| # taz.de -- Philip Adams und CTE durch Sport: Ein Ende des Schweigens | |
| > Der Ex-NFL-Profi Philip Adams hat sechs Menschen getötet. Ein Grund dafür | |
| > soll die Hirnkrankheit CTE sein, an der er durch Football erkrankte. | |
| Bild: Phillip Adams spielte bis 2015 in der NFL | |
| Phillip Adams muss lange gelitten haben, bevor er seinem Leben und dem von | |
| sechs weiteren Menschen ein Ende setzte. Im April 2021 hatte der ehemalige | |
| NFL-Profi in den USA scheinbar unerklärlich sechs Menschen ermordet. Danach | |
| hat er Suizid begangen, die Tat hatte große Beachtung gefunden. Die | |
| Untersuchungsergebnisse vom Dienstag helfen den Angehörigen nicht mehr, | |
| bieten aber zumindest eine Erklärung. | |
| Adams habe Gedächtnisprobleme gehabt, sei paranoid geworden, habe immer | |
| impulsiveres Verhalten gezeigt und die eigene Körperpflege vernachlässigt. | |
| Er habe sich zurückgezogen, unter starken Schmerzen gelitten, unter | |
| Schlaflosigkeit. So erzählte es die Familie von Phillip Adams. Schon | |
| unmittelbar nach den Morden sagte seine Schwester Lauren Adams gegenüber | |
| USA Today: „Seine geistige Gesundheit hat sich in den letzten Jahren | |
| wahnsinnig schnell und heftig verschlechtert.“ Die Familie sei extrem | |
| besorgt gewesen. Nun hat die Boston University nachgewiesen: Phillip Adams | |
| hatte schwere CTE. | |
| CTE, das ist ein Wort, das Kontaktsportarten womöglich ganz grundlegend | |
| verändern wird. Die Abkürzung CTE steht für Chronisch Traumatische | |
| Enzephalopathie – eine Hirnkrankheit, die sich durch Depressionen, Demenz | |
| und Gedächtnisverlust ausdrücken kann, aber auch durch starke Aggression. | |
| Es sei schwer, die Krankheit zur einzigen Tatursache zu erklären, sagte die | |
| untersuchende Neuropathologin Ann McKee von der Uni Boston, eine Pionierin | |
| auf dem Gebiet, am Dienstag auf einer Pressekonferenz. Unter anderem wurden | |
| Amphetamine in Adams’ Körper nachgewiesen. Aber: „Wir haben Tötungen bei | |
| anderen CTE-Erkrankten beobachtet.“ Wie bei Aaron Hernandez, einem Mörder, | |
| der in Haft Suizid beging. Auch Hernandez war Footballprofi in der NFL. | |
| Ex-Footballer Junior Seau beging ebenfalls Suizid, auch er hatte CTE. Hat | |
| die Footballkarriere von Phillip Adams die CTE verursacht? „Definitiv“, | |
| sagt die Neuropathologin Ann McKee. | |
| CTE entsteht sehr wahrscheinlich durch Kopferschütterungen; kleine | |
| Traumata, die, wenn sie immer wiederkehren, das Gehirn massiv schädigen. | |
| Etwa bei Zusammenstößen zweier Spieler:innen im Football, Rugby oder | |
| Eishockey. Bei Schlägen gegen den Kopf im Boxen. Bei [1][Kopfbällen im | |
| Fußball]. In vielen dieser Sportarten haben Spitzensportler:innen ein | |
| erhöhtes Risiko für neurologische Erkrankungen. | |
| Der vielleicht berühmteste Patient war Muhammad Ali, schwer gezeichnet von | |
| Parkinson und womöglich CTE. Bei 315 ehemaligen NFL-Spielern hat die Boston | |
| University inzwischen CTE nachgewiesen. Das Problem ist aber auch: Bei | |
| lebenden Athlet:innen lässt sich die Krankheit nicht diagnostizieren. | |
| Die Prävalenz ist also unklar, die Evidenz eher anekdotisch. Solange CTE | |
| nicht bei Lebenden nachweisbar ist, wird die Debatte lückenhaft bleiben. | |
| Allein die anekdotischen Zahlen erkrankter NFL-Profis aber sind deutlich | |
| höher als in der Durchschnittsbevölkerung. | |
| Die Gelddruckmaschine NFL hat lange alle Geschütze aufgefahren, um Kritik | |
| zum Schweigen zu bringen. [2][Journalist:innen, Spieler und Ärzt:innen | |
| berichten davon, unter Druck gesetzt worden zu sein]; der Verband hat laut | |
| einer Untersuchung absichtlich falsche Studien publiziert. Erst 2017 war er | |
| gezwungen, öffentlich einen Zusammenhang zwischen CTE und Football | |
| einzuräumen. | |
| ## Es bröckelt an den Festen des Sports | |
