# taz.de -- Grabstätten und Gartenbau: Platz auf dem Friedhof | |
> Weil sich Menschen zunehmend in Urnen bestatten lassen, entstehen auf den | |
> Berliner Friedhöfen Freiflächen. Die können so anderweitig genutzt | |
> werden. | |
Bild: Grünes Plätzchen in der Stadt: St.-Jacobi-Friedhof in Berlin-Neukölln | |
BERLIN taz | Eine Gruppe Student*innen schaut sich neugierig um. Sie | |
lachen, reden miteinander. Zwischendurch läuft eine ältere Frau mit einer | |
Gießkanne den schmalen Weg an den Gräbern entlang. Sie beachtet die kleine | |
Gruppe junger Menschen nicht weiter. Wir sind auf dem St.-Jacobi-Friedhof | |
mitten in Berlin-Neukölln. Unter den Armen der Student*innen klemmen | |
Aufgabenpapiere. Sie kommen von der Technischen Universität und sollen den | |
Friedhof erkunden. In Grüppchen laufen sie weiter hinein in das 7,5 Hektar | |
große Friedhofsgelände, dorthin, wo Kartoffeln, Kürbisse und | |
Kapuzinerkresse wachsen. | |
„Es gibt auch hinten noch vereinzelt aktive Gräber, sonst eher hier vorne. | |
Wir haben aber schon seit 2019 keine Neubestattungen mehr“, sagt Luciana | |
Saalbach, eine der Geschäftsführer*innen des | |
Prinzessinnengarten-Kollektivs. Sie führt über das Gelände, auf dem das | |
[1][Kollektiv seit zwei Jahren fest etabliert ist]. Europaweit ist dies das | |
erste Experiment: Ein noch aktiver Friedhof wird langsam zum | |
Gemeinschaftsprojekt umgestaltet. | |
In Neukölln treffen sehr viele verschiedene Menschen aufeinander. Der | |
Friedhof war dabei nicht immer der Rückzugsort, den sich manche gewünscht | |
hätten. Einige Trauernde fühlten sich gestört durch laute Besucher*innen, | |
manchmal fand man Spritzen in verlassenen Ecken, bis der Evangelische | |
Friedhofsverband das Kollektiv ansprach. | |
Zuvor war der Prinzessinnengarten zehn Jahre lang am Moritzplatz in | |
Kreuzberg angesiedelt, suchte aber nach einem langfristigeren Standort. Auf | |
dem St.-Jacobi-Friedhof ist das Kollektiv nicht nur gärtnerisch aktiv, das | |
urbane Landschaften in einen großen Gemeinschaftsgarten mit Bildungsauftrag | |
verwandelt. Die Prinzessinnengärtner*innen sind auch | |
Ansprechpartner*innen für die Nachbarschaft, die zum Trauern kommt, | |
für den Friedhof, wenn „eine Ecke mal wieder sauber gemacht werden soll“. | |
## Die Entscheidung für die Urne | |
Doch warum gibt es in der in den letzten Jahren eigentlich immer weiter | |
gewachsenen Millionenstadt Berlin überhaupt so viel Platz auf Friedhöfen? | |
Weniger Menschen leisten sich heute eine Erdbestattung. Die meisten | |
entscheiden sich für Urnenbegräbnisse und immer häufiger auch für | |
Urnengemeinschaftsgräber. Schon vor zehn Jahren waren fast 80 Prozent aller | |
Bestattungen Urnenbeisetzungen. | |
Das bedeutet für die Friedhöfe zum einen größere unbenutzte Flächen, denn | |
Urnengräber sind deutlich kleiner. Andererseits sinken aber auch die | |
Einnahmen. Geld verdient ein Friedhof mit der Pacht von Gräbern. Je größer | |
ein Grab, umso teurer ist es. Konfessionelle Friedhöfe werden zudem nicht | |
über Steuern mitfinanziert, sondern müssen sich allein unterhalten. Von den | |
über 200 Friedhöfen in Berlin sind 117 evangelisch, 84 sind landeseigen. | |
Bei allen liegt insgesamt gut ein Drittel der Fläche brach. Weil die | |
Instandhaltung der leer stehenden Grünflächen teuer ist, braucht [2][es | |
eine alternative Nutzung]. | |
Je weiter man läuft, umso stiller wird es auf dem St.-Jacobi-Friedhof. Die | |
umstehenden Häuser und Bäume verschlucken den Autolärm auf der nahen | |
Hermannstraße. Ein Hund mit wuscheligem Fell und großen Augen liegt platt | |
vor einigen Hochbeeten und beobachtet kichernde Kinder, die hin und her | |
wuseln. Erwachsene begutachten eine Reihe Grünkohl, an dem sich die | |
Schnecken gütlich getan haben. Weiter hinten liegt der Bereich für | |
Heilkräuter, betrieben von Flamingo e. V., einem [3][Netzwerk für | |
geflüchtete Frauen und Kinder]. Alles hier wirkt idyllisch, eine kleine | |
Oase im Großstadtdschungel. | |
„Es ist manchmal ein Spagat, zwischen den Bedürfnissen der Nachbarschaft zu | |
vermitteln“, sagt Luciana Saalbach. Der Umweltstadtrat des Bezirks hatte | |
immer wieder Bedenken und forderte Änderungen. Inzwischen hat man sich | |
eingespielt und verständigt sich. | |
## Eine ergebnisoffene Diskussion | |
An der Nachnutzung von Friedhöfen sind viele Akteure beteiligt. Der | |
