| # taz.de -- Grüne im Bundestag: Die Abgeordnete zum Pferdestehlen | |
| > An diesem Dienstag tritt der neue Bundestag zu seiner konstituierenden | |
| > Sitzung zusammen. Die 28-jährige Jamila Schäfer ist für die Grünen dabei. | |
| Bild: „Wir machen jetzt Aufbruch“, sagt Jamila Schäfer und meint damit Kli… | |
| München taz | Nebenan wird geschossen. Auf dem herrschaftlichen Anwesen des | |
| Augustiner Schützengartens hat auch die Königlich Privilegierte | |
| Hauptschützengesellschaft München 1406 ihren Sitz – und ihre Schießstände. | |
| Der Rest gehört der Gastronomie, ein großer Biergarten samt Lokal und | |
| mehreren Veranstaltungsräumen. Im großen Festsaal wird gerade eine Hochzeit | |
| gefeiert, im Schützenzimmer treffen sich die Grünen. | |
| Genauer gesagt sind es die Mitstreiter der neuen Münchner | |
| Bundestagsabgeordneten [1][Jamila Schäfer], die sich am Samstagnachmittag | |
| hier eingefunden haben. Im Schützengarten hat Schäfer während des | |
| Wahlkampfs immer wieder Veranstaltungen abgehalten. Er liegt einigermaßen | |
| zentral, ist von überall im Wahlkreis München-Süd gut erreichbar. Jetzt | |
| gilt es, den Menschen Danke zu sagen, die sie im Wahlkampf unterstützt | |
| haben, die an den Infoständen gestanden und Plakate geklebt haben, mit | |
| ihren Flyern von Haustür zu Haustür gegangen sind. Im Schützenzimmer wird | |
| Sekt herumgereicht. | |
| Gleich wird Schäfer die kanaldeckelgroße Torte mit Sonnenblumenmotiv | |
| anschneiden. Vorher spricht sie aber noch zu ihren Leuten. Von der | |
| Möglichkeit, jetzt in Berlin einen echten Aufbruch hinzubekommen, von den | |
| Biotopen an der Isar, vom Zusammenhalt in der Stadt, dem Wohnungsproblem – | |
| und, klar, von der gemeinsamen Leistung in diesem Wahlkampf. „Und dann“, | |
| sagt Schäfer, „haben wir auch das letzte Ziel noch erreicht: dieses | |
| Direktmandat zu holen.“ Riesenapplaus. Bis irgendeiner in den Saal ruft: | |
| „Jetzt schaut mal, dass unsere Abgeordnete ein Glas bekommt, damit wir | |
| anstoßen können.“ Über den Türen hängen Hirschgeweihe. Ein Baby schreit. | |
| Es ist das erste Mal, dass Schäfer an diesem Samstag als Abgeordnete | |
| Münchner Boden betreten hat, den Boden des Wahlkreises 219, auf den gerade | |
| alle mit Staunen blicken. Am Morgen ist sie mit dem Zug aus Berlin | |
| angereist, tags darauf geht es schon wieder zurück. An diesem Dienstag | |
| tritt der neue Bundestag zum ersten Mal zusammen. Außerdem wird die | |
| stellvertretende Grünen-Chefin bei den Koalitionsverhandlungen erwartet. | |
| ## Politische Farbenlehre in München | |
| Gerade mal 28 Jahre alt ist Jamila Schäfer und schon eine historische | |
| Figur: Bei der Bundestagswahl hat sie aus dem Stand nicht nur den Einzug in | |
| das Parlament geschafft – das war auf Platz 7 der Landesliste kein | |
| Kunststück –, sondern auch als einzige Kandidatin der CSU ein Direktmandat | |
| abgeluchst. In früheren Wahlen war das der SPD vereinzelt gelungen, den | |
| Grünen noch nie. Ob Petra Kelly, Claudia Roth oder Anton Hofreiter – | |
| bayerische Grüne sind bislang ausschließlich über die Liste in den | |
| Bundestag gekommen. „Wir haben gemeinsam Geschichte geschrieben“, ruft | |
| Schäfer ihren Unterstützern deshalb auch zu. | |
| Das Nachsehen hatte diesmal Mandatsinhaber Michael Kuffer, ein | |
| Christsozialer eher von der Abteilung Holzhammer. Da bei der CSU niemand | |
| über die Liste in den Bundestag kam, wird Kuffer künftig wieder | |
| ausschließlich als Rechtsanwalt sein Geld verdienen. 27,5 Prozent der | |
| Stimmen holte Schäfer im Wahlkreis München-Süd, lag 0,7 Prozentpunkte vor | |
| Kuffer. In absoluten Zahlen sind das 1.197 Stimmen Abstand. Es geht | |
| freilich auch knapper: Im Münchner Westen fehlten Schäfers Parteifreund | |
| Dieter Janecek nur 137 Stimmen, um das Direktmandat zu ergattern. | |
