# taz.de -- Konzertempfehlung für Berlin: Popfeministischer Nahkampf | |
> Die neue Veranstaltungsreihe „Ich brauche eine Genie“ betont auch in | |
> ihrer zweiten Ausgabe heute Abend das Können von Musikerinnen. | |
Bild: Sandra Grether vor einem Gemäuer am Berghain | |
Ja, ja, die Genialen Dilletanten: 36 Jahre ist es her, dass Berliner | |
Post-Punks und Künstler sich unter diesem Label mit einem Festival feierten | |
(die Schreibweise war angeblich ein Versehen, keine Umsetzung von | |
Name-ist-Programmatik). Seither ist daraus ein geflügeltes Wort geworden, | |
Legenden wurden gestrickt. | |
Aber Punk ist lange tot – und genial oder zumindest originell war das Ganze | |
sowieso nur manchmal. Höchste Zeit also für Gegenprogramm: „[1][Ich brauche | |
eine Genie]“ heißt eine neue Veranstaltungsreihe in der Kantine am | |
Berghain. Das „e“ am Artikelende ist hier übrigens volle Absicht. | |
In der Berliner Boheme und anderen Subkulturen muss man sich nämlich nach | |
wie vor gegen die Unterstellung abgrenzen, das Amateurhafte zur Kunstform | |
zu erheben – zumindest, wenn man eine Frau ist. So sieht es jedenfalls | |
Sandra Grether, die seit über 20 Jahren als Musikerin, Labelbetreiberin | |
(Bohemian Strawberry Records) und Bookerin Erfahrungen mit dem Musikbetrieb | |
hat und darüber mit ihrer schreibenden Zwillingsschwester Kerstin zu einer | |
zentralen Stimme des Popfeminismus wurde. | |
Aktuell machen die beiden mit ihrer Band [2][Doctorella] dadaistisch | |
angehauchten Chanson-Pop. Im Repertoire übrigens ein fast gleichlautender | |
Song („Ich brauche ein Genie“), der charmant die Fallstricke romantischer | |
Liebe verhandelt. | |
Leider gibt es ähnliche Fallstricke, wenn man sich auf Augenhöhe mit | |
männlichen Kollegen bewegen und ernst genommen werden will. Deshalb legen | |
die beiden mit ihrer geförderten Reihe nicht nur den Fokus auf | |
Künstlerinnen (neben Musikerinnen treten Autorinnen auf), sondern betonen | |
explizit deren Können. | |
Denn das Genietum ist immer noch gendercodiert. Zumindest Wikipedia zufolge | |
gibt es nur männliche Universalgenies. Im Pop und dessen Subkulturen ist | |
das Verständnis kaum progressiver. „Selbst die CDU ist weiter als die | |
Musikindustrie in Deutschland“, findet Sandra Grether. Immer noch mache man | |
als Musikerin nervtötende Erfahrungen, auf unterschiedlichsten Ebenen. | |
„Unsere Bekanntheit mit Doctorella und als Personen, die es uns ermöglicht, | |
mehr als 50 Clubshows in einem Jahr zu spielen, steht in keinem Verhältnis | |
dazu, dass wir von 100 Festivals 100 Absagen bekommen beziehungsweise | |
ignoriert werden.“ Bei Bands wie Isolation Berlin oder Ja, Panik, so fügt | |
sie an, steht doch gar nicht zur Debatte, dass sie überall spielen sollen. | |
„Bis vor zwei Jahren hieß es immer: Es gibt doch xyz. Dann werden zwei, | |
drei Acts aufgezählt, die oft nicht einmal aus Deutschland sind, also nicht | |
innerhalb der lokalen Strukturen aufgebaut wurden. Wir glauben, dass es ein | |
subtiler Sexismus ist, nur englischsprachige Sängerinnen wahrzunehmen. Das | |
hat schon was von Mund(-und Musik)-Verbieten.“ | |
Auch wenn es durchaus Anzeichen für einen Bewusstseinswandel gibt: Das | |
letzte [3][Pop-Kultur-Festival] etwa hatte eine konsequente Quote. Und seit | |
