mir Feierabend gemacht. | |
Trotzalledem steige ich doch wieder aufs Rad. Die Pickerin drückt mir einen | |
Rucksack entgegen und sagt lachend: „Der sollte deinem Rücken nicht | |
schaden.“ Ich schaue nach: Es liegen sieben Maracujas drin. | |
Mich macht das Konzept immer skeptischer. Wie sinnvoll ist es, einen | |
Service anzubieten, mit dem du die Menschen ihren Konsum so vervielfachen | |
können? In zehn Minuten alles da, direkt vor der Tür – ich habe das Gefühl, | |
das Resultat ist eine noch faulere Gesellschaft, und wertgeschätzt wird die | |
Arbeit auch nicht. Einmal sind wir zu zweit bei einem Kunden aufgetaucht, | |
er hatte knapp zwei Kisten Bier bestellt. Als er die Tür öffnete, war er | |
ganz überrascht: zwei Rider? Ja, Entschuldigung, wie soll man den Kram denn | |
sonst schleppen? Er gab einen Euro Trinkgeld. | |
Am Ende meiner Schicht im Oktober schiebe ich das Rad den Gehweg runter, | |
weil man hier in die entgegengesetzte Richtung nicht fahren darf. Es ist | |
meine letzte Fahrt für heute. Und für immer. Im Kopf schreibe ich bereits | |
meine Kündigung. Schneller Blick aufs Handy: die nächste rechts. Akku bei | |
49 Prozent. Dann geht der Bildschirm plötzlich aus. Keine Panik, ich bin | |
gut in der Zeit. Handyknopf wieder an, der Bildschirm wird hell, blaue | |
Blubberblasen erscheinen auf dem Screen. Dann ein Vibrieren, der Akku zeigt | |
0 Prozent, der Bildschirm wird wieder schwarz. | |
Neben meinem Knie, meinem Rücken, meiner Motivation und meiner Lust am | |
Fahrradfahren hat dieser Job auch mein Handy geschrottet. | |
15 Jan 2022 | |
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## AUTOREN | |
Leonie Ruhland | |
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