| Überhaupt ist die politische Farbenlehre hier in München etwas | |
| komplizierter, der Schein einer kleinen grünen Hochburg, umgeben von | |
| schwarzem Feindesland, trügt: So hat die CSU zwar drei der vier Münchner | |
| Direktmandate gewonnen. Bei den Zweitstimmen liegt die Partei jedoch mit | |
| nur noch 23,8 Prozent klar hinter den Grünen, die auf 26,1 Prozent kamen – | |
| ein Plus von 8,8 Prozentpunkten. Dazu kommt, dass alle Wahlkreise so | |
| zugeschnitten sind, dass sie sehr unterschiedliche Stadtviertel umfassen. | |
| In den Innenstadtbezirken holten die Grünen teilweise weit über 30 Prozent, | |
| während es Richtung Stadtrand schwärzer wurde. Aber selbst in ihrem eigenen | |
| Bezirk, Hadern, im äußersten Süden gelegen und traditionell schwarz, konnte | |
| Schäfer die Mehrheit holen. | |
| Geboren wird Jamila Schäfer 1993. Es ist der 30. April, Walpurgisnacht. | |
| US-Präsident Bill Clinton ist gerade 100 Tage im Amt, in Hamburg sticht an | |
| diesem Tag ein psychisch Kranker der Tennisspielerin Monica Seles mit einem | |
| Messer in den Rücken; und zwei Wochen später fusionieren die aus dem | |
| Bundestag geflogenen Grünen auf einem Parteitag in Leipzig mit dem | |
| [2][Bündnis 90]. Helmut Kohl ist noch Bundeskanzler, aber dass im | |
| Kanzleramt tatsächlich auch jemand anderes als Angela Merkel sitzen kann, | |
| werden für Schäfer bis heute Kindheitserinnerungen bleiben. | |
| ## Zweitklässlerin schleppt Mutter zu Demo | |
| Nach dem, was sie so erzählt, während sie auf die Ankunft ihrer | |
| Unterstützer wartet, erwachte das politische Interesse bei Jamila Schäfer | |
| schon sehr früh. Ihre Eltern, eine Physiotherapeutin und ein Informatiker, | |
| waren zwar selbst nicht politisch engagiert, bemühten sich allerdings, die | |
| kritischen Fragen ihrer Tochter zu beantworten. Und davon gab es viele. | |
| Etwa nach dem Besuch einer Ausstellung über Ernährung. „Da war ich noch | |
| nicht mal in der Schule und habe gesehen, dass Kinder, die so alt waren wie | |
| ich, auf einer Kakaoplantage arbeiten mussten.“ Auch Bilder von | |
| Brandrodungen im Amazonasgebiet oder von deutschen Schlachthöfen | |
| beeindruckten sie damals sehr. „Das war ein ganz emotionales Erlebnis aus | |
| meiner Kindheit, das ich noch total präsent habe.“ | |
| Schäfer wächst in Großhadern auf, einem dörflich geprägten Stadtteil; im | |
| übrigen München kennt man seinen Namen in erster Linie als Synonym für das | |
| dortige Klinikum. Als Zweitklässlerin schleppt sie ihre Mutter zu einer | |
| Demo gegen die Fällung von Bäumen in der Nachbarschaft. „Schon seit ich | |
| denken kann“, schreibt Schäfer in ihrer Vita auf der eigenen Homepage, „hat | |
| es mich sehr beschäftigt, wieso die Menschheit es nicht schafft, Reichtum | |
| gerecht zu verteilen und Tiere und Umwelt besser zu behandeln.“ Oder wie | |
| sie es auch oft formuliert: „Ich habe mich immer gefragt, warum die | |
| Erwachsenen eigentlich so doof sind.“ | |
| Und immer wieder fällt der Name von CSU-Mann Peter Gauweiler, der wie sie | |
| aus einer alteingesessenen Großhaderner Familie stammt und das Direktmandat | |
| in München-Süd viermal gewonnen hat. Von dem habe sie sich schon als | |
| Grundschülerin nicht vertreten gefühlt. | |
| Ach, und dann war da natürlich noch die Geschichte mit Pascha. Nein, der | |
| Name stamme nicht von ihr, betont Schäfer. Als Jugendliche lernte Schäfer | |
| Reiten und Voltigieren. Pascha war eines der Pferde, auf dem sie voltigiert | |
| hat. Doch dann zog er sich eine Fußverletzung zu, und der Reiterhof wollte | |
| das Pferd zum Schlachter geben. Da entführte sie Pascha mithilfe eines | |
| ehemaligen Reitlehrers kurzerhand über Nacht und stellte ihn bei einem | |
| Bauernhof unter. Mittlerweile verbringt Pascha seinen Lebensabend auf einem | |
