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# taz.de -- Neues Abtreibungsgesetz in Texas: Das ist nur der Anfang
> Seit dem ersten September ist Abtreibung in Texas nahezu verboten. Das
> von Schwarzen gegründete Afiya-Zentrum für Gesundheit stemmt sich
> dagegen.
Bild: Downtown-Dallas: Eine Frau demonstriert für ihr Recht auf Abtreibung
Texas taz | Wenn du über sechs Wochen bist, ist es zu spät für uns“, muss
Quiana Arnold neuerdings oft sagen. Statt die hilfesuchenden Frauen an eine
Klinik in Texas zu vermitteln, die Abtreibungen durchführt, schickt sie sie
ins Internet. Wenn sie dort „[1][brauche Abtreibung“] eintippen und fündig
werden, kann Quiana Arnold notfalls Geld auftreiben. Oder eine Adresse für
die Übernachtung in Oklahoma, New Mexico oder Colorado vermitteln.
Quiana Arnold arbeitet im Geburtenteam von Afiya in Dallas. Das
Afiya-Zentrum, dessen Name an das Swahili-Wort für Gesundheit erinnert, ist
das einzige von schwarzen Frauen geführte Gesundheitszentrum im Norden von
Texas. Weiße Klientinnen hat Arnold nicht.
Bei schwarzen Frauen und Mädchen im Großraum Dallas steht das Afiya-Zentrum
im Ruf, Unmögliches möglich zu machen. Die Mitarbeiterinnen führen keine
Eingriffe durch. Sie beraten. Für ihre Klientinnen vermitteln sie Hilfen
bei Fruchtbarkeitsproblemen, Geburten und Abtreibungen; sie bieten Doulas
an – nichtmedizinische, professionelle Begleiterinnen für Geburten,
Fehlgeburten und das Lebensende. Sie organisieren sexuelle Aufklärung,
Verhütung und sichere Räume für verfolgte Frauen. „Wir sind ein praktischer
Fonds“, sagt Quiana Arnold, „wir schützen schwarze Frauen.“
Aber seit dem 1. September sind selbst dem Afiya-Zentrum die Hände
gebunden. „Traut schwarzen Frauen“, schrieben die Mitarbeiterinnen auf ein
mehrere Quadratmeter großes Werbeplakat, das Anfang September längs der
großen Verkehrsachsen in Dallas auftauchte, wo sonst Bibelsprüche und
Slogans für Hypothekenbanken prangen: „Abtreibung ist Selbstfürsorge“. Es
war ihr erster Protest gegen das neue Gesetz SB8, das am 1. September in
Kraft getreten ist. Es verbietet fast alle Schwangerschaftsabbrüche in
Texas nach der sechsten Woche. Weil über 85 Prozent aller Abtreibungen erst
nach der sechsten Woche stattfinden, kommt es einem Verbot von Abtreibungen
sehr nahe.
Das Gesetz macht gewöhnliche Bürger zu Strafvollzugsorganen. Es fordert sie
auf, Menschen anzuzeigen, die Abtreibungen unterstützen. Dabei hantiert es
mit einem so weit gefassten Begriff von „Helfern und Unterstützern“, dass
die Verfolgung viele treffen kann: von den Nahestehenden, die einer
schwangeren Frau Informationen und Geld für eine Abtreibung geben, über den
Taxifahrer, der sie in die Klinik fährt, bis zu dem Arzt, der den Eingriff
durchführt. Den Denunzianten winken saftige Belohnungen, die bei 10.000
Dollar Minimum anfangen. Zahlen müssen die Verurteilten. Für Afiya, das
dank Spenden existiert, könnte eine Verurteilung nach SB8 das Ende
bedeuten.
Zu dem Risiko, denunziert und finanziell ruiniert zu werden, kommt hinzu,
dass sich die Afiya-Mitarbeiterinnen auch individuell bedroht fühlen. “Wir
sind bewegliche Ziele“, sagt Quiana Arnold. Sie arbeitet deswegen von einem
ungenannten Ort aus – vor allem am Telefon und per Zoom.
