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# taz.de -- Portät des House-Labels Incienso: Das spanische Wort für Weihrauch
> Zwischen allen Stühlen und Stilen: Das irrlichternde Treiben des New
> Yorker DJs und Produzenten Anthony Naples. Ein Porträt.
Bild: Auch Technoproduzentinnen sind in der clublosen Zeit auf sich selbst zur�…
Anthony Naples befindet sich in einem Zwiespalt, und dafür gibt es
zahlreiche Belege. Er beginnt Label-Projekte, führt sie nicht zu Ende, er
ermöglicht Kolleg:Innen Veröffentlichungen, aber lässt sie dann alleine
flügge werden. Gerade in ihrem scheinbar ziellosen Mäandern ist die
Karriere des New Yorker House-Produzenten, Labelbetreibers und gefeierten
DJs aber so eindrucksvoll.
Naples’ eigene Musik darf nicht vergessen werden, sie ist denkbar schwer zu
kategorisieren, changiert von einem Süd- zu einem Nordpol und zurück. Auf
der einen Seite stehen Naples’ kühle Experimente, kristallklarer Ambient
und eisgeschüttelter technoider [1][House]; metallische Gerüste, auf denen
seine Tracks und Alben aufbauen, seit er 2012 aufgetaucht ist. Andererseits
gibt es warme Disco-Samples, mollige Gitarren, schwitzenden klassischen
Dancefloorsound – und eine Vorliebe für Rhythmen des mittel- und
südamerikanischen Kontinents.
Naples hat makellose Tracks auf dem Brooklyner Label Mister Saturday Night
veröffentlicht und bei den Londoner Labels The Trilogy Tapes und Text, dazu
gab es bis zur Ausbreitung der Covid-19-Pandemie weltweit immer wieder die
Chance, den US-DJ an den Plattentellern zu erleben. Vor allen Dingen in
seiner Heimat, dem Stadtbezirk Queens in New York City, konnte man ihn im
Club Nowadays regelmäßig beim Plattendrehen sehen. Von Disco,
US-amerikanischer und italienischer Machart, bis zu avancierten
Underground-Noise-Experimenten mischte er auf seiner Palette alles elegant
durcheinander, viel beruht auf seinem beeindruckendem Gespür für Atmosphäre
und Ambience.
## Der Sound von Proibito
Fast nebenbei führte Naples zwischen 2013 und 2017 ein Label namens
Proibito. Dort veröffentlichte er neben eigenem Material auch Arbeiten des
US-Produzenten Huerco S. (alias Brian Leeds) – und seines ehemaligen
Mitbewohners Brian Piñeyro, inzwischen besser bekannt als DJ Python.
Auch beim spezifischen Sound von Proibito kam immer wieder das
Spannungsverhältnis zwischen potentem Techno, unbedingter Tanzbarkeit und
abseitigen, fadenscheinigen Sounds zum Tragen. Heiß und kalt – vielleicht
nachvollziehbar für jemandem, der in der schwülen Hitze der
floridianischen Landzunge aufwuchs und im gelegentlich polarkalten New
York ein neues Zuhause gefunden hat. Das wäre eine nachvollziehbare,
wenngleich arg küchenpsychologische Deutung.
Fest steht: Anthony Naples ist ein Künstler und DJ, der von Extremen
angezogen wird. Das permanente Austarieren ist eine seiner größten Stärken.
So beweisen es formidable Stücke wie „Mad Disrespect“, sein House-Track,
der ihm vor zehn Jahren den Durchbruch in der elektronischen Szene brachte.
2017 stellte er dann urplötzlich die Labelarbeit von Proibito ein, der
Grund weit weniger dramatisch, als es sich zuerst lesen mag: Er wollte das
Gleiche machen wie zuvor, aber nicht mehr alleine. Neu hinzugekommen, als
Sparringspartnerin für musikalische Belange und Expertin für die grafische
Gestaltung, ist seine Partnerin, die Fotografin Jenny Slattery. Ihr
Label-Baby ist auf den Namen Incienso getauft. Es ist das spanische Wort
für Weihrauch.
## Eine „süße Gesellschaft“
Richtig religiös oder spirituell geht es bei Incienso dennoch selten zu;
musikalisch setzte das Paar da an, wo Proibito kurze Zeit vorher gestoppt
hatte. Das Personal behielt man gleich bei: Die erste Veröffentlichung
lieferte DJ Python mit dem Album „Dulce Compañia“ und stellte 2017 den
Durchbruch für Piñeyro dar. Incienso ist wirklich eine „süße Gesellschaft…
mit seinen Strukturen, die auf freundschaftlichen Verhältnissen basieren.
Ganz konkret betrachtet, erkennt man auch musikalisch die Vektoren des
Labels: Südamerikanische und karibische Rhythmen treffen auf
feingeschliffene Sounds der Intelligent Dance Music. Tanzmusik für Kopf und
Seele, vorbei an tradierten (europäischen) House-Standards. Womöglich wär
es immer so weitergegangen – wenn nicht eine weltweite Coronapandemie alles
grundlegend verändert hätte.
