# taz.de -- Neues Abtreibungsgesetz in Texas: Das ist nur der Anfang | |
> Seit dem ersten September ist Abtreibung in Texas nahezu verboten. Das | |
> von Schwarzen gegründete Afiya-Zentrum für Gesundheit stemmt sich | |
> dagegen. | |
Bild: Downtown-Dallas: Eine Frau demonstriert für ihr Recht auf Abtreibung | |
TEXAS taz | Wenn du über sechs Wochen bist, ist es zu spät für uns“, muss | |
Quiana Arnold neuerdings oft sagen. Statt die hilfesuchenden Frauen an eine | |
Klinik in Texas zu vermitteln, die Abtreibungen durchführt, schickt sie sie | |
ins Internet. Wenn sie dort „[1][brauche Abtreibung“] eintippen und fündig | |
werden, kann Quiana Arnold notfalls Geld auftreiben. Oder eine Adresse für | |
die Übernachtung in Oklahoma, New Mexico oder Colorado vermitteln. | |
Quiana Arnold arbeitet im Geburtenteam von Afiya in Dallas. Das | |
Afiya-Zentrum, dessen Name an das Swahili-Wort für Gesundheit erinnert, ist | |
das einzige von schwarzen Frauen geführte Gesundheitszentrum im Norden von | |
Texas. Weiße Klientinnen hat Arnold nicht. | |
Bei schwarzen Frauen und Mädchen im Großraum Dallas steht das Afiya-Zentrum | |
im Ruf, Unmögliches möglich zu machen. Die Mitarbeiterinnen führen keine | |
Eingriffe durch. Sie beraten. Für ihre Klientinnen vermitteln sie Hilfen | |
bei Fruchtbarkeitsproblemen, Geburten und Abtreibungen; sie bieten Doulas | |
an – nichtmedizinische, professionelle Begleiterinnen für Geburten, | |
Fehlgeburten und das Lebensende. Sie organisieren sexuelle Aufklärung, | |
Verhütung und sichere Räume für verfolgte Frauen. „Wir sind ein praktischer | |
Fonds“, sagt Quiana Arnold, „wir schützen schwarze Frauen.“ | |
Aber seit dem 1. September sind selbst dem Afiya-Zentrum die Hände | |
gebunden. „Traut schwarzen Frauen“, schrieben die Mitarbeiterinnen auf ein | |
mehrere Quadratmeter großes Werbeplakat, das Anfang September längs der | |
großen Verkehrsachsen in Dallas auftauchte, wo sonst Bibelsprüche und | |
Slogans für Hypothekenbanken prangen: „Abtreibung ist Selbstfürsorge“. Es | |
war ihr erster Protest gegen das neue Gesetz SB8, das am 1. September in | |
Kraft getreten ist. Es verbietet fast alle Schwangerschaftsabbrüche in | |
Texas nach der sechsten Woche. Weil über 85 Prozent aller Abtreibungen erst | |
nach der sechsten Woche stattfinden, kommt es einem Verbot von Abtreibungen | |
sehr nahe. | |
Das Gesetz macht gewöhnliche Bürger zu Strafvollzugsorganen. Es fordert sie | |
auf, Menschen anzuzeigen, die Abtreibungen unterstützen. Dabei hantiert es | |
mit einem so weit gefassten Begriff von „Helfern und Unterstützern“, dass | |
die Verfolgung viele treffen kann: von den Nahestehenden, die einer | |
schwangeren Frau Informationen und Geld für eine Abtreibung geben, über den | |
Taxifahrer, der sie in die Klinik fährt, bis zu dem Arzt, der den Eingriff | |
durchführt. Den Denunzianten winken saftige Belohnungen, die bei 10.000 | |
Dollar Minimum anfangen. Zahlen müssen die Verurteilten. Für Afiya, das | |
dank Spenden existiert, könnte eine Verurteilung nach SB8 das Ende | |
bedeuten. | |
Zu dem Risiko, denunziert und finanziell ruiniert zu werden, kommt hinzu, | |
dass sich die Afiya-Mitarbeiterinnen auch individuell bedroht fühlen. “Wir | |
sind bewegliche Ziele“, sagt Quiana Arnold. Sie arbeitet deswegen von einem | |
ungenannten Ort aus – vor allem am Telefon und per Zoom. | |
„Wir prüfen jede Person, mit der wir sprechen“, sagt Michelle Anderson, die | |
Politikbeauftragte des Afiya-Zentrums. Die 51-Jährige ist eines der | |
öffentlichen Gesichter des Afiya-Zentrums. Sie hat keine Angst vor | |