„Wir prüfen jede Person, mit der wir sprechen“, sagt Michelle Anderson, die
Politikbeauftragte des Afiya-Zentrums. Die 51-Jährige ist eines der
öffentlichen Gesichter des Afiya-Zentrums. Sie hat keine Angst vor
schwierigen Themen. Als sie 2011 „Miss Plus America“ – eine Misswahl für
runde Frauen – gewann, nutzte sie den Titel, um über ihre HIV-Infektion zu
sprechen. Sie wollte die Stigmatisierung von HIV-positiven schwarzen Frauen
beenden. Jetzt stellt sie für das Afiya-Zentrum das „System von
Ungleichheiten“, mit dem schwarze Frauen konfrontiert sind, in den
Vordergrund.
„Wir erfahren Rassismus ab dem Moment, in dem wir den Uterus verlassen“,
sagt sie. Das texanische Abtreibungsverbot ist für sie eine weitere
Ausdrucksform der weißen Vorherrschaft. „Sie fürchten, dass sie in die
Minderheit geraten“, sagt Michelle Anderson über die Drahtzieher des
Gesetzes, „es geht ihnen darum, ihre Macht und den Status quo zu erhalten.“
Manche [2][Pro-Choice-Aktivistinnen] in den USA haben neuerdings
Bodyguards. Die hat Michelle Anderson nicht. Aber auch sie ist vorsichtig
geworden. Sie reist nicht mehr allein.
Abtreibungen in Texas im ersten Schwangerschaftsdrittel kosten im
Durchschnitt 500 Dollar. Fast immer müssen die Frauen selbst zahlen, die
meisten Krankenversicherungen in Texas dürfen diese Kosten nicht
übernehmen. Die 1,4 Millionen Nichtversicherten in Texas – mehr als in
jedem anderen Bundesstaat der USA – sind ohnehin auf sich gestellt.
## Gesetz lässt auch Kosten für Abtreibung steigen
Mit dem neuen Gesetz vervielfachen sich die Kosten für eine Abtreibung ab
der siebten Woche. Zusätzlich zu dem Eingriff müssen Frauen jetzt auch für
Reisen, mehrtägige Lohnausfälle und Kinderversorgung während ihrer
Abwesenheit aufkommen. „Das trifft braune und schwarze Frauen besonders
hart“, sagt Michelle Anderson. Sie haben geringeres Einkommen, weniger
Zugang zu Bildung und sind in der Gesundheitsversorgung benachteiligt.
Das zeigt sich auch bei der Müttersterblichkeit. Eine Gesundheitsstudie im
Auftrag des Gouverneurs von Texas im Jahr 2018 kam zu dem Ergebnis, dass
schwarze Frauen in dem Bundesstaat mehr als doppelt so häufig während der
Schwangerschaft oder unmittelbar danach sterben, als weiße. Für mehr als 14
von 100.000 schwarzen Frauen in Texas endet eine Schwangerschaft mit dem
Tod. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass die meisten Todesfälle
vermeidbar sind.
„Rassistisch“, lautet auch der Befund von Yolanda Blue Horse über das neue
Gesetz. Sie hat den Eindruck, dass ihr schon wieder jemand sagen will, was
sie mit ihrem Körper zu tun und zu lassen hat. Die 49-Jährige aus dem Volk
der Rosebud Sioux, die in Dallas lebt, fühlt sich durch SB8 an den
Völkermord an den indigenen Einwohnern Amerikas erinnert: „Beim ersten
Kontakt waren wir Millionen. Im 19. Jahrhundert waren nur noch 250.000 von
uns übrig.“ Sie denkt auch an die Massensterilisationen von indigenen
Frauen in den 60er und 70er Jahren. Und sie denkt an ihr eigenes
traumatisches Erlebnis als kleines Mädchen.
Seit SB8 in Kraft ist, gehen täglich Frauen mit ihrer persönlichen
Geschichte in die Offensive. Manche berichten zum ersten Mal öffentlich,
dass, wann und warum sie abgetrieben haben. Yolanda Blue Horse bricht ihr
Schweigen über ihren Stiefvater, der sie als Kind sexuell belästigt hat. Es
war Zufall, dass sie nicht schwanger geworden ist. „Natürlich brauchen wir
Abtreibungen“, sagt sie, „gerade junge Mädchen, wie ich eines war, sind
darauf angewiesen. Alles andere würde ihr Leben zerstören.“
## Gesetz gilt ausnahmslos – auch bei Vergewaltigung
Das Gesetz macht auch in Fällen von Inzest und Vergewaltigung keine
Ausnahme. Der republikanische Gouverneur von Texas, Greg Abbott, redet sich
damit heraus, dass er die Vergewaltiger von den Straßen Texas vertreiben
werde. Für die indigene Bürgerrechtlerin ist das „der idiotischste Satz,
den je ein Mann gesagt hat“.
