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# taz.de -- Kurt-Weill-Abend in der Berliner Bar jeder Vernunft: Tote können s…
> Die Musik von Kurt Weill ist seit ein paar Jahren wieder sehr präsent auf
> den Berliner Bühnen. Nicht immer aber kommt man ihm dabei auch nahe.
Bild: Eine Erinnerung an den Komponisten Kurt Weill
In der Mitte des Zelts hängt eine große Discokugel. Sie dreht sich nicht.
Aber täte sie es, hätte das alberne Glitzern gut gepasst zu diesem Abend in
der Berliner Bar jeder Vernunft, dem Etablissement für die Großen der
Kleinkunst, das seit vielen Jahren auf einem Parkdeck hinter der
Universität der Künste residiert.
Wir sind die letzten Gäste, als wir eine halbe Stunde vor Beginn der
Veranstaltung eintreffen. Das Stammpublikum pflegt offenbar gern vor der
Vorstellung hier zu speisen und schon etwas vorzuglühen.
Freudige Erwartung liegt in der Luft, Besteckgeklapper mischt sich mit
Gesprächsgewirr, man sitzt dicht an dicht wie zu unpandemischen Zeiten. Ein
anachronistisches Gefühl. Meine Begleitung an diesem Abend ist I., die als
Sängerin selbst auch Kurt-Weill-Lieder im Repertoire hat. Denn ein
Kurt-Weill-Abend soll hier stattfinden, und in gewisser Weise passiert das
auch.
Weills Musik ist seit ein paar Jahren auf den Berliner Bühnen so präsent
wie mindestens seit den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts nicht
mehr. Das ist nicht nur, aber zu einem großen Teil Barrie Koskys Verdienst,
an dessen Komischer Oper erst kürzlich mit „Aufstieg und Fall der Stadt
Mahagonny“ wieder [1][eine Weill-Produktion Premiere hatte]. Und während
der Name Weill früher stets in einem Atemzug mit [2][jenem Bertolt Brechts]
genannt wurde, ja werden musste, hat sich der Komponist in der allgemeinen
Wahrnehmung nunmehr weitgehend von seinem zeitweiligen Librettisten
emanzipiert.
## Persönliche Eitelkeit quillt aus jeder Pore
Musik nach Brecht-Texten macht tatsächlich nur einen kleinen Teil von
Weills Gesamtwerk aus. Nach seiner Emigration 1933 komponierte er emsig
weiter, feierte große Erfolge am Broadway und verwahrte sich energisch
dagegen, von der US-Presse als „deutscher Komponist“ bezeichnet zu werden.
1943 nahm er, gemeinsam mit Lotte Lenya, die US-Staatsbürgerschaft an.
Der Sänger des heutigen Abends im Spiegelzelt hat einen Wikipedia-Eintrag,
der fast so lang ist wie der über Kurt Weill und den er vermutlich selbst
geschrieben hat. Es ist interessant und seltsam, dass jemand so hübsch
singt, gut Klavier spielt, ein angenehmes Äußeres mitbringt und bei all
diesen Vorzügen nicht in der Lage ist, die übergroße persönliche Eitelkeit
zu unterdrücken, die ihm aus jeder Pore dringt.
Kurt Weill jedenfalls kommen wir, trotz aller sauber gesungenen Töne und
einer tollen Begleitband, an dem Abend nicht nahe. Bei der Zugabe, einer
unfassbar manierierten „Seeräuber-Jenny“, höre ich Weill und Brecht
synchron in ihren Gräbern rotieren.
I. empfindet das alles ähnlich wie ich. Das ist gut, denn sonst sehen wir
vieles sehr verschieden. Im Anschluss erzählt sie, dass sie bei
#allesaufdentisch mitgemacht hat und dass sie nicht verstehe, warum
Facebook-Bekannte sich von ihr entfreundet haben. Ich sage, dass es ihr
gutes Recht ist, sich nicht impfen zu lassen, dass aber auch ich keine
Agitations-Whatsapps mehr von ihr bekommen möchte. Und so endet dieser
Abend, der eigentlich Kurt Weill gewidmet sein sollte, in einer doofen
Coronadiskussion.
6 Nov 2021
## LINKS
[1] /Volle-Opernsaele-in-Berlin/!5801607
[2] /Fussball-mit-Bertolt-Brecht/!5748570
## AUTOREN
Katharina Granzin
## TAGS
Kolumne Großraumdisco
Schwerpunkt Stadtland
Bertolt Brecht
Musiktheater
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Operette
Bundesverdienstkreuz
Film
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