# taz.de -- Neues Album von Helm: Ästhetik des Funkenstiebens | |
> Das neue Noise-Album „Axis“ von Helm erinnert unseren Autor daran, wie | |
> für ihn Störgeräusche zu Musik wurden. Ein Essay zur Ästhetik von Lärm. | |
Bild: Topfschnitt vor weißer Wand: Keine Faxen von Luke Younger alias Helm | |
Als Teenager habe ich Schlagzeug in [1][einer Punkband gespielt]. Eines | |
Tages bemerkte ich im Proberaum ein Klackern, das von der mechanischen | |
Heizungsuhr kam. Ich hörte ihr einige Minuten lang zu, bis ich entschied, | |
den seltsamen Rhythmus als Vorlage zum Üben zu verwenden. | |
Da wurde mir klar, dass auch Störgeräusche Musik sein können. Ich | |
schüttelte seitdem nur noch mürrisch den Kopf, wenn mir der Musiklehrer in | |
der Schule erklärte, was „richtige“ Musik sei und was nicht. Richtig hieß | |
für ihn so viel wie: Schön, was wiederum so viel hieß wie: harmonisch, | |
geordnet oder noch verdächtiger: rein. Mir wurde klar, dass Musik immer | |
eine Neuverhandlung von Ästhetik ist, vor allem von Schönheit. | |
Das neue Album „Axis“ des britischen Musikers Luke Younger alias Helm kann | |
exemplarisch für diese Aushandlung stehen. Schönheit unterliegt hier allem | |
anderen als einer Ideologie von Ordnung und Reinheit. Es [2][knarzt], | |
fiept, blubbert und kracht derart, dass mein Musiklehrer von dem Lärm | |
womöglich einen Kreislaufkollaps bekommen hätte. | |
## So klaustrophobisch wie bei der Kernspin | |
Beim ersten Durchlauf fühlt es sich manchmal an wie im Kernspintomografen. | |
Die medizinische Untersuchung in jener engen, zylinderförmigen Röhre ist | |
nicht nur ähnlich lärmend, sondern gelegentlich auch so klaustrophobisch | |
wie die sieben Stücke von Younger. | |
Er knüpft damit an seine vorherigen neun Alben und etlichen EPs an, in | |
denen er ebenfalls die Grenzen und Zentren eines Genres auslotet, das seit | |
seinen Anfängen in den 1980er Jahren eine Absage an das Schöne ist: | |
[3][Noise], eine vorwiegend elektronische Instrumentalmusik, die | |
weniger aus Tönen – Klänge mit regelmäßiger Schwingung – als aus Geräu… | |
besteht – Klänge mit unregelmäßiger Schwingung und Tonhöhe. | |
Schönheit wird bis heute wie in der Kunst, mal abgesehen von Punk, | |
Industrial und der Neuen Musik, mit Symmetrie und Harmonie verbunden. Ihr | |
ästhetisches Äquivalent ist nicht das Hässliche, sondern etwas, das sich | |
der Sprache entzieht und bedrohlich wirken kann, das Erhabene oder Sublime. | |
Noisemusik nähert sich diesem Zustand. Quietschen, Rauschen, Blubbern, | |
Fiepen, plötzliche Feedbacks, all das bringt die Idee dessen durcheinander, | |
was bis heute im euroamerikanischen Raum als schön gilt: | |
## Noise bleibt offen für Außermusikalisches | |
Harmonische Akkorde wie in der spätromantischen Klassik, sinnhafte | |
Songtexte in Pop und Rock und ihr Persönlichkeitskult oder die lineare | |
Abfolge von Strophe und Refrain, wie sie in vielen Genres vorherrscht, von | |
HipHop bis Black Metal. Die Musik von Helm zeigt, dass [4][Noise] längst | |
nicht mehr nur in der Negation verharrt, sondern sich zum vielseitigen | |
Genre entwickelt hat, das sich auch anderen Einflüssen öffnet. | |
Mal abgesehen davon, dass der Mittdreißiger Younger sich seit Jahren in den | |
hippen Magazinen dieser Welt mit coolen Porträts vor großstädtischen | |
Kulissen zu inszenieren weiß, weicht sein Schaffen auch klanglich ein | |