schwierigen Themen. Als sie 2011 „Miss Plus America“ – eine Misswahl für | |
runde Frauen – gewann, nutzte sie den Titel, um über ihre HIV-Infektion zu | |
sprechen. Sie wollte die Stigmatisierung von HIV-positiven schwarzen Frauen | |
beenden. Jetzt stellt sie für das Afiya-Zentrum das „System von | |
Ungleichheiten“, mit dem schwarze Frauen konfrontiert sind, in den | |
Vordergrund. | |
„Wir erfahren Rassismus ab dem Moment, in dem wir den Uterus verlassen“, | |
sagt sie. Das texanische Abtreibungsverbot ist für sie eine weitere | |
Ausdrucksform der weißen Vorherrschaft. „Sie fürchten, dass sie in die | |
Minderheit geraten“, sagt Michelle Anderson über die Drahtzieher des | |
Gesetzes, „es geht ihnen darum, ihre Macht und den Status quo zu erhalten.“ | |
Manche [2][Pro-Choice-Aktivistinnen] in den USA haben neuerdings | |
Bodyguards. Die hat Michelle Anderson nicht. Aber auch sie ist vorsichtig | |
geworden. Sie reist nicht mehr allein. | |
Abtreibungen in Texas im ersten Schwangerschaftsdrittel kosten im | |
Durchschnitt 500 Dollar. Fast immer müssen die Frauen selbst zahlen, die | |
meisten Krankenversicherungen in Texas dürfen diese Kosten nicht | |
übernehmen. Die 1,4 Millionen Nichtversicherten in Texas – mehr als in | |
jedem anderen Bundesstaat der USA – sind ohnehin auf sich gestellt. | |
## Gesetz lässt auch Kosten für Abtreibung steigen | |
Mit dem neuen Gesetz vervielfachen sich die Kosten für eine Abtreibung ab | |
der siebten Woche. Zusätzlich zu dem Eingriff müssen Frauen jetzt auch für | |
Reisen, mehrtägige Lohnausfälle und Kinderversorgung während ihrer | |
Abwesenheit aufkommen. „Das trifft braune und schwarze Frauen besonders | |
hart“, sagt Michelle Anderson. Sie haben geringeres Einkommen, weniger | |
Zugang zu Bildung und sind in der Gesundheitsversorgung benachteiligt. | |
Das zeigt sich auch bei der Müttersterblichkeit. Eine Gesundheitsstudie im | |
Auftrag des Gouverneurs von Texas im Jahr 2018 kam zu dem Ergebnis, dass | |
schwarze Frauen in dem Bundesstaat mehr als doppelt so häufig während der | |
Schwangerschaft oder unmittelbar danach sterben, als weiße. Für mehr als 14 | |
von 100.000 schwarzen Frauen in Texas endet eine Schwangerschaft mit dem | |
Tod. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass die meisten Todesfälle | |
vermeidbar sind. | |
„Rassistisch“, lautet auch der Befund von Yolanda Blue Horse über das neue | |
Gesetz. Sie hat den Eindruck, dass ihr schon wieder jemand sagen will, was | |
sie mit ihrem Körper zu tun und zu lassen hat. Die 49-Jährige aus dem Volk | |
der Rosebud Sioux, die in Dallas lebt, fühlt sich durch SB8 an den | |
Völkermord an den indigenen Einwohnern Amerikas erinnert: „Beim ersten | |
Kontakt waren wir Millionen. Im 19. Jahrhundert waren nur noch 250.000 von | |
uns übrig.“ Sie denkt auch an die Massensterilisationen von indigenen | |
Frauen in den 60er und 70er Jahren. Und sie denkt an ihr eigenes | |
traumatisches Erlebnis als kleines Mädchen. | |
Seit SB8 in Kraft ist, gehen täglich Frauen mit ihrer persönlichen | |
Geschichte in die Offensive. Manche berichten zum ersten Mal öffentlich, | |
dass, wann und warum sie abgetrieben haben. Yolanda Blue Horse bricht ihr | |
Schweigen über ihren Stiefvater, der sie als Kind sexuell belästigt hat. Es | |
war Zufall, dass sie nicht schwanger geworden ist. „Natürlich brauchen wir | |
Abtreibungen“, sagt sie, „gerade junge Mädchen, wie ich eines war, sind | |
darauf angewiesen. Alles andere würde ihr Leben zerstören.“ | |
## Gesetz gilt ausnahmslos – auch bei Vergewaltigung | |
Das Gesetz macht auch in Fällen von Inzest und Vergewaltigung keine | |