„Abtreibung ist legal in Texas“ lautet die erste Botschaft auf der Webseite
von Planned Parenthood in Dallas. Es ist ein trotziges Aufbäumen, dem lange
Ausführungen über die zahlreichen Einschränkungen durch das neue Gesetz
folgen.
Planned Parenthood ficht das Gesetz vor Gericht an. Aber auch die größte
Organisation für Familienplanung in den USA muss sich den neuen Realitäten
in Texas beugen. Seit dem 1. September gehen noch mehr Anrufe bei ihr ein
als gewöhnlich. Erstmals kommen auch Anfragen von Frauen, die noch gar
keinen positiven Schwangerschaftstest haben, und vorsichtshalber einen
Termin für eine Abtreibung reservieren wollen. Bei manchen ist ein Kondom
beim Sex geplatzt. Andere sind Opfer von Gewalt geworden. In jedem Fall
stehen sie unter Zeitdruck. Eine Schwangerschaft kann meist erst zum
Zeitpunkt der ersten ausgefallenen Menstruation nachgewiesen werden. Danach
bleiben nur zwei Wochen.
Für Frauen mit geringem Einkommen sind die Beratungsstellen von Planned
Parenthood quer durch Texas oft der einzige Ort, an dem sie medizinisch
betreut werden. Fast alle Stellen haben Vorsorgeuntersuchungen,
Mammogramme, Verhütung und Schwangerschaftstests im Programm. Aber
Abtreibungen haben auch schon vor Ende August nur noch eine Handvoll
Kliniken in Texas angeboten. Seit dem 1. September hat Planned Parenthood
im Süden von Texas alle Abtreibungen – auch die im Frühstadium von
Schwangerschaften – eingestellt. Im Norden sind die Zahlen drastisch
gesunken. In Houston, der größten Stadt des Bundesstaates, wo vorher
durchschnittlich 25 Abtreibungen pro Tag stattfanden, wurden an zehn Tagen
im September nur 63 erfasst.
Statt eigener Eingriffe bietet Planned Parenthood nun logistische Hilfen
an. In Dallas hat die Organisation zwei „Patient Navigators“ eingestellt.
Sie buchen Termine für Abtreibungen in anderen Bundesstaaten. Die Kliniken
in den Nachbarbundesstaaten haben ihre Behandlungszeiten verlängert. Ein
Teil des medizinischen Personals von Planned Parenthood Dallas ist zur
Verstärkung nach New Mexico gegangen. In Oklahoma kommen schon mehr als die
Hälfte der Patientinnen aus Texas.
„Jeder Gynäkologe weiß, dass Abtreibung zur Gesundheitsversorgung von
Frauen dazugehört“, sagt Autumn Keiser, Sprecherin bei Planned Parenthood
in der texanischen Hauptstadt Austin. Aber die Gerichte in Texas haben
ihrer Organisation bislang nicht einmal Gelegenheit gegeben, ihre Argumente
bei einem Hearing zu erklären.
Selbst die [3][Anfechtung des texanischen Gesetzes] durch den
Bundesjustizminister führte nur zu einer kurzen Unterbrechung seiner
Anwendung. Am 6. Oktober setzte ein Richter das Gesetz per einstweiliger
Verfügung aus. Das Gesetz benutzt Tricks, um Frauen ein Recht zu entziehen,
das ihnen seit 1973 zusteht, begründete er. Aber schon zwei Tage später gab
ein anderes Gericht der Berufung durch die texanische Regierung statt.
Damit war SB8 wieder in Kraft.