## Teil der DIY-Punk-Szene
Als dann ab Anfang 2020 die Tanzflächen zum Erliegen kamen, transformierte
sich alles. Der Wandel ist manchmal offensichtlicher, dann subtiler. Aus
DJs, die in ihren Wohnungen Zeit verbrachten, statt sich bei Reisestrapazen
aufzureiben, wurden Produzent*innen. Aus den eigenen vier (Studio-)Wänden
wurde Musik in die Welt geschickt. Für Naples kam dies einer Initialzündung
gleich. Er nahm erstmals seit Langem wieder die Gitarre in die Hand.
In seiner Jugend war er Teil der DIY-Punk-Szene in Florida gewesen. Das
Ergebnis ist auf seinem Album „Chameleon“ enthalten. Ein, trotz aller
Widerstände, optimistischer Klangentwurf – vergleichsweise abseits der
Funktionalität von Dancefloorsound, kapriziert sich Naples in einem ganz
eigenem Klanggemisch: Drums, Gitarren und Bässe ahmen mal (Post-)Punkness
und Krautrock nach, die Stücke wirken eher organisch als synthetisch. Dann
wieder gleichen sie chilligen HipHop- und R&B-Instrumentals.
## Kontemplative Einkehr
Für das Label Incienso hatte Naples mit seiner Freundin Slattery eine
andere Idee: Hier reflektieren sie über Entwicklungen der elektronischen
Musikszene. Eine kontinuierliche Bewegung in zwei divergierende Richtungen
war in den letzten Jahren zu vernehmen: Einerseits wurden Ambient-Klänge
wieder prominenter, trafen diese doch das Gefühl der sozialen Isolation
beziehungsweise der kontemplativen Einkehr. Auf der anderen Seite war es
ohne Clubs und Festivals unabdingbar, klassische Techno-Spielarten auch zu
Hause zu hören. Techno wurde, so propagieren das by the way auch etliche
Detroiter Acts der letzten 40 Jahre, zu einer Art Maschinenjazz.
Also riefen Naples und Slattery alte Wegbegleiter und neue Freunde an, um
an diesem Projekt teilzuhaben: Seit 2020 gab es wunderbar verkopfte,
manchmal etwas zu gut ausgedachte Alben des Berliner Briten Call Super, von
Marco Shuttle (ebenfalls in Berlin beheimatet) und abermals von DJ Python.
Sie spielen mit den Spannungsverhältnissen der beiden beschriebenen
Entwicklungen. Bringen Soundwelten aus unterschiedlichen Ecken zusammen;
bei DJ Python ergibt sich daraus ein eigenes neues Subgenre namens Deep
Reggaeton. Marco Shuttle hingegen schickt die Hörer*innen in eine
„Cobalt Desert Oasis“. Artifizielle Maschinensounds begegnen mächtigem
Wüsten-Ambient.
## Techno-Requiem einer türkischen Musikerin
Demnächst folgt ein neues Album vom alten Wegbegleiter Huerco S., der in
der Zwischenzeit auch in der Bundeshauptstadt seine Zelte aufgeschlagen
hat. Besonderes Augenmerk gebührt derweil „Ali علي“, dem introvertierten
Techno-Requiem der türkischen Musikerin Nene H, das im Juni 2021 realisiert
wurde. Die Türkin, geboren in Istanbul, aufgewachsen in Süddeutschland,
heute zwischen Berlin und Kopenhagen pendelnd, widmet ihr Album ihrem
verstorbenen Vater.
Auch hier geht es um Pole, zwischen denen man lebt und aufwächst:
traditionelle türkische Werte und das Leben in der Bundesrepublik,
klassische musikalische Ausbildung und unterhaltende Tanzmusik, westliche
Notation und Skalen einerseits, vorderasiatische Mikrotonalität
andererseits. Das Ergebnis klingt berauschend schön und mitreißend. Von
Hard-Techno- und Gabber-inspirierte Stücke treffen auf Delay-Wolken.
Verstörende Vocoder-Stimmen ziehen einen in den Bann, manchmal wird in
subtiler, untergründiger Spannung ein Thema gespielt, dann walzt der Sound
bald schon wieder brachial durch die Hi-Fi- oder Club-Anlage.
„Ali علي“ von Nene H, genauso wie die Musik ihrer Labelkolleg:Innen
bei Incienso, sind ein lang erwarteter Beweis dafür, dass Kälte und Hitze
zusammengeführt werden können, ohne gleich in lauwarmen Gefilden zu landen.
Anthony Naples ist als Produzent und Labelbetreiber ein Meister darin,
Unvereinbares zusammenzubringen – und zwischen den Extremen zu wandern.
6 Feb 2022
## LINKS
[1] /Nachruf-auf-Housepionier-Rodney-Bakerr/!5773047
## AUTOREN
Lars Fleischmann
## TAGS
House
Techno
Ambient
Spanien
Dubstep
Dancefloor
Noise
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