Ausnahme. Der republikanische Gouverneur von Texas, Greg Abbott, redet sich | |
damit heraus, dass er die Vergewaltiger von den Straßen Texas vertreiben | |
werde. Für die indigene Bürgerrechtlerin ist das „der idiotischste Satz, | |
den je ein Mann gesagt hat“. | |
„Abtreibung ist legal in Texas“ lautet die erste Botschaft auf der Webseite | |
von Planned Parenthood in Dallas. Es ist ein trotziges Aufbäumen, dem lange | |
Ausführungen über die zahlreichen Einschränkungen durch das neue Gesetz | |
folgen. | |
Planned Parenthood ficht das Gesetz vor Gericht an. Aber auch die größte | |
Organisation für Familienplanung in den USA muss sich den neuen Realitäten | |
in Texas beugen. Seit dem 1. September gehen noch mehr Anrufe bei ihr ein | |
als gewöhnlich. Erstmals kommen auch Anfragen von Frauen, die noch gar | |
keinen positiven Schwangerschaftstest haben, und vorsichtshalber einen | |
Termin für eine Abtreibung reservieren wollen. Bei manchen ist ein Kondom | |
beim Sex geplatzt. Andere sind Opfer von Gewalt geworden. In jedem Fall | |
stehen sie unter Zeitdruck. Eine Schwangerschaft kann meist erst zum | |
Zeitpunkt der ersten ausgefallenen Menstruation nachgewiesen werden. Danach | |
bleiben nur zwei Wochen. | |
Für Frauen mit geringem Einkommen sind die Beratungsstellen von Planned | |
Parenthood quer durch Texas oft der einzige Ort, an dem sie medizinisch | |
betreut werden. Fast alle Stellen haben Vorsorgeuntersuchungen, | |
Mammogramme, Verhütung und Schwangerschaftstests im Programm. Aber | |
Abtreibungen haben auch schon vor Ende August nur noch eine Handvoll | |
Kliniken in Texas angeboten. Seit dem 1. September hat Planned Parenthood | |
im Süden von Texas alle Abtreibungen – auch die im Frühstadium von | |
Schwangerschaften – eingestellt. Im Norden sind die Zahlen drastisch | |
gesunken. In Houston, der größten Stadt des Bundesstaates, wo vorher | |
durchschnittlich 25 Abtreibungen pro Tag stattfanden, wurden an zehn Tagen | |
im September nur 63 erfasst. | |
Statt eigener Eingriffe bietet Planned Parenthood nun logistische Hilfen | |
an. In Dallas hat die Organisation zwei „Patient Navigators“ eingestellt. | |
Sie buchen Termine für Abtreibungen in anderen Bundesstaaten. Die Kliniken | |
in den Nachbarbundesstaaten haben ihre Behandlungszeiten verlängert. Ein | |
Teil des medizinischen Personals von Planned Parenthood Dallas ist zur | |
Verstärkung nach New Mexico gegangen. In Oklahoma kommen schon mehr als die | |
Hälfte der Patientinnen aus Texas. | |
„Jeder Gynäkologe weiß, dass Abtreibung zur Gesundheitsversorgung von | |
Frauen dazugehört“, sagt Autumn Keiser, Sprecherin bei Planned Parenthood | |
in der texanischen Hauptstadt Austin. Aber die Gerichte in Texas haben | |
ihrer Organisation bislang nicht einmal Gelegenheit gegeben, ihre Argumente | |
bei einem Hearing zu erklären. | |
Selbst die [3][Anfechtung des texanischen Gesetzes] durch den | |
Bundesjustizminister führte nur zu einer kurzen Unterbrechung seiner | |
Anwendung. Am 6. Oktober setzte ein Richter das Gesetz per einstweiliger | |
Verfügung aus. Das Gesetz benutzt Tricks, um Frauen ein Recht zu entziehen, | |
das ihnen seit 1973 zusteht, begründete er. Aber schon zwei Tage später gab | |
ein anderes Gericht der Berufung durch die texanische Regierung statt. | |
Damit war SB8 wieder in Kraft. | |
Autumn Keiser ist optimistisch, weil in Washington erstmals seit Jahren | |
wieder ein Präsident und eine parlamentarische Mehrheit sitzen, die | |
„motiviert“ sind. Trotzdem fürchtet sie, dass Texas zu einer Zone von | |
