# taz.de -- Feministische Songtextsammlung: Männer in der Unterzahl | |
> Für mehr Vielfalt im Pop. „Ich brauche eine Genie“, eine Songsammlung in | |
> Buchform, würdigt das Werk von 70 Popmusikerinnen. | |
Bild: Die umtriebigen Grether-Sisters mit einem Verstärker und einer Gitarre | |
Nur Männer können Genies sein! So steht’s jedenfalls bei Wikipedia. Das | |
ausgestorbene Konzept des Universalgenies wird in einem Lexikoneintrag | |
ausschließlich Männern zugeschrieben. Und auch bei den spezialisierteren | |
Talenten sieht es wenig besser aus. Zur Illustration ein Auszug: | |
„Weibliches Genie hat, wenn es tatsächlich auftritt, eine höhere | |
Wahrscheinlichkeit, in den schönen Künsten …, insbesondere in der | |
Literatur. | |
Zum Beispiel sind die weiblichen Anteile an Weltliteratur aus einzelnen | |
Kulturen wie folgt: Westlich 4 Prozent, Arabisch 1 Prozent, Indisch 5 | |
Prozent, Chinesisch 4 Prozent und Japanisch 8 Prozent.“ Wer jetzt denkt: | |
Ein solcher Kanon bildet Strukturen ab, die Frauen über Jahrhunderte von | |
allem ausgeschlossen haben – blendet aus, dass die Gegenwart alles andere | |
als toll ist. | |
Selbst in der Popkultur und sogar in deren subkulturellen Nischen, in denen | |
man sich transgressiv gibt und für progressiv hält, sind Männer in der | |
Überzahl. Erst in jüngerer Zeit ist da einiges [1][in Bewegung] gekommen. | |
## Von der Galashow zum Textreader | |
Ihre Textsammlung „Ich brauche eine Genie!“ haben [2][Sandra und Kersty | |
Grether] also mit Recht und gutem Grund grammatikalisch falsch betitelt. | |
Seit 2017 gastieren die beiden Berliner Schwestern mit ihrer | |
abwechslungsreichen, bisweilen euphorisierenden Gala-Show „Ich brauche eine | |
Genie“ regelmäßig in der Kantine Berghain (coronabedingt fand die Reihe | |
zwischendurch im Stream statt). Sie bieten damit nicht nur Musikerinnen, | |
sondern auch Autorinnen eine Plattform; einen gleichnamigen Blog gibt es | |
zudem. | |
Dass geförderte Strukturen nötig sind, wissen sie aus eigener Erfahrung. | |
Sandra hat mit dem Musikbetrieb auf verschiedenen Ebenen zu tun: als | |
Musikerin, Labelmacherin und Bookerin. Zusammen mit ihrer Schwester, die | |
bereits als junge Frau in den 1990er Jahren für das Musikmagazin Spex als | |
Autorin schrieb, wurde sie zu einer zentralen Stimme des hiesigen | |
Popfeminismus. Mit ihrer gemeinsamen Band Doctorella machen die beiden | |
zudem chansonhaften Pop mit surrealem Twist – um immer wieder | |
festzustellen, dass sie es als Band schwer haben. | |
Zwar gibt es mittlerweile durchaus Großveranstaltungen, die auf ein | |
ausgewogenes Booking setzen: das „Reeperbahn-Festival“ in Hamburg etwa und | |
das Festival „Pop-Kultur“ in Berlin. Doch oft kommt von | |
Programmgestalter:innen nicht viel mehr als Schulterzucken, verbunden | |
mit der Behauptung, eine Quote sei nicht praktikabel. Angeblich gäbe es zu | |
wenig Künstlerinnen, die Musik machen; weil das Publikum auf „große“ Namen | |
konditioniert sei und man kommerzielle Tragfähigkeit im Auge behalten | |
müsse. | |
## Renaissance der großen Namen | |
Besonders letzteres Argument, so steht zu befürchten, könnte | |
pandemiebedingt eine Renaissance erleben; schließlich will die gebeutelte | |
Branche wieder auf die Beine kommen. Wobei doch gerade die letzten | |
anderthalb Jahre gezeigt haben, dass Künstler:innen nicht um die Welt | |
fliegen müssen, damit am Ende ein spannendes Programm herauskommt. | |
Stattdessen könnte man es ja auch mal mit den bislang unterrepräsentierten | |
Musikerinnen versuchen. | |
Genau hier setzt das Songbook „Ich brauche eine Genie“ an. Anders als bei | |
den Liveshows liegt dabei der Fokus ausschließlich auf Musik. Eine | |
eklektizistische Riege von 70 Musikerinnen und (vorwiegend) weiblichen | |
Bands wird vorgestellt – prominente und weniger bekannte, weitgehend aus | |
der hiesigen Subkultur. Im Mittelpunkt stehen ihre oft tollen Songtexte, | |
gelegentlich werden auch Akkorde verraten. | |
Die schräg grenzgängerische Berliner Künstlerin Mary Ocher trifft hier etwa | |
auf Maike Rosa Vogels Songwriter-Popfolk, der gefühlig, aber luftig | |
daherkommt. Unbedingt lesens- und hörenswert auch die Wiener Rapperinnen | |
Klitclique, die HipHop-Rap-Konventionen auf links drehen. Einzelne Namen | |
aus dem Buch herauszugreifen wirkt bei dieser wilden Mischung jedoch fast | |
ungerecht – besser ist es, einmal in [3][die Spotify-Playlist reinzuhören]. | |
Wenn man ihn aufschlägt, wirkt dieser Wälzer wie ein mit Herzblut | |
gestaltetes Fanzine, von außen fast wie ein Coffetable-Buch. Es erzählt | |
nicht nur aus der Gegenwart, sondern schreibt zugleich eine alternative | |
Geschichte des deutschen Indie-Pop. In ihr spielen Frauen-Bands wie | |
Malaria!, die [4][Lassie Singers] und auch die Pop Tarts die Rolle, die | |
sonst zumeist Musikern, etwa der Hamburger Schule, zugedacht wird. | |
Erfrischend zudem, dass es sich bei dem Band um ein Buch zum Blättern | |
handelt, das nicht in erster Linie der Geschmackssicherheit des*r | |
Besitzer*in von besagtem Kaffeetisch demonstrieren will, sondern vor | |
allem großartige Vielfalt abbildet. | |
7 Oct 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Neuer-Artschoolpop-von-Britin-Tirzah/!5804816 | |
[2] /Popfeministische-Band-Doctorella/!5362004 | |
[3] http://www.ichbraucheeinegenie.de/2021/08/09/hier-gehts-zur-spotify-playlis… | |
[4] /Nachruf-auf-Almut-Klotz/!5060940 | |
## AUTOREN | |
Stephanie Grimm | |
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