Autumn Keiser ist optimistisch, weil in Washington erstmals seit Jahren
wieder ein Präsident und eine parlamentarische Mehrheit sitzen, die
„motiviert“ sind. Trotzdem fürchtet sie, dass Texas zu einer Zone von
komplettem Abtreibungsverbot werden könnte. Im nächsten Schritt würde das
Nachahme-Effekte quer durch den Süden und mittleren Westen der USA
auslösen, wo ähnliche Gesetze bereits in den Schubladen liegen. Schwangeren
Frauen aus diesen Staaten – flächenmäßig der größte Teil der USA – die…
legale Abtreibung suchen, bliebe dann nur die Reise in Staaten mit
demokratischen Mehrheiten, die das Recht auf Abtreibung in Gesetze gefasst
haben. Oder ins Ausland. Für Frauen sind das schlechte Nachrichten,
resümiert Autumn Keiser: „Es bedeutet: weniger Möglichkeiten und höhere
Kosten.“
Die Männer und Frauen, die im sechsten Stock des Hilton Hotels in Austin
zusammengekommen sind, sehen das anders. „2021 ist ein unglaublich gutes
Jahr“, sagt der evangelikale Pastor Robin Steele, der den Benefiz-Abend der
„Texas Alliance for Life“ mit einem Gebet eröffnet. „A-men“, kommt es
zurück. An den runden Tischen sitzen Geschäftsleute, Priester, Nonnen und
jede Menge texanische Republikaner. Die überwiegende Mehrheit der
Teilnehmer ist weiß. Einige Frauen wiegen Babys auf den Armen. Alle Redner
stellen sich mit der Zahl ihrer Kinder vor. Einer hat acht.
„Seit dem 1. September retten wir jeden Tag 150 Babys“, sagt der texanische
Vize-Gouverneur Dan Patrick. „Bravo“, rufen mehrere Hundert Tischgäste. Der
Vizegouverneur muntert sie auf: „Jeder von Ihnen kann einen Doktor
anzeigen.“ Nach ihm tritt der langjährige Chef der Vereinigung von
Abtreibungsgegnern ans Mikrofon. Joe Pojman macht klar, dass SB8 nur der
Anfang war: „Wir haben auch Gesetz Nummer 1280 durchgesetzt. Es tritt in
Kraft, sobald das Oberste Gericht die schreckliche Entscheidung von 1973
kippt.“ Das Gesetz verbietet jede Abtreibung „ab der Befruchtung“. Für J…
Pojman ist es keine Frage mehr, ob der oberste Gerichtshof in seinem Sinne
entscheidet, sondern wann. Er bekommt stehenden Beifall.
Der 62-Jährige Luftfahrtingenieur hat eine Weile für die Nasa in Houston
gearbeitet. Aber Joe Pojmans Lebenswerk ist der Kampf gegen das Recht auf
Abtreibung, das das Oberste Gericht im Jahr 1973 in einer
Grundsatzentscheidung garantiert hat. Nach seiner Überzeugung beginnt das
Leben „mit der Empfängnis“ und endet mit dem „natürlichen Tod“. Und d…
will er zum Gesetz des Landes machen. 1988 meldete er seine Organisation
bei der texanischen Steuerbehörde an. Seither hat er die Politiker und die
Medien in Texas bearbeitet. Und alljährliche Demonstrationen und Gebete
„für das Leben“ vor dem Kapitol in Austin organisiert. Nach 33 Jahren wäh…
er sich kurz vor dem Sieg. „Im nächsten Juni oder Juli können wir eine
Entscheidung des Obersten Gerichtes erwarten“, verspricht er am
Benefiz-Abend. Diese Veranstaltung findet am selben Tag statt wie die mehr
als 600 Demonstrationen quer durch die USA, bei denen Frauen das Recht auf
Abtreibung verteidigen.
Die Männer und Frauen im Saal nennen sich „Lebensschützer“, wie die
Gewalttäter, die in den 80er und 90er Jahren mit Sprengsätzen und
Schusswaffen gegen Gynäkologen vorgingen. Aber sie pflegen einen anderen
Stil. Sie gehen unverdeckt vor. Sind legalistisch. Und wissen, dass sie
starke Mehrheiten in den Institutionen haben. Nicht nur in Texas, wo die
Republikaner beide Kammern und das Gouverneursamt mit Supermehrheiten
kontrollieren, sondern vor allen Dingen im Obersten Gericht, wohin
Expräsident Donald Trump drei neue Richter geschickt hat, die das
Grundsatzurteil von 1973 ablehnen.
