| # taz.de -- Die Bratwurst und der Sport: Fußball ist nur der Senf dazu | |
| > Ob Stadionwurst oder ein Metzger als Sponsor: Wichtig wird der Fußball | |
| > immer, wenn's um die Wurst geht. Warum eigentlich? | |
| Bild: Wurstfabrikant und Bayern-München-Ehrenpräsident Uli Hoeneß grillt an … | |
| Der englische Amateurklub Bedale AFC hat vor einigen Jahren skurrile | |
| Trikots als Vermarktungslücke entdeckt. Der von einem Fleischfabrikanten | |
| gesponserte Klub brachte also die Wurst aufs Shirt: Liga-Trikots, über und | |
| über mit Bratwürsten bedruckt, oder eine gigantische Wurst zwischen | |
| Brötchenhälften, recht zweideutig interpretierbar, oder jenes von der | |
| Football Association verbotene Exemplar mit Bratwurst, Kartoffelpüree und | |
| Erbsen. Die brachialste Wurstwerbung des Fußballs machte den Klub | |
| weltberühmt und sorgte für reißenden Absatz. Und gewiss lag das auch am | |
| Produkt selbst. | |
| Die Beziehung des Fußballs zur Wurst ist innig. Die Bratwurst trägt hier | |
| sogar einen eigenen Namen, Stadionwurst. Kaum ein Amateurklub kommt ohne | |
| Werbebande des lokalen Metzgers aus. Auf nationaler Ebene waren die | |
| [1][Deutschen Zerlege-Meisterschaften], zuletzt ausgetragen 2007, | |
| gewissermaßen ein Branchentreff: Der Wettbewerb der Fleischer:innen | |
| wurde veranstaltet von Clemens Tönnies und Uli Hoeneß. Der wohltätige | |
| Verein der beiden, der einst liebevoll „Fleisch zur Freude der Kinder“ hieß | |
| und dem das Geschnetzel zugutekommen sollte, ist mittlerweile umbenannt. | |
| Tönnies und Hoeneß sind nicht allein. Schon zu Anbeginn des Fußballs | |
| tauchen in den Annalen der Klubs häufig zwei Arten von Gönnern auf: | |
| Fleischer und Bierbrauer. Und sie blieben am Ball. Rudi Houdek, großer | |
| Gönner des FC Bayern München ab den sechziger Jahren? Wurstbaron. | |
| Karl-Heinz Wildmoser, jahrzehntelang schillernder Präsident des TSV 1860? | |
| Metzger. | |
| Der FC St. Pauli blühte nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem wegen | |
| Schlachtersohn Karl Miller auf, dem es gelang, in der kargen Nachkriegszeit | |
| Spitzenspieler mit Fleischprodukten nach Hamburg zu locken. „Von Karl | |
| Miller gab es eine Riesenwurst“, erinnerte sich Helmut Schön in „75 Jahre | |
| FC St. Pauli“. | |
| Wohingegen der Rumäne Marius Cioara, der 2006 für eine Ablöse von 15 | |
| Kilogramm Grillfleisch den Verein wechselte, wie der Autor Ben Redelings | |
| schreibt, eher zu den kuriosen Sparten der Wurstkultur zu zählen ist. Das | |
| Sponsoring ergibt natürlich Sinn, Stadionwurst ist ja omnipräsent. Wer aber | |
| war zuerst da, der Wurstbaron oder die Wurst? Und was sagt die Wurst | |
| eigentlich über Fußball? Es stellt sich heraus: fast alles. Von Beginn an. | |
| ## Fußball, Industrialisierung, Bratwurst | |
| Der Berliner Kulturwissenschaftler Christian Kassung hat 2020 das Buch | |
| „Fleisch. Die Geschichte einer Industrialisierung“ veröffentlicht. Denn | |
| Ende des 19. Jahrhunderts, als viele Fußballvereine entstehen, geschieht | |
| parallel, was Kassung „eine der zentralen Zäsuren der Ernährung“ nennt. D… | |
| Industrialisierung erfasst das Fleisch. Es wird jetzt nicht mehr lokal, | |
| sondern zentral geschlachtet; ein ganzes Netzwerk aus Transport, Kühlung, | |
| Distribution entsteht. Fleisch wird Massenware und damit bezahlbar. | |
| „Plötzlich gehört der Wurstverkäufer zum Straßenbild.“ Fußball und | |
| Bratwurst werden fast zeitgleich zu kulturellen Phänomenen. | |
| Und noch etwas ändert sich zu dieser Zeit dramatisch, sagt Kassung. „Anfang | |
| des 19. Jahrhunderts gab es nur eine Welt: Man lebte da, wo man gearbeitet | |
| hat, Arbeit war nicht von Freizeit unterscheidbar. Das änderte sich Ende | |
| des 19. Jahrhunderts. Plötzlich hatte man Freizeit, auch durch Bismarcks | |
| Sozialgesetzgebung. Es bewegten sich enorme Menschenmengen, die unterwegs | |
| ernährt werden wollten.“ Es entsteht die Idee des mobilen Essens, to go. | |