| Inzwischen gibt es zwar Maßnahmen wie das [3][„Concussion Protocol“], bei | |
| dem Spieler mit Gehirnerschütterung aus dem Spiel genommen werden sollen, | |
| Helm-auf-Helm-Tackles sind verboten, und neue Helme sollen Spieler:innen | |
| besser schützen. Aber was, wenn all das nur die Oberfläche berührt? | |
| Dass ständige heftige Zusammenstöße mit Gegner:innen, Boxhiebe auf den | |
| Kopf, tägliche Kopfstöße gegen einen Lederball nicht gut für das Gehirn | |
| sein können, ist klar. [4][Der Ex-Footballer Chris Nowinski verglich die | |
| Innovationen gegenüber der taz 2018 mit Zigarettenfiltern] – hilfreich | |
| gewiss, aber dann doch eher in Maßen. Was bedeutet all das für den Sport? | |
| Schon jetzt gibt es die ersten Regeländerungen, etwa Kopfballverbote im | |
| Jugendfußball. Aber Football und Boxen ohne Stöße an den Kopf sind so gar | |
| nicht möglich. Entweder müssen Hirnschäden in Kauf genommen werden oder – | |
| über den zweiten Teil dieses Satzes möchte niemand allzu laut nachdenken. | |
| Für die Kontaktsportarten geht es in dieser anschwellenden Debatte ganz | |
| wörtlich um Kopf und Kragen. Die NFL hat dafür keine Strategie, sie stellt | |
| sich bei Betroffenen weiter taub. Zumindest laut der Familie von Phillip | |
| Adams: „Wir wissen, dass er verzweifelt um Hilfe von der NFL gebeten hat, | |
| nachdem er die Patientenakte seiner Footballkarriere durchgegangen war. | |
| Aber die NFL hat alles abgewimmelt, weil er nicht mehr in der Lage war, | |
| sich an Dinge zu erinnern und scheinbar einfachen Tätigkeiten nachzugehen, | |
| zum Beispiel stundenlang zu Ärzten zu fahren oder lange Untersuchungen zu | |
| machen.“ Die NFL hat sich bisher nicht geäußert. | |
| Das laute Schweigen dürfte langfristig wenig nützen, zu virulent ist die | |
| Debatte geworden. Und natürlich liegen darunter weitere Ebenen. [5][Viele | |
| Ex-Profis sind schon im mittleren Alter schwer geschädigt], mit künstlichen | |
| Hüften und Knien, mit kaputten Knochen und Bändern, mit Organschäden vom | |
| Schmerzmittelkonsum und Depressionen. Wenn das alles akzeptiert ist, müsste | |
| man nicht auch CTE akzeptieren als eine Folge, die Extremsport eben hat? | |
| Oder aber umgekehrt: Wenn CTE nicht akzeptabel ist, was sonst noch nicht? | |
| Das bröckelt an den Festen des Sports. | |
| Und es gibt eine soziale Komponente. Viele körperbetonte Sportarten wie | |
| Football und Boxen werden – zumindest, soweit sich das anhand von | |
| historischer und kultureller Evidenz sagen lässt, wissenschaftlich ist | |
| Klassenzugehörigkeit im Profisport nicht erfasst – vor allem von | |
| sozioökonomisch Marginalisierten ausgeübt, jedenfalls im Männerbereich. | |
| Es hat, so stellen Soziolog:innen fest, viel zu tun mit Körperbildern | |
| und Habitus, mit Konflikterfahrungen, [6][Männlichkeitsbildern] und der | |
| Demonstration von körperlicher Stärke, wo Glänzen mit akademischen | |
| Fähigkeiten nicht möglich ist. | |
| Und gerade solche Sportarten haben mitunter soziale Vorzüge: | |
| Auseinandersetzung mit sich selbst, Zugehörigkeit, Struktur, Streetwork. | |
| Soll man Menschen, die einen Sport freiwillig ausüben, über dessen Risiken | |
| viel gesprochen wird, überhaupt daran hindern? Wie freiwillig aber ist | |
| diese Freiwilligkeit in einer Klassengesellschaft? Dem Kontaktsport stehen | |
| vielleicht interessante Debatten bevor. | |
| 15 Dec 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Gesundheit-im-Sport/!5635777 | |
| [2] https://www.zeit.de/sport/2016-12/american-football-kopfverletzung-urteil | |
| [3] https://www.nfl.com/playerhealthandsafety/health-and-wellness/player-care/c… | |
| [4] /Archiv-Suche/!5481827 | |
| [5] https://www.planet-wissen.de/gesellschaft/krankheiten/depression_wenn_die_s… | |
| [6] /Konsens-beim-Sex/!5819081 | |
| ## AUTOREN | |
| Alina Schwermer | |
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