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# taz.de -- Sprachgewalt und missbrauchte Wörter: Das Gift in unserer Sprache
> Früher hieß es „Gastarbeiter“, dann Einwanderer. Hinter Sprache steht
> Macht, und sie nimmt Einfluss auf das Denken.
Bild: Türkei: „Kurdische Provinzen“ war verboten, geschrieben wurde „die…
Es ist wunderbar, ein Buch zu lesen, das Erinnerungen an die eigene
Biografie weckt. Genauer: Welcher Gewalt durch Sprache und welchen
politischen Kampfbegriffen war man zeitlebens ausgesetzt? „Sprachgewalt.
Missbrauchte Wörter und andere politische Kampfbegriffe“ heißt der von dem
[1][Politikwissenschaftler David Ranan] herausgegebene Sammelband, der
jüngst im Dietz-Verlag erschienen ist.
„Es geht“, schreibt der Herausgeber, „um Begriffe, die im politischen
Diskurs zur Beurteilung und Kategorisierung dienen, zur Einteilung in Gut
und Böse, die beschönigen oder stigmatisieren, ein- oder ausschließen,
fördern oder vernichten.“
Schon die Titel der Aufsätze machen neugierig: Fake News, Populismus,
Patriotismus, Volk, Heimat, Antisemitismus, Rassismus, Kolonialismus,
Apartheid, Zionismus, Islamismus, Fundamentalismus, Märtyrer, Extremismus,
Terrorismus, Nazi, Faschismus, Völkermord, Menschenrechte, Gender