bisschen vom Ursprungsmythos des Noise ab. Auf den letzten drei der | |
inzwischen zehn Alben, etwa [5][„Olympic Mess“] (2015), sind Spuren von | |
Disco und Dub Techno zu hören. „Axis“ wirkt trotz der Gastbeiträge | |
renommierter Experimentalmusiker:innen, wie der britischen | |
Cellistin Lucy Railton, dem US-Gitarristen Mark Morgan und dem verstorbenen | |
Violinisten John Hannon, ziemlich puristisch. | |
Seine klar umgrenzte Klangwelt aus abstrakten, vorwiegend beatlosen | |
Soundelementen hängt vielleicht mit der Entstehung zusammen. Die Stücke | |
waren ursprünglich als Soundtrack für ein Tanzstück konzipiert, doch weil | |
es pandemiebedingt auf unbestimmte Zeit verschoben wurde, hat Younger das | |
Material für den Kontext seines Albums neu bearbeitet – in der heimischen | |
Wohnung in London während der Lockdowns. Trotzdem oder genau deshalb lockt | |
„Axis“ das Ohr in ein imaginäres Außen. Seine Klangwelt ist weder eine | |
pastorale Idylle noch eine zeitgenössische Dystopie. Es ist eine | |
Atmosphäre, die sich beim Hören nach und nach aufbaut, wie beim verzögerten | |
Rendern einer Grafik, wenn der Prozessor überfordert ist. | |
## Alles fließt ineinander | |
Es gibt hier keine Gravitation, stattdessen fließt alles ineinander: die | |
Glissandi-Klänge im Stück „Mole“, bei denen sich die Tonhöhen beim | |
Verbinden zweier Töne kontinuierlich verändern; die immer nur kurz | |
vorbeischnellenden Sounds im Track „Repellent“, die an die brausenden | |
Motorengeräusche von Formel-1-Rennwagen erinnern. Helm kreiert Musik, die | |
wegen ihrer semantischen Offenheit und Geräuschhaftigkeit zu jener | |
musikjournalistischen Metaphorik verführt, die das Gehörte in eine | |
Zwangsjacke subjektiver Eindrücke sperrt, aber bestenfalls eine ungefähre | |
Vorstellung davon gibt. | |
So beginnt das Album im Track „Para“ mit einem Knistern, das dem eines | |
kaputten Stromkabels ähnelt, das bei einer Baustelle vergessen wurde und im | |
Zwielicht der nächtlichen Stadt herumliegt. Ab und zu wird das Kabel von | |
einem Regentropfen erfasst und zischt vor sich hin. Die so erzeugten Funken | |
erwecken die herumstehenden Maschinen zum Leben, die nun in einen | |
wabernden, sirenenhaften Gesang einstimmen. Als wollten sich die Maschinen | |
beklagen. Vielleicht über ihr Schicksal, immer nur Werkzeuge sein zu | |
dürfen, oder den Zustand der Welt und die Entbehrungen, die der Brexit mit | |
sich bringt. | |
Helm befreit Maschinen aus ihrem funktionalen Dasein. Er gewährt ihnen ein | |
Eigenleben, lässt sie Geschichten erzählen. Geschichten, die vor allem | |
eines erfordern: Geduld. Viel Geduld. Vor allem im Finale, dem | |
achtminütigen Titelstück „Tower“, das Younger in den Linernotes bezeichnet | |
hat als „das wahrscheinlich dramatischste Stück Musik, das ich je gemacht | |
habe“. Damit durch die Wohnung zu tanzen, dazu headzubangen oder sich kurz | |
mal gute Laune verschaffen? Unmöglich! | |
## Kathartische Klangreise | |
Der Brite bleibt auch hier der Idee von Noise treu, er zeigt der binären | |
Definition von Musik und dem Zwang zur schnellen Befriedigung den | |
Mittelfinger. Ist die Spannung erst einmal aufgebaut, werden die | |
Hörer:innen mitgenommen auf eine kathartische Reise, wie in einem | |
breiten Bus, der sich eine enge Straße mit steilem Abhang mühsam | |
hinaufschlängelt. | |