## Die Arbeit von Planned Parenthood wird behindert
Am Benefiz-Abend lassen sich Joe Pojman und republikanische Politiker aus
Texas für ihre legislativen Erfolge feiern. Dazu gehört, dass Planned
Parenthood in Texas sämtliche öffentlichen Mittel entzogen worden sind. Die
Gelder sind an die „Alternativen zur Abtreibung“-Programme umgeleitet
worden sind, die versuchen, Frauen zum Austragen ungewollter
Schwangerschaften und eventuell zur Adoption zu überreden.
Dazu gehört, dass der Sexualkundeunterricht an Schulen nur noch nach
elterlicher Zustimmung stattfinden darf, und dass Lehrer in Texas
angehalten sind, den Schülern Enthaltsamkeit vor der Ehe nahezulegen. Und
dazu gehört, dass ungewollt schwangere Frauen in Texas, schon lange vor SB8
alle möglichen Schikanen über sich ergehen lassen mussten, um eine
Abtreibung zu bekommen: Sie müssen Ultraschallbilder anschauen, elektrische
Impulse anhören und Texte lesen, die Falschinformationen verbreiten –
darunter die Behauptung, dass ein Schwangerschaftsabbruch das Krebsrisiko
erhöhe.
In jahrzehntelanger Arbeit haben Gruppen wie die Texas Alliance for Life
nicht nur Gesetze durchgesetzt. Sie haben es auch geschafft, der
Abtreibungsdebatte ihre Ideen und ihre Worte aufzuzwingen. Sie haben
Begriffe wie „Abtreibungsindustrie“ und „Töten“ populär gemacht, die
suggerieren, dass die andere Seite von Geldgier und Mordlust getrieben ist.
Sie haben das Stichwort „Herzschlaggesetz“ in Umlauf gebracht, obschon ein
Embryo in der sechsten Woche noch kein Herz mit Klappen hat, das schlagen
könnte. Und sie nennen Embryonen, die so groß wie Erbsen sind und weder
Arme noch Beine haben, „Babys“. Der Vizegouverneur geht noch weiter. Er
gibt ihnen eine Nationalität. „Wir retten kleine Texaner“, sagt er.
Für Frauen, die selbst entscheiden wollen, ob sie ein Kind wollen, haben
die Teilnehmer des Benefiz-Abends keine Empathie. Zu einer Schwangerschaft
nach einer Vergewaltigung sagt Debra Damman, Geschäftsfrau und aktives
Mitglied einer Pfingstler-Gemeinde achselzuckend: „Wir mögen es nicht
geplant haben, aber Gott hat einen Plan.“ Für Joe Pojman sind
Vergewaltigung und Inzest „schreckliche Verbrechen“. Aber er erkennt darin
keine Rechtfertigung für Abtreibung: „Die Frau kann das Baby behalten oder
zur Adoption freigeben.“
Debra Damman gehört seit zwölf Jahren zu der Vereinigung. Ihr nächstes Ziel
ist ein vollständiges Abtreibungsverbot in Texas. Aber selbst wenn es
dieses geben sollte, will sie ihr Engagement fortsetzen. Sie betrachtet
Texas als „Führer“: für die USA und die Welt. So sieht es auch Shawn
Carney, der eine halbstündige Rede hält, um die Anwesenden zu mehr Spenden
zu animieren. Das Spendenziel für den Abend sind 400.000 Dollar. Shawn
Carneys Talent, Bibelzitate und Politisches zu verbinden, ist den
Konservativen in Texas schon aufgefallen, als er noch Student war.
Inzwischen ist Shawn Carney ein texanischer Exportartikel. Er organisiert
gemeinsam mit evangelikalen Kirchen „40 Tage für das Leben“-Kampagnen,
schreibt Bücher und tourt um die Welt.
Aufgeklärte Frauen wehren sich gegen die Sprache, mit der Joe Pojman und
seine Mitstreiter versuchen, Politik zu machen. „Wir leisten keinen
Vorschub für rechte Rhetorik“, sagt Michelle Anderson vom Afiya-Zentrum in
Dallas, „in der sechsten Woche ist ein Embryo ein Gewebe, das sich
entwickelt.“ Aber in der Öffentlichkeit haben die Begriffe sich
durchgesetzt.
