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# taz.de -- Berliner Subkultur-Salon im Netz: Im Beat der Angst
> Für die elfte Ausgabe von ihrem „Krawalle und Liebe“-Salon sind die
> Grether-Twins vom Brecht-Haus ins Internet gezogen – samt Schalte vom
> Friedhof.
Bild: Die Grether-Zwillinge beim liebevollen Krawallmachen...
Ins Internet fliehen. Kulturformate als Stream oder Video anbieten. Das ist
das Gebot der Stunde, und das ist auch bei „Krawalle und Liebe“, dem
Literatur- und Musiksalon der Zwillingsschwestern Kerstin und Sandra
Grether, nicht anders. Eigentlich laden die beiden Popmusikerinnen und
-autorinnen – sie spielen zusammen in der Band Doctorella, schrieben unter
anderem für die Spex – ihre Gäste ins Brecht-Haus. Nun moderieren sie eine
Corona-Edition aus dem heimischen Wohnzimmer vor dem Laptop. Die Gäste
werden diesmal via Videoclip oder -chat aus Küchen, Wohnzimmern oder
Proberäumen zugeschaltet, Konzertveranstalter Ran Huber meldet sich gar als
Außenkorrespondent vom Friedhof. Dazu später mehr.
Es ist [1][eine gelungene Sendung], so viel vorab, die Mischung aus
Amüsemang, (Gender-)Politik und Loslabern ist gerade in diesen Tagen
wohltuend, und coronafreie Sequenzen gibt’s auch. Aber das Virus ist
natürlich in der Welt, es taucht immer mal wieder auf, zu Beginn setzt sich
etwa Autorin und Dramatikerin Sasha Marianna Salzmann damit auseinander,
was die Pandemie mit uns macht. „Corona (…) besetzt jede Phase des
Hirnmuskels“, liest sie aus einem Essay, in dem sie beschreibt, dass die
Arbeit für die Kulturschaffenden unmöglich geworden sei. „Unsere Körper
pulsieren im Beat der Angst / Angst um die eigene Gesundheit / Um die
Gesundheit anderer / Um den Arbeitsplatz / Die Miete, die zu zahlen ist /
Um die Spielstätten, die einem ein sicherer Hafen sind / Die
Lieblingscafés, die Buchhandlungen.“
Stärker noch ist der Teil des Essays, in dem Salzmann über vertikale und
horizontale Solidarität nachdenkt – Ersteres wäre quasi die von
Einzelpersonen geleistete Umverteilung von Reich nach Arm (sie nennt die
NBA-Spieler, die zuletzt an einfache Vereinsmitarbeiter gespendet haben),
Letzteres die gegenseitige Unterstützung, die man sich von Prekär zu Prekär
anbietet. Was Kulturschaffende sonst tun können? Utopien formulieren, sie
diskursfähig machen. Sie nennt auch ein Beispiel: eine globale medizinische
Grundversorgung. Wahrlich ein utopischer Gedanke im Moment.
## Ziemlich viel Diskurs
Der diskursive Anteil der Sendung ist ziemlich hoch. So gibt Autor Mark
Terkessidis (ebenfalls Ex-Spex) einen Einblick in sein jüngstes Buch
„Wessen Erinnerung zählt? Koloniale Vergangenheit und Rassismus heute“, das
vergangenes Jahr bei Hoffmann + Campe erschien. Terkessidis erklärt, worum
es geht; er stellt die Debatte über den Kolonialismus dahingehend infrage,
dass der Terminus in Deutschland nur das Reden über die überseeischen
Kolonien bezeichne. „Den deutschen Drang nach Osten subsumieren wir nicht
unter Kolonialismus – warum eigentlich nicht?“, fragt er sich. Man müsse
den Begriff weiter fassen als das, was man in der Regel als deutsche
Kolonialzeit bezeichnet. Beispielsweise werde sehr selten über die
sogenannte kleindeutsche Lösung nach der Revolution 1848 gesprochen, als
Preußen polnischen Gebiete zugesprochen wurden.
Eine Diskussion zu dem Thema wäre hier aber wohl interessanter gewesen als
dieser kurze Abriss. Schließlich geht es um nicht weniger als darum, „eine
neue Erinnerungsgeschichte für die Bundesrepublik Deutschland zu
begründen“, wie Terkessidis sagt.
Falls das nun so klingt, als sei die Show von schweren Themen bestimmt: Dem
ist nicht so, dafür sorgen etwa gut gelaunte Talks über Riot Grrrl und
Popfeminismus mit Sonja Eismann vom Missy Magazine und ein Gespräch über
die Verschwörungstheorien zum Suizid von Kurt Cobain mit Lutz Klüppel vom
Brecht-Haus – er outet sich, dass er all das Zeug, was um eine mögliche
Verwicklung von Cobains Freundin und Hole-Sängerin Courtney Love kursierte,
zeitweilig für bare Münze genommen habe. Passend dazu ist im musikalischen
Teil die Songwriterin Katharina Kollmann zu Gast, die ihr Projekt
Nichtseattle nennt. Sie schaltet sich aus dem Proberaum zu, gibt drei Songs
zum Besten und erzählt von den Plänen eines neuen Albums. Der Berliner
Songwriter Jakob Dobers spielt dagegen ein intimes Küchenkonzert und weiß
mit dem coronakompatiblen Song „Neue Sachen“ zu überzeugen. Zwischendurch
liest Kerstin Grether in der knallvollen Sendung noch aus ihrem Buch „An
einem Tag für rote Schuhe“ eine Szene, in der die Protagonistin in einer
Kneipe auf ein sexistisches Arschloch trifft – sie kommentiert passend:
„Gerade habe ich eine solche Sehnsucht nach Kneipen, dass ich fast lieber
ein Arschloch kennenlernen würde, als gar nicht auszugehen.“
Womit man wieder bei Corona wäre. Die Quarantäne hat der umtriebige
Berliner Konzertveranstalter Ran Huber („Am Start“) kurz verlassen, um eine
Videobotschaft zu senden – von einem Friedhof. Der stehe sinnbildlich für
die Lage der Berliner Clubs. Die Coronakrise, so Huber, verstärke massiv
viele Probleme, die schon vorhanden waren. Er verweist auf
[2][Spendenkampagnen] für seine eigene Konzertreihe und für Clubs wie das
Urban Spree, das About Blank und die Z-Bar. Und er verabschiedet sich mit
den Worten: „Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder in einer anderen und
schöneren Welt.“ Welch gutes Schlusswort!
12 Apr 2020
## LINKS
[1] https://www.ichbraucheeinegenie.de/2020/04/09/now-krawalle-und-liebe11-die-…
[2] http://amstart.tv/goinout.html
## AUTOREN
Jens Uthoff
## TAGS
Schwerpunkt Coronavirus
Subkultur
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Feminismus
Proberaum
Deutscher Kolonialismus
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