| Pionier dieser Bewegung ist die gigantische Industriestadt Berlin, und dort | |
| die Restaurantkette der Brüder Aschinger, die mit einer genialen Idee reich | |
| werden: energiereiches, günstiges und seinerzeit, ohne Antibiotika im | |
| Fleisch, durchaus gesundes Essen für Arbeiter:innen. Genauer gesagt: | |
| Bratwurst und Bier. | |
| Bratwurst im Brötchen und Bier, das kommt mitnichten ursprünglich aus dem | |
| Fußball, sondern, so Kassung, aus der Arbeiterernährung und Freizeitkultur. | |
| „In Aschingers Bierquelle am Bahnhof Friedrichstraße wurden morgens binnen | |
| Stundenfrist bis zu 2.000 belegte Brötchen verkauft.“ Von da wandert die | |
| Bratwurst, dieser boomende Snack, wohl auch in den Fußball. Was den | |
| wiederum für Metzger interessant macht. | |
| Es sind zudem Männer, die eine völlig andere gesellschaftliche Rolle | |
| spielen als heute. Kassung: „Die Metzger haben eine riesige Rolle gespielt. | |
| Im städtischen Raum waren sie omnipräsent. Es gab nicht nur überall | |
| Metzger, sie waren auch auf den Märkten, das Fleisch war viel sichtbarer | |
| als heute. Heute sind Tiere völlig aus unserem Sichtfeld verschwunden.“ So | |
| kam der Fußball zum Metzger. Heute freilich wird dieser langsam durch den | |
| nahöstlichen Investor oder den Wettanbieter abgelöst. Und damit ändert sich | |
| die Bedeutung der Wurst. | |
| Florian Renz ist durch die Stadionwurst berühmt geworden. Der Soziologe und | |
| Fußballfan hatte das eigentlich nie geplant. Mit Freunden gründete er 2009 | |
| einen Verein namens [2][„fussballwurst.de“] und einen gleichnamigen Blog. | |
| Dort veröffentlichten sie im Laufe der Zeit rund 120 Bratwursttests aus | |
| Fußballstadien, immer auf der Suche nach der besten Stadionwurst. „Mir war | |
| damals gar nicht bewusst, wie schnell man mit der Kombination Fußball und | |
| Wurst Aufmerksamkeit bekommt“, sagt Renz heute. Bald haben sie Hunderte | |
| Anfragen, es folgt eine Nominierung für den Grimme Online Award in der | |
| Kategorie „Kultur und Unterhaltung“. Und obwohl sie 2011 aufhören – | |
| „irgendwann war die Geschichte zu Ende erzählt“ –, bekommt Renz bis heute | |
| Medienanfragen. Für ihn sagt das viel über den Stellenwert der Wurst im | |
| Fußball. | |
| ## Wurst steht für Tradition | |
| Was also bedeutet das heute, Fußball und Wurst? „Der Fußball hat sich in | |
| den letzten zwanzig Jahren so krass weiterentwickelt“, sagt Florian Renz. | |
| „Vielen Fans geht das viel zu schnell, alles rast, es ist nichts mehr, wie | |
| man das kennt. Die Wurst ist dagegen das Altbekannte, sie steht für | |
| Tradition.“ Ständig hätten sie von Fans gehört, die Wurst in der | |
| Halbzeitpause erinnere sie „an früher“. „Der traditionelle Fan im Stadion | |
| ärgert sich über den Kommerzwahn. Er will am Ehrlichen festhalten, mit | |
| echtem Geld am Wurststand zahlen, am liebsten eine Holzkohlewurst am | |
| Dorfplatz. Ob die von einer Kette kommt oder vom lokalen Metzger, war bei | |
| uns auch noch immer so ein Thema. Aber er will nicht mit Punktekarte bei | |
| McDonald’s kaufen.“ | |
| Eine Nostalgie-Erzählung, gepaart mit folkloristischem Antikapitalismus. | |
| Und eigentlich eine zutiefst ironische Wendung. Ein Produkt also, das | |
| ursprünglich wie kein anderes für Industrialisierung, rasanten | |
| gesellschaftlichen Wandel und Urbanität stand, steht nun für Konstanz, | |
| Tradition und Dorfplatz. Jenes Dorf, wo die Wurst als Freizeitgut viel | |
| später erst ankam. | |
| Die Fleischer, die einst als Investoren die Verwandlung des Fußballs in | |
| eine Ware maßgeblich vorantrieben, stehen nun für die gute alte Zeit im | |
| Kontrast zu McDonald’s. Und die Wurst selbst – ursprünglich ein Luxusgut, | |
| ein Zeichen des bürgerlichen Aufstiegs – steht für Bodenständigkeit und | |
| Arbeiterklasse. Die Widersprüche der Kommerzkritik wiederholt Renz bewusst | |
| oder unbewusst selbst, wenn er Kontraste zwischen Superliga und Katar | |
| einerseits und der vermeintlichen Echtheit und Ehrlichkeit der | |
| Dorfplatz-Wurst andererseits aufmacht. | |