Selbst in Krankenhäusern in Texas ist das Thema Abtreibung tabu. „Natürlich
verhindert das Gesetz keine Abtreibungen, es macht sie allenfalls
unsicherer“, sagt die 29-jährige Krankenschwesternausbilderin Radiance Bean
in Dallas. Aber sie hält es für unmöglich, das an ihrem Arbeitsplatz zu
thematisieren. „Dann würde sofort ein Geldgeber drohen, seine Spenden
zurückzuziehen.“ Im vergangenen Jahr ist die schwarze Ausbilderin schon
einmal mit einem Thema, das ihr wichtig ist, gegen eine Wand gerannt. Sie
wollte an der staatlichen Universitätsklinik in Dallas eine
Unterrichtseinheit über Ungleichheiten in der medizinischen Betreuung von
schwarzen und weißen Patienten anbieten. Die Personalabteilung gab ihr 30
Tage, „um einen neuen Job zu suchen“.
Im Texas des Jahres 2021 fühlt sich die gebürtige Irin Abigail Aiken
gelegentlich an ihre Jugend in Nordirland erinnert. „Du kannst alles tun,
bloß nicht schwanger werden“, hat ihre ansonsten liberale Mutter sie damals
gewarnt. „In dem Fall könnte ich dir nicht helfen.“ Abtreibung war
verboten. Junge Mädchen, die zu dem Zweck nach England reisten, schadeten
dem Ruf der ganzen Familie.
Heute lehrt die 37-jährige Abigail Aiken an der University of Austin. Sie
hat Medizin und öffentliches Gesundheitswesen studiert, ihr
Forschungsgebiet sind Abtreibung und Alternativen zu operativen
Schwangerschaftsabbrüchen. Sie hat Studien über den Einsatz der
Abtreibungspillen Misoprostol und Mifepristone bei selbst durchgeführten
Abtreibungen in Europa gemacht. Ihr Ergebnis: „Sie sind sicher.“
## Abtreibungspille als Teil einer temporären Lösung
Anfang September, als das Gesetz SB8 gerade in Kraft getreten war, gingen
Frauen von der Organisation [4][Plan-C] mit einem kleinen Laster auf Tour
durch konservative ländliche Gebiete in Texas. Über die Außenwand ihres
Lasters flimmerte nonstop die Nachricht: „Periode verpasst? Dafür gibt es
eine Pille.“ Gefolgt von der eigenen Webseite. Von dort aus werden
Interessentinnen weiter an „[5][Aid-Access“] verwiesen, wo Frauen die
Pillen nach einer Onlinekonsultation für 105 Dollar bestellen können.
In den USA sind die Abtreibungspillen schon lange im Einsatz. Doch bislang
geschah das fast nur unter medizinischer Kontrolle in Kliniken. Erst bei
Beginn der Pandemie erlaubte die Medikamentenbehörde FDA – zunächst
vorübergehend – einen Postversand. Im September schnellten die Anfragen bei
Plan-C von ein paar Hundert pro Tag auf über 80.000 in der ersten
Septemberwoche hoch. 30 Prozent kamen aus Texas.
Die Republikaner in Texas haben bereits ein neues Gesetz verabschiedet, um
die postalische Zustellung von Abtreibungspillen zu verbieten. Aber wenn
Ärzte außerhalb von Texas Pillen verschreiben, die aus Europa oder Indien
kommen, greift ihr Gesetz bislang nicht. Die Forscherin Abigail Aiken ist
skeptisch, dass das Grundsatzurteil von 1973 im neuen Obersten Gericht der
USA Bestand haben wird. Aber sie sieht die Pillen als Silberstreif: Wie
einst in Irland könnten die Pillen in Texas, nach dem Quasiverbot von
Abtreibungen, eine Lösung bieten.
16 Oct 2021
## LINKS
[1] https://needabortion.org
[2] /Reproduktive-Rechte/!5778421
[3] /Abtreibungsrecht-in-den-USA/!5773731
[4] https://www.plancpills.org
[5] https://aidaccess.org/en/
## AUTOREN
Dorothea Hahn
## TAGS
Lesestück Recherche und Reportage
Schwerpunkt Rassismus
Feminismus
Schwerpunkt Abtreibung
Texas
Podcast „Vorgelesen“
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Evangelische Kirche
Recherchefonds Ausland
Schwerpunkt Abtreibung
Literatur
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Kolumne Unisex
USA
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hätten Anspruch auf Zugang zu Abtreibungen, lautet die Begründung.
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