komplettem Abtreibungsverbot werden könnte. Im nächsten Schritt würde das | |
Nachahme-Effekte quer durch den Süden und mittleren Westen der USA | |
auslösen, wo ähnliche Gesetze bereits in den Schubladen liegen. Schwangeren | |
Frauen aus diesen Staaten – flächenmäßig der größte Teil der USA – die… | |
legale Abtreibung suchen, bliebe dann nur die Reise in Staaten mit | |
demokratischen Mehrheiten, die das Recht auf Abtreibung in Gesetze gefasst | |
haben. Oder ins Ausland. Für Frauen sind das schlechte Nachrichten, | |
resümiert Autumn Keiser: „Es bedeutet: weniger Möglichkeiten und höhere | |
Kosten.“ | |
Die Männer und Frauen, die im sechsten Stock des Hilton Hotels in Austin | |
zusammengekommen sind, sehen das anders. „2021 ist ein unglaublich gutes | |
Jahr“, sagt der evangelikale Pastor Robin Steele, der den Benefiz-Abend der | |
„Texas Alliance for Life“ mit einem Gebet eröffnet. „A-men“, kommt es | |
zurück. An den runden Tischen sitzen Geschäftsleute, Priester, Nonnen und | |
jede Menge texanische Republikaner. Die überwiegende Mehrheit der | |
Teilnehmer ist weiß. Einige Frauen wiegen Babys auf den Armen. Alle Redner | |
stellen sich mit der Zahl ihrer Kinder vor. Einer hat acht. | |
„Seit dem 1. September retten wir jeden Tag 150 Babys“, sagt der texanische | |
Vize-Gouverneur Dan Patrick. „Bravo“, rufen mehrere Hundert Tischgäste. Der | |
Vizegouverneur muntert sie auf: „Jeder von Ihnen kann einen Doktor | |
anzeigen.“ Nach ihm tritt der langjährige Chef der Vereinigung von | |
Abtreibungsgegnern ans Mikrofon. Joe Pojman macht klar, dass SB8 nur der | |
Anfang war: „Wir haben auch Gesetz Nummer 1280 durchgesetzt. Es tritt in | |
Kraft, sobald das Oberste Gericht die schreckliche Entscheidung von 1973 | |
kippt.“ Das Gesetz verbietet jede Abtreibung „ab der Befruchtung“. Für J… | |
Pojman ist es keine Frage mehr, ob der oberste Gerichtshof in seinem Sinne | |
entscheidet, sondern wann. Er bekommt stehenden Beifall. | |
Der 62-Jährige Luftfahrtingenieur hat eine Weile für die Nasa in Houston | |
gearbeitet. Aber Joe Pojmans Lebenswerk ist der Kampf gegen das Recht auf | |
Abtreibung, das das Oberste Gericht im Jahr 1973 in einer | |
Grundsatzentscheidung garantiert hat. Nach seiner Überzeugung beginnt das | |
Leben „mit der Empfängnis“ und endet mit dem „natürlichen Tod“. Und d… | |
will er zum Gesetz des Landes machen. 1988 meldete er seine Organisation | |
bei der texanischen Steuerbehörde an. Seither hat er die Politiker und die | |
Medien in Texas bearbeitet. Und alljährliche Demonstrationen und Gebete | |
„für das Leben“ vor dem Kapitol in Austin organisiert. Nach 33 Jahren wäh… | |
er sich kurz vor dem Sieg. „Im nächsten Juni oder Juli können wir eine | |
Entscheidung des Obersten Gerichtes erwarten“, verspricht er am | |
Benefiz-Abend. Diese Veranstaltung findet am selben Tag statt wie die mehr | |
als 600 Demonstrationen quer durch die USA, bei denen Frauen das Recht auf | |
Abtreibung verteidigen. | |
Die Männer und Frauen im Saal nennen sich „Lebensschützer“, wie die | |
Gewalttäter, die in den 80er und 90er Jahren mit Sprengsätzen und | |
Schusswaffen gegen Gynäkologen vorgingen. Aber sie pflegen einen anderen | |
Stil. Sie gehen unverdeckt vor. Sind legalistisch. Und wissen, dass sie | |
starke Mehrheiten in den Institutionen haben. Nicht nur in Texas, wo die | |
Republikaner beide Kammern und das Gouverneursamt mit Supermehrheiten | |
kontrollieren, sondern vor allen Dingen im Obersten Gericht, wohin | |
Expräsident Donald Trump drei neue Richter geschickt hat, die das | |