| Es ist also auch eine Globalisierungsgeschichte. „Die Wurst ist ein totales | |
| Heimatsymbol“, so Renz. Zumindest in Deutschland. Denn die Liebe zwischen | |
| Fußball und Wurst ist örtlich begrenzt. Wie die Uefa auf einer Karte zeigt, | |
| auf die die Sporthistorikerin Jutta Braun aufmerksam macht, erstreckt sich | |
| der europäische Wurstkontinent westlich: Ab Polen über Tschechien bis | |
| Skandinavien zieht er sich nach Westen. Östlich und südöstlich davon, etwa | |
| in Russland und der Ukraine, herrscht im Stadion Sonnenblumenkern-Land. | |
| Auch das ist ökonomisch sehr erklärbar: 2019 kamen 55 Prozent der | |
| produzierten Kerne weltweit aus Russland und der Ukraine. | |
| Es geht also auch um Verlust des gefühlten Eigenen gegen eine globale | |
| Nahrungskultur. Völlig ohne Substanz ist die wirtschaftliche Kritik dabei | |
| nicht. „Die beste Wurst war immer in den unteren Ligen, auf dem Dorf, ohne | |
| Kette dahinter, schön angegrillt“, findet Renz. Beim FC 08 Villingen habe | |
| der lokale Metzger anschließend um einen Kontakt zum FC St. Pauli gebeten. | |
| Da mussten die Freunde ihm abwinken: Die Großklubs hätten heute alle | |
| Verträge mit Zulieferern. Eine Geschichte wie die von Karl Miller auf St. | |
| Pauli wäre nicht mehr vorstellbar. | |
| Und in Zukunft? Fleisch hat in progressiven Kreisen einen schlechten Ruf, | |
| als Klimakiller und wegen der meist katastrophalen Herstellungsbedingungen; | |
| die einstige Errungenschaft der Arbeiter:innen wurde eine Bastion von | |
| Konservatismus, Männlichkeit und trotzigem „Das wird man doch wohl noch | |
| essen dürfen“. Florian Renz erinnert sich, wie 2009 oder 2010 der FC St. | |
| Pauli als einer der ersten Vereine eine vegane Currywurst verkaufte. Als | |
| sein Freundeskreis daraufhin vegetarische und vegane Alternativen beim | |
| eigenen Verein Altona 93 durchzusetzen versuchte, sei das selbst bei einem | |
| so verhältnismäßig alternativen Verein schwer gewesen. „Es war, als würde | |
| man sich mit Weinglas an den Fußballplatz stellen. Denn zum Fußball gehört | |
| die traditionelle Wurst – so die gelernte Grundhaltung.“ | |
| Wie sich einem Artikel der FAZ, allerdings von 2015, entnehmen lässt, sei | |
| die Zahl der Abnehmer:innen vegetarischer Produkte im Stadion | |
| verschwindend gering. Es genügt ein Blick in die Nachrichten der | |
| vergangenen Woche, um die anhaltende Dominanz der Wurst nachzuvollziehen: | |
| Uli Hoeneß schimpft über Veganer:innen. Thomas Tuchel serviert seinem Team | |
| Weißwurst. Ex-Profi Erik Meijer, auch ein gelernter Metzger, kritisiert | |
| hohe Ablösesummen mit den Worten: „Da sage ich mit meinem | |
| Metzgermeisterverstand: nein.“ Und in Stuttgart gibt es seit einigen Jahren | |
| eine neue Edelmetzgerei, betrieben von den Ex-Profis Martin Harnik und | |
| Daniel Ginczek. | |
| Und dennoch. Die Welt dreht sich weiter. Ausgerechnet der ehemalige | |
| Arbeiterverein Schalke 04 und Territorium des Fleischbarons Clemens Tönnies | |
| hat heute nach Angaben der Tierschutzorganisation [3][Peta] das größte | |
| vegetarische Angebot im Stadion. Die englischen Forest Green Rovers | |
| vermarkten sich erfolgreich als erster veganer Klub der Welt. Unter | |
| Sportler:innen, auch im Fußball, boomt vegane Ernährung. Und der eingangs | |
| erwähnte Bedale AFC trug 2020 tatsächlich ein Trikot mit gigantischer | |
| Karotte. Der Wurst-Sponsor möchte nämlich seine veganen Produkte stärker | |
| bewerben. Fleischfreie Ernährung ist, so sagt Christian Kassung, heute eine | |
| bewusste, selbstbewusste Form des Essens. Wie einst die Wurst. | |
| 22 Oct 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Kolumne-Die-raetselhafte-Welt-des-Sports/!5123225 | |
| [2] https://detektor.fm/wirtschaft/hallo-nachbarn-fussballwurst-de-das-runde-un… | |
| [3] https://www.peta.de/presse/schalke-04-bleibt-veggie-meister-peta-kuert-vega… | |
| ## AUTOREN | |
| Alina Schwermer | |
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