das Netzwerk [4][female:pressure] 2013 erstmals eine Studie über | |
Elektronikfestivals veröffentlichte, ist Bewegung in die Szene gekommen, | |
manchem Booker wurden die Augen geöffnet. Trotzdem waren auch im | |
vergangenen Jahr noch 77 Prozent aller Festival-Acts männlich. | |
„Auf Indie-Festivals ist der Schnitt sogar 92 Prozent. Deshalb ist es | |
wichtig, knallhart Zahlen zu nennen. Andere Argumentationen – Frauen machen | |
genauso gute Musik etc. – bleiben immer schwammig. Mit Zahlen wird klar, | |
dass Frauen wirklich ausgeschlossen werden. Es gibt schließlich viel mehr | |
professionelle Musikerinnen, als die Entscheider wahrhaben wollen“, erklärt | |
Grether und fügt lakonisch dazu. „Was wir machen, ist eben der Nahkampf.“ | |
Trotzdem wollen sie mit der Veranstaltung nicht in eine Ecke gedrängt | |
werden, sondern da sein, wo Relevanz ist (weswegen sie sich auch besonders | |
über das Berghain als Ort freuen). „Das Besondere an unserer Reihe ist, | |
dass wir die Zweifler-Argumente kennen, zum Teil verstehen, auf jeden Fall | |
aber mitbedacht haben. Wir finden es selbstverständlich, dass auch viele | |
Männer kommen.“ | |
Der Auftakt der „Genie“-Reihe fand im Juni statt, unter widrigen Umständen: | |
Vor der Tür ging Starkregen nieder. Auch wenn eine verschworene | |
Gemeinschaft trotzdem kam, ist der anstehende Abend eine Art zweite | |
Premiere. Es soll eine regelmäßige Reihe daraus werden, anvisiert sind vier | |
Termine im Jahr als bunt gemischte Gala. | |
Diesmal wird Teresia Enzensberger aus „Blaupause“ lesen, ihren historischen | |
Roman über eine Bauhaus-Studentin, der von ihren Künstlerfreunden wenig | |
zugetraut wird. Es hat sich offenbar nicht allzu viel getan in | |
Szenezirkeln. | |
Zudem ist [5][Cäthe] zu Gast, die Songschreiberin mit der markanten Stimme | |
und den autobiografischen Texten, ebenso das Punk-Trio [6][Shirley Holmes]. | |
Die erfinden das Rad zwar nicht neu, drehen es aber munter weiter. Dank des | |
Rockschwerpunkts werden auch die Gastgeberinnen zu ihren Instrumenten | |
greifen. Das DJ-Team The Brides – Funkarella & Marizla sorgt fürs | |
Nachgrooven. | |
Just am selben Abend – wie schade – spielt mit Christiane Rösinger eine | |
Frau, die mit den Lassie Singers und Britta Popgeschichte schrieb und die | |
zum Geschlechterverhältnis im Pop auch einiges zu erzählen hätte (20.30 | |
Uhr, [7][Festsaal Kreuzberg]). | |
Ihr Werdegang wäre als Mann vermutlich anders verlaufen. Schließlich bringt | |
sie auf eine wirklich einzigartige Weise in ihren Büchern und Songs Humor | |
und Melancholie zusammen, zuletzt auf dem Album „Lieder ohne Leiden“. Ihr | |
Publikum hat sie trotzdem gefunden. Der Auftritt ist der Zusatztermin zur | |
ausverkauften Show im April. | |
Dieser Text erscheint im taz.plan. Mehr Kultur für Berlin und Brandenburg | |
immer Donnerstags in der Printausgabe der taz | |
19 Oct 2017 | |
## LINKS | |
[1] http://www.musicboard-berlin.de/ich-brauche-eine-genie/ | |
[2] http://www.doctorella.de/ | |
[3] http://www.pop-kultur.berlin/ | |
[4] http://www.femalepressure.net/ | |
[5] http://www.xn--cthe-loa.de/ | |
[6] http://shirleyholmes.de/ | |
[7] http://www.festsaal-kreuzberg.de/ | |
## AUTOREN | |
Stephanie Grimm | |
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