Grundsatzurteil von 1973 ablehnen. | |
## Die Arbeit von Planned Parenthood wird behindert | |
Am Benefiz-Abend lassen sich Joe Pojman und republikanische Politiker aus | |
Texas für ihre legislativen Erfolge feiern. Dazu gehört, dass Planned | |
Parenthood in Texas sämtliche öffentlichen Mittel entzogen worden sind. Die | |
Gelder sind an die „Alternativen zur Abtreibung“-Programme umgeleitet | |
worden sind, die versuchen, Frauen zum Austragen ungewollter | |
Schwangerschaften und eventuell zur Adoption zu überreden. | |
Dazu gehört, dass der Sexualkundeunterricht an Schulen nur noch nach | |
elterlicher Zustimmung stattfinden darf, und dass Lehrer in Texas | |
angehalten sind, den Schülern Enthaltsamkeit vor der Ehe nahezulegen. Und | |
dazu gehört, dass ungewollt schwangere Frauen in Texas, schon lange vor SB8 | |
alle möglichen Schikanen über sich ergehen lassen mussten, um eine | |
Abtreibung zu bekommen: Sie müssen Ultraschallbilder anschauen, elektrische | |
Impulse anhören und Texte lesen, die Falschinformationen verbreiten – | |
darunter die Behauptung, dass ein Schwangerschaftsabbruch das Krebsrisiko | |
erhöhe. | |
In jahrzehntelanger Arbeit haben Gruppen wie die Texas Alliance for Life | |
nicht nur Gesetze durchgesetzt. Sie haben es auch geschafft, der | |
Abtreibungsdebatte ihre Ideen und ihre Worte aufzuzwingen. Sie haben | |
Begriffe wie „Abtreibungsindustrie“ und „Töten“ populär gemacht, die | |
suggerieren, dass die andere Seite von Geldgier und Mordlust getrieben ist. | |
Sie haben das Stichwort „Herzschlaggesetz“ in Umlauf gebracht, obschon ein | |
Embryo in der sechsten Woche noch kein Herz mit Klappen hat, das schlagen | |
könnte. Und sie nennen Embryonen, die so groß wie Erbsen sind und weder | |
Arme noch Beine haben, „Babys“. Der Vizegouverneur geht noch weiter. Er | |
gibt ihnen eine Nationalität. „Wir retten kleine Texaner“, sagt er. | |
Für Frauen, die selbst entscheiden wollen, ob sie ein Kind wollen, haben | |
die Teilnehmer des Benefiz-Abends keine Empathie. Zu einer Schwangerschaft | |
nach einer Vergewaltigung sagt Debra Damman, Geschäftsfrau und aktives | |
Mitglied einer Pfingstler-Gemeinde achselzuckend: „Wir mögen es nicht | |
geplant haben, aber Gott hat einen Plan.“ Für Joe Pojman sind | |
Vergewaltigung und Inzest „schreckliche Verbrechen“. Aber er erkennt darin | |
keine Rechtfertigung für Abtreibung: „Die Frau kann das Baby behalten oder | |
zur Adoption freigeben.“ | |
Debra Damman gehört seit zwölf Jahren zu der Vereinigung. Ihr nächstes Ziel | |
ist ein vollständiges Abtreibungsverbot in Texas. Aber selbst wenn es | |
dieses geben sollte, will sie ihr Engagement fortsetzen. Sie betrachtet | |
Texas als „Führer“: für die USA und die Welt. So sieht es auch Shawn | |
Carney, der eine halbstündige Rede hält, um die Anwesenden zu mehr Spenden | |
zu animieren. Das Spendenziel für den Abend sind 400.000 Dollar. Shawn | |
Carneys Talent, Bibelzitate und Politisches zu verbinden, ist den | |
Konservativen in Texas schon aufgefallen, als er noch Student war. | |
Inzwischen ist Shawn Carney ein texanischer Exportartikel. Er organisiert | |
gemeinsam mit evangelikalen Kirchen „40 Tage für das Leben“-Kampagnen, | |
schreibt Bücher und tourt um die Welt. | |
Aufgeklärte Frauen wehren sich gegen die Sprache, mit der Joe Pojman und | |
seine Mitstreiter versuchen, Politik zu machen. „Wir leisten keinen | |
Vorschub für rechte Rhetorik“, sagt Michelle Anderson vom Afiya-Zentrum in | |
Dallas, „in der sechsten Woche ist ein Embryo ein Gewebe, das sich | |
entwickelt.“ Aber in der Öffentlichkeit haben die Begriffe sich | |