Leicht verdaulich ist die Musik von Luke Younger also nicht. Deshalb werde | |
ich wohl auch zum nächsten Helm-Konzert alleine gehen müssen und werden | |
meine Freund*innen wieder mal verpassen, was ihnen keine Meditations-App | |
und Spotify-Playlist jemals bieten kann. | |
Die sieben Stücke, ja Noise als Genre generell, laden zum konzentrierten | |
Hören ein. Hören wird zum Hinhören, zur kreativen Praxis, die neue | |
Atmosphären, manchmal gar neue Emotionen hervorbringt, von denen gar nicht | |
klar war, dass es sie gibt – wie die schöne Verwirrung zwischen Melancholie | |
und Euphorie, zwischen woanders und hier sein, wenn ein Rauschen sich in | |
tonale Klänge verwandeln. | |
Dieses Zuhören ist, im Sinne des Konzepts deep listening der US-Komponistin | |
Pauline Oliveros, ein empathischer Akt. Er verknüpft Hörer:innen mit | |
ihrer Umwelt – und lässt sich auch im Alltag, jenseits von Musikhören | |
anwenden. Das heißt nicht, dass man sich mit der Heizungsuhr anfreunden | |
muss. | |
Doch wenn die Feuerwehrsirene, das rotierende Windrad, ja sogar der | |
furchteinflößende Kernspintomograf keine Störgeräusche, sondern ästhetische | |
Phänomene sind, blickt die Person, die sie wahrnimmt, vielleicht weniger | |
herrschsüchtig auf Dinge, Wesen und die menschenversehrte Erde, die sie | |
umgeben. Die vermeintliche Banalität von Alltagsklängen wird zur Poesie. | |
Ästhetik heißt nicht nur, etwas schön zu finden oder nicht. Es bedeutet, | |
die Welt in Beziehung zu anderen und anderem zu spüren – zu verstehen, was | |
auf mich einwirkt und auf was ich einwirken kann. | |
Helm: „Axis“ (Dais/Secretly Canadian/Cargo) | |
12 Nov 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Buch-ueber-1977/!5810911 | |
[2] /Labelportraet-PAN-Records/!5208767 | |
[3] /Debuetsoloalbum-von-Beatrice-Dillon/!5663861 | |
[4] /Produzent-Lee-Gamble-mit-neuer-Platte/!5581111 | |
[5] https://www.youtube.com/watch?v=lTCE-SSavQU | |
## AUTOREN | |
Philipp Rhensius | |
## TAGS | |
Noise | |
Neues Album | |
London | |
Experimentelle Musik | |
House | |
Spotify | |
taz Plan | |
Beatrice Dillon | |
Neue Musik | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Sven-Åke Johansson im Interview: „Eine Schallplatte aus Gummi“ | |
Auf dem JazzFest Berlin ist Sven-Åke Johansson Ehrengast. Der Komponist und | |
Performer spricht über Salatgurken und Feuerlöscher in der Musik. | |
Portät des House-Labels Incienso: Das spanische Wort für Weihrauch | |
Zwischen allen Stühlen und Stilen: Das irrlichternde Treiben des New Yorker | |
DJs und Produzenten Anthony Naples. Ein Porträt. | |
Spotifygründer investiert in Militärtechnik: Streamen für den Kampf | |
Daniel Ek, Gründer des Streamingdienstes Spotify, gehört zu den reichsten | |
Menschen der Welt. Jetzt investiert der Schwede in die Rüstungsindustrie. | |
Neue Musik aus Berlin: Schweben und Knarren | |
Gegelegentlich auch mit Stimme: Aleksandra Zakharenko alias Perila legt ihr | |
neues Album „How Much Time it is Between You and Me?“ vor. | |
Debütsoloalbum von Beatrice Dillon: Freude am Hören | |
Von Malerei inspiriert: Wie die britische Elektronik-Produzentin Beatrice | |
Dillon mit ihrem Soloalbumdebüt „Workaround“ die Instinkte berührt. | |
Labelporträt PAN-Records: Musik von Menschen, die nie schlafen | |
Eine Anlaufstelle für visionäre elektronische Musik: der griechische | |
Produzent Bill Kouligas und sein Berliner Label PAN. |