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# taz.de -- Leben mit Diabetes Typ 1: Eine Krankheit ist keine Identität
> Ich-Texte über Krankheiten sind „in“ wie noch nie. Unsere Autorin hat
> Diabetes Typ 1. Das ist ihr Plädoyer gegen die Krankheitsberichte dieser
> Welt.
Bild: Nimmt eben einen Teil im Leben ein: Blutzuckermessung
Irgendwann während meines siebten Lebensjahrs zerstörte mein Körper Teile
seiner eigenen Bauchspeicheldrüse. Genauer: die Langerhans-Inseln, die
jeder Mensch zur Insulinproduktion braucht. Diabetes mellitus Typ 1 lautete
die Diagnose, die ich damals noch gar nicht richtig verstand.
Das könnte der Anfang eines weiteren Erfahrungsberichts sein. „Mein Leben
mit Diabetes“ vielleicht. Ein eigener Blog, ein Ratgeber. Und am besten
noch ein Hashtag. #ichbinzucker zum Beispiel (das gibt es wirklich).
Ich, wie ich mich jeden Tag spritzen muss. Wie ich Kohlenhydrate abwiege.
Wie [1][ich als Kind] unterzuckerte und der Notarzt gerufen werden musste.
Ich, wie ich alkoholisiert meinen Zucker messe, weil zu viel Alkohol vor
allem für Diabetiker:innen tödlich sein kann. Wie ich aufpasse beim
Sport, bei Stress, bei Krankheit. Wie ich versuche, die Blutzuckerwerte im
Normbereich zu halten, um meine Augen oder Nieren nicht mit der Zeit zu
zerstören.
Doch genau das wollte ich nie. Deswegen enden hier meine persönlichen
Schilderungen zu meinem Krankheitsverlauf. Denn meine Krankheit ist nicht
meine Identität. Sie ist da, ich bin da. Ich bin weder Opfer noch Heldin.
Ich schaue, dass ich damit leben kann. Meine Freund:innen und Bekannten
wissen Bescheid (und ihr Leser:innen jetzt auch, nun ja …).
## Die Frage nach der Identität
Es mag paradox klingen. Aber meine Krankheit ist so präsent und nimmt so
viel Platz in meinem Alltag ein, dass sie nicht auch noch mein restliches
Leben ausmachen soll.
Blogs, Sprüche bei Insta oder selbstgebastelter Diabetes-Merch – das alles
gibt es. Doch ich brauche das nicht, weder aktiv noch passiv. Weder zum
Lesen noch um selbst darüber zu schreiben.
Stattdessen habe ich mich schon immer gefragt: Hätte ich die Erkrankung
nicht – wer wäre ich dann?
In der Schule hatte ich eine Mitschülerin, die auch Diabetikerin war. Und
das war voll und ganz ihre Identität. Oft musste sie den Unterricht
verlassen, weil etwas „mit ihrem Zucker“ zu klären war. Wenn sie mit
anderen sprach, erwähnte sie immer ihre Erkrankung. Wenn ich das jetzt mit
14 Jahren schon zu meinem Lebensinhalt mache, dachte ich, hindert mich das
nicht daran, mich selbst zu entfalten? Hindert es mich an der Suche nach
meiner eigenen, wirklichen Identität? Ich beschloss, mich selbst zu
entscheiden, wer ich sein möchte, und dies nicht meinem geschädigten Körper
zu überlassen.
## Defizite akzeptieren
Seine Erkrankung zum Lebensinhalt zu machen ist sehr defizitorientiert und
in gewisser Hinsicht masochistisch. Wer hat nicht im Laufe seines Lebens
irgendeine Erkrankung oder Beeinträchtigung, mit der er oder sie im Alltag
klarkommen muss?
[2][Allergien], Depressionen, Asthma oder Diabetes können heutzutage zum
Glück meistens so behandelt werden, dass man ein Leben führen kann. Und
dieses Leben möchte ich dann auch unabhängig von meiner Diagnose führen.
Wenn ich über mein Diabetes reden will, spreche ich mit meiner Ärztin
darüber. Fertig.
Das soll kein Aufruf sein, seine Krankheit zu ignorieren oder zu
verstecken. Auf keinen Fall. Aber es gibt einen Unterschied zwischen offen
darüber reden und es zum Lebensinhalt zu machen. Genauso wie bei vielen
anderen Erkrankungen, zum Beispiel Depressionen, kostet es oft Überwindung
zu sprechen. Die Akzeptanz der eigenen Krankheit spielt dabei eine große
Rolle. Denn erst dann kann man sich mit den Vorurteilen auseinandersetzen.
Es sind viele: Warum ich denn Diabetes habe, obwohl ich nicht fett sei.
(Das wäre Typ 2.) Ob ich zu viel Süßes als Kind gegessen habe. (Nein, ich
trage keine Verantwortung.)