durchgesetzt. | |
Selbst in Krankenhäusern in Texas ist das Thema Abtreibung tabu. „Natürlich | |
verhindert das Gesetz keine Abtreibungen, es macht sie allenfalls | |
unsicherer“, sagt die 29-jährige Krankenschwesternausbilderin Radiance Bean | |
in Dallas. Aber sie hält es für unmöglich, das an ihrem Arbeitsplatz zu | |
thematisieren. „Dann würde sofort ein Geldgeber drohen, seine Spenden | |
zurückzuziehen.“ Im vergangenen Jahr ist die schwarze Ausbilderin schon | |
einmal mit einem Thema, das ihr wichtig ist, gegen eine Wand gerannt. Sie | |
wollte an der staatlichen Universitätsklinik in Dallas eine | |
Unterrichtseinheit über Ungleichheiten in der medizinischen Betreuung von | |
schwarzen und weißen Patienten anbieten. Die Personalabteilung gab ihr 30 | |
Tage, „um einen neuen Job zu suchen“. | |
Im Texas des Jahres 2021 fühlt sich die gebürtige Irin Abigail Aiken | |
gelegentlich an ihre Jugend in Nordirland erinnert. „Du kannst alles tun, | |
bloß nicht schwanger werden“, hat ihre ansonsten liberale Mutter sie damals | |
gewarnt. „In dem Fall könnte ich dir nicht helfen.“ Abtreibung war | |
verboten. Junge Mädchen, die zu dem Zweck nach England reisten, schadeten | |
dem Ruf der ganzen Familie. | |
Heute lehrt die 37-jährige Abigail Aiken an der University of Austin. Sie | |
hat Medizin und öffentliches Gesundheitswesen studiert, ihr | |
Forschungsgebiet sind Abtreibung und Alternativen zu operativen | |
Schwangerschaftsabbrüchen. Sie hat Studien über den Einsatz der | |
Abtreibungspillen Misoprostol und Mifepristone bei selbst durchgeführten | |
Abtreibungen in Europa gemacht. Ihr Ergebnis: „Sie sind sicher.“ | |
## Abtreibungspille als Teil einer temporären Lösung | |
Anfang September, als das Gesetz SB8 gerade in Kraft getreten war, gingen | |
Frauen von der Organisation [4][Plan-C] mit einem kleinen Laster auf Tour | |
durch konservative ländliche Gebiete in Texas. Über die Außenwand ihres | |
Lasters flimmerte nonstop die Nachricht: „Periode verpasst? Dafür gibt es | |
eine Pille.“ Gefolgt von der eigenen Webseite. Von dort aus werden | |
Interessentinnen weiter an „[5][Aid-Access“] verwiesen, wo Frauen die | |
Pillen nach einer Onlinekonsultation für 105 Dollar bestellen können. | |
In den USA sind die Abtreibungspillen schon lange im Einsatz. Doch bislang | |
geschah das fast nur unter medizinischer Kontrolle in Kliniken. Erst bei | |
Beginn der Pandemie erlaubte die Medikamentenbehörde FDA – zunächst | |
vorübergehend – einen Postversand. Im September schnellten die Anfragen bei | |
Plan-C von ein paar Hundert pro Tag auf über 80.000 in der ersten | |
Septemberwoche hoch. 30 Prozent kamen aus Texas. | |
Die Republikaner in Texas haben bereits ein neues Gesetz verabschiedet, um | |
die postalische Zustellung von Abtreibungspillen zu verbieten. Aber wenn | |
Ärzte außerhalb von Texas Pillen verschreiben, die aus Europa oder Indien | |
kommen, greift ihr Gesetz bislang nicht. Die Forscherin Abigail Aiken ist | |
skeptisch, dass das Grundsatzurteil von 1973 im neuen Obersten Gericht der | |
USA Bestand haben wird. Aber sie sieht die Pillen als Silberstreif: Wie | |
einst in Irland könnten die Pillen in Texas, nach dem Quasiverbot von | |
Abtreibungen, eine Lösung bieten. | |
16 Oct 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://needabortion.org | |
[2] /Reproduktive-Rechte/!5778421 | |
[3] /Abtreibungsrecht-in-den-USA/!5773731 | |
[4] https://www.plancpills.org | |
[5] https://aidaccess.org/en/ | |
## AUTOREN | |
Dorothea Hahn | |
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