Friedhofsverband arbeitet mit der Stadtentwicklungsgesellschaft Stattbau | |
zusammen, die planend und projektleitend dem Verband zur Seite steht. Auch | |
auf dem St.-Jacobi-Friedhof waren sie dabei, doch während in Neukölln schon | |
viel erreicht ist, schiebt der Friedhofsverband im Wedding mithilfe von | |
Stattbau erst einmal eine „ergebnisoffene“ Diskussion für den bereits | |
stillgelegten St.-Johannes-Evangelist-Friedhof an – ein Projekt, [4][das | |
noch im Findungsprozess ist] und 2030 abgeschlossen sein soll. | |
Beim Betreten des St.-Johannes-Evangelist-Friedhofs fällt als Erstes die | |
fast vollständige Abwesenheit von Grabsteinen auf. Nur am Rande befinden | |
sich noch ein paar Gräber. Doch auch nachdem Grabstätten schon abgeräumt | |
sind, gibt es zum Teil noch länger laufende Pietätsfristen. Die letzte | |
läuft hier 2045 aus. Bauen darf man deshalb noch nicht. Die hoch | |
gewachsenen Nadelbäume stehen auf beinahe leeren Wiesen, in der Mitte eine | |
Kapelle, die so verlassen wirkt wie der Rest des Orts. | |
Bei der Frage, was mit diesem Ort geschehen soll, gehen die Wünsche der | |
Anwohner*innen auseinander. Manche möchten den Park möglichst | |
unverändert belassen, andere wünschen sich Wohnungen wie zum Beispiel Nina | |
Frieß, Bewohnerin der nahe gelegenen Siedlung Schillerpark. „Einen | |
Spielplatz fände ich auch toll, gerne in den Park integriert“, sagt sie. | |
Seit Jahren laufe bereits ein Planungsverfahren mit dem Bezirk, erzählt | |
Sabine Sternberg von Stattbau am Telefon. Man braucht für die | |
Planungsprozesse viele Gutachten. Dennoch will man hier am | |
St.-Johannes-Evangelist-Friedhof schon früh die Ideen der | |
Anwohner*innen einholen. | |
Ende September organisierte Stattbau deshalb eine Aktion auf dem Gelände. | |
Auf einem Lastenrad lag eine große Platte, darauf sah man den Grundriss des | |
Friedhofs und die möglichen Veränderungen. 20 bis 25 Interessierte kamen an | |
diesem teilweise verregneten Dienstag. Mit einer Postkartenaktion versuchte | |
Stattbau außerdem die älteren Bewohner*innen der Umgebung zu erreichen. | |
## Ein Platz für Blumen | |
Auch eine wirtschaftliche Co-Nutzung ist auf stillgelegten Friedhöfen | |
durchaus möglich. „Wir haben eineinhalb Jahre nach einem geeigneten | |
Grundstück für unsere Blumenfarm gesucht“, berichtet Imke Glaser von der | |
Mayda Blumenfarm. Irgendwann kam ihrem Mann Reuben die Idee, auf Friedhöfen | |
zu suchen. Ein längerer Prozess begann, um die passenden | |
Ansprechpartner*innen und das Grundstück zu finden. | |
An einem sonnigen Tag führt Imke Glaser über das Blumenfeld auf dem | |
Zionsfriedhof in Berlin-Pankow, das sie nun seit 2020 bestellen. Vor Kurzem | |
gingen die letzten Dahlien in den Verkauf, jetzt bereitet das Paar die | |
nächste Saison vor. Sie stecken Tulpenzwiebeln, richten das neu gebaute | |
Glashaus ein. Am Schuppen stehen die Eimer, in denen sonst die geernteten | |
Blumen auf Käufer oder den Transport zu den Abonnenten warten. | |
Das 1.200 Quadratmeter große Blumenfeld liegt gleich am Eingang des alten | |
Friedhofsgeländes, etwas versteckt hinter der Kapelle. | |
Dahinter ist ein kleiner Teil des Friedhofs noch aktiv. Geht man aber | |
weiter, führt der Weg hinein in einen gut bewachsenen Wald. Seit 2013 gibt | |
es in diesem Bereich keine Bestattungen mehr, dafür aber auch hier viele | |
Diskussionen und Ideen, was mit dem großen Gelände am Rande Berlins | |
geschehen soll. | |
Die Frage nach Grünflächen und Teilhabe in einer Stadt, die wächst und sich | |
zukünftigen Klimaveränderungen anpassen muss, bleibt bestehen. Wer nimmt | |
teil an der Diskussion? Wie werden die vielen verschiedenen Interessen | |
eingebunden, die an jedem Standort aufeinandertreffen? | |
In Neukölln probieren die Anwohner*innen und Besucher*innen jeden | |
Tag aufs Neue das Miteinander im Grünen. Und auch in Wedding und auf der | |
Blumenfarm in Pankow erforscht man, was alles gehen kann und was eben nicht | |
auf Berliner Friedhöfen. | |
8 Nov 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Friedhoefe-oeffnen-sich-fuer-Gartenprojekte/!5569212 | |
[2] /Bebaute-Friedhoefe/!5541051 | |
[3] https://www.flamingo-berlin.org/ | |
[4] https://mein.berlin.de/projekte/friedhof-st-johannes-evangelist-2030-zusamm… | |
## AUTOREN | |
Nina Süßmilch | |
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