## Keine awareness ist auch okay
Dass sie für mich beten werde, damit ich schnell geheilt werde, sagt meine
Großmutter. Ich solle mich lieber im Nebenzimmer spritzen, damit meine
Großmutter nicht so leide, meint meine Mutter. Ich bekäme ständig
Aufmerksamkeit, beschwert sich meine Schwester. Und dabei möchte ich die
doch gar nicht.
Als ich diesen Text plante, ging ich mit einer Redakteurin einen Kaffee
trinken. Sie bestellte sich ein Stück Apfelkuchen und fragte mich zu meinem
Diabetes aus. „Ich kann zum Beispiel nicht spontan jetzt so ein Stück
Kuchen essen“, meinte ich. Ab diesem Moment tat es ihr furchtbar leid,
nicht rücksichtsvoller gewesen zu sein.
Ja, so ist das nun einmal. Menschen wissen nicht über alle möglichen
Erkrankungen Bescheid. Und es ist nicht möglich, immer achtsam und
vorausschauend rücksichtsvoll zu sein. Aber das ist gerade das, was ich
möchte: keine besondere Behandlung. Keine Reduktion auf die Erkrankung. Und
nicht, dass Menschen sich zum Beispiel beim Essen zurücknehmen, weil ich es
tun muss.
Und gerade deswegen ist es auch nicht meine Absicht, meine Krankheit zum
Politikum zu machen, damit alle Menschen Diabetiker:innen gegenüber
aware sind. Ich komme für mich selbst damit klar, und das ist gut so.
## Meine Erfahrung mit Erfahrungsberichten
Vielleicht schreibe ich das alles auch nur, weil ich einfach keinen guten
Erfahrungsbericht gelesen habe? Doch. Ein einziges Mal.
Als ich in der Unterstufe war, verbrachte ich jede Pause auf dem Bolzplatz.
Meine Lieblingsposition: im Tor. Der damalige Mainzer Torwart Dimo Wache
brachte zu dieser Zeit das einzige Ratgeberbuch heraus, das ich jemals
lesen sollte: „Rote Karte für den Diabetes“. Doch es war vor allem die
Kombination, die mich begeisterte – dass er Sportler war, dass er Profi war
in etwas, das ich gut konnte. Aber nicht der Diabetes an sich.
In diesem Jahr las ich noch einige andere Biografien, zum Beispiel die von
Dirk Nowitzki (hat kein Diabetes, aber ich mag Basketball). Die über
Matthias Steiner las ich nicht (Gewichtheben interessiert mich einfach so
gar nicht und somit auch nicht der Fakt, dass Steiner Diabetiker ist).
Einige Blogs und Ich-Reportagen habe ich auch gelesen. Sie sind meistens
Selbstinszenierung und eine einfache Möglichkeit, sich in einem Thema als
Expert:in darstellen zu können. Doch nur, weil dir etwas diagnostiziert
wurde, mit dem du versuchst umzugehen, bist du noch kein:e Expert:in. Es
gibt Menschen, die sich mitteilen wollen, um Erlebtes aufzuarbeiten. Nicht
weiter schlimm.
Es stimmt, dass es anderen Mut machen kann, über die eigene Krankheit zu
reden. Es hilft zu wissen, man ist nicht allein mit seinen Problemen. Doch
diese Berichte sind auch oft voll von medizinischen Falschinformationen,
was nicht ungefährlich ist.
## Sein wie Neil Young
Das ist das erste Mal, dass ich öffentlich über meine Erkrankung schreibe.
Und es wird für längere Zeit das letzte Mal sein. Falls ich irgendwann
irgendjemandes Vorbild werden sollte, dann hoffentlich nur, weil ich ein
inspirierendes Leben führe. Und nicht meine Krankheit das Bemerkenswerteste
in meinem Leben ist.
So wie Neil Young, zum Beispiel. Ich weiß nicht, wie oft ich „Heart of
Gold“ gehört habe, bevor ich zufällig irgendwo las, dass er als Kind
Diabetes Typ 1 diagnostiziert bekam. Stellt euch vor, er hätte damals das
zu seiner Identität gemacht und das mit der Musik nie angegangen.
Meine Ärztin sagte mal zu mir: „Das Schlimme am Diabetes ist, dass es immer
da ist. Doch man sieht es nicht.“ Sie hat Recht. Aber es ist auch eine
Chance für mich, eine Identität, eine Person unabhängig von meiner
Erkrankung werden zu können.
Vor zwanzig Jahren zerstörte mein Körper meine insulinproduzierenden
Zellen. Ohne, dass ich jegliche Verantwortung dafür trage. Ohne, dass ich
mir das ausgesucht habe. So wie mir geht es ungefähr 400.000 Menschen in
ganz Deutschland. Seitdem bestimmt der Diabetes mein Leben, aber ganz
sicher nicht meine Identität.
28 Nov 2021
## LINKS
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## AUTOREN
Ruth Lang Fuentes
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