| Hof in Starnberg, eine von Schäfer organisierte Versorgungsgemeinschaft | |
| kümmert sich um das alte Tier. | |
| ## Noch kein eigenes Büro in Berlin | |
| Was folgt, sind Schritte einer steilen Politkarriere, von der | |
| Klassensprecherin zur stellvertretenden Parteichefin und schließlich | |
| Bundestagsabgeordneten in kaum 15 Jahren: Erste Kontakte zur Grünen Jugend | |
| gab es beim Bildungsstreik in den nuller Jahren. Schäfers Jahrgang war der | |
| erste, der seinerzeit in Bayern von G8, dem achtjährigen Gymnasium, | |
| betroffen war. Mit 20 wird sie Sprecherin der Grünen Jugend in München, mit | |
| 22 deren Bundessprecherin. Als nach der Bundestagswahl 2017 in der | |
| Grünen-Fraktion kein einziger Abgeordneter unter 30 Jahren sitzt, will die | |
| Jugendorganisation die Verjüngung der Partei mit mehr Nachdruck | |
| vorantreiben. Sie beansprucht einen Platz im Bundesvorstand, Schäfer | |
| kandidiert – und ist plötzlich Stellvertreterin von Annalena Baerbock und | |
| Robert Habeck. Da ist sie noch keine 25. Irgendwo in diese Zeit fällt auch | |
| noch ein Studium in Frankfurt. Philosophie und Soziologie. Nur die | |
| Bachelor-Arbeit fehlt noch. Die will sie nächstes Jahr in der | |
| parlamentarischen Sommerpause nachholen. | |
| Zuvor gibt es noch ein paar andere Aufgaben zu erledigen. Ziemlich hin- und | |
| hergeworfen fühle sie sich gerade, erzählt Schäfer. Auf der einen Seite | |
| verläuft sie sich noch manchmal im Reichstagsgebäude, hat noch kein eigenes | |
| Büro und muss zu Einführungsveranstaltungen im Bundestag, in denen es | |
| beispielsweise um die Beantragung von E-Mail-Zugängen von Abgeordneten | |
| geht. Auf der anderen Seite ist sie Teil des Verhandlungsteams der Grünen | |
| und soll gerade eine Regierung auf die Beine stellen. In den | |
| Koalitionsgesprächen sitzt sie in der Verhandlungsgruppe für die | |
| Europapolitik. | |
| Den Politikerinnensprech hat die Grüne, die in der linken Hemisphäre der | |
| Partei zu verordnen ist, dabei schon gut drauf, ihr entfleucht nichts | |
| Unvorsichtiges, Spontanes, Überraschendes. Natürlich will sie auch die | |
| verbreitete Kritik, die Grünen hätten schon in den Sondierungsgesprächen zu | |
| viele Zugeständnisse gemacht, nicht gelten lassen. „Wir haben schon | |
| wirklich viele gute Sachen erreicht“, sagt Schäfer. „Und damit haben wir | |
| markiert: Wir machen jetzt Aufbruch.“ Als Beispiele nennt sie den | |
| Kohleausstieg bis 2030, den Ausstieg aus dem Verbrennungsmotor, den | |
| massiven Ausbau der Erneuerbaren, die Solarpflicht … „Natürlich hat’s mi… | |
| auch geärgert, dass wir das Tempolimit nicht hinbekommen haben.“ Sie kann | |
| der Kritik aber auch etwas Positives abgewinnen. Die Debatte erhöhe nun ja | |
| den Druck, in den Koalitionsverhandlungen noch mehr rauszuholen. | |
| In der Parteiarbeit will sie sich jedoch schon bald etwas zurücknehmen. | |
| Wenn im Januar der Bundesvorstand neu gewählt wird, wird Schäfer nicht mehr | |
| kandidieren, um mehr Zeit für ihren Wahlkreis zu haben. Dann wird man sie | |
| im Münchner Süden wieder häufiger sehen. Sie wohnt zwar mittlerweile mit | |
| ihrem Freund in Berlin-Weißensee, ihr Erstwohnsitz ist allerdings immer | |
| noch hier im Wahlkreis: daheim bei den Eltern. | |
| Eine Frage bringt Schäfer am Schluss doch noch ins Stocken. Was an ihr denn | |
| so ganz untypisch sei für eine Grüne? Sie grübelt, klappert mal schnell ein | |
| paar Klischees ab: Sie esse schon gern Müsli, habe Birkenstock-Schuhe, und | |
| Vegetarierin sei sie auch. Dann schaut sie sich um. Aber immerhin: Sie | |
| mache Parteiveranstaltungen in einem Schützenlokal. Ist doch was. | |
| 26 Oct 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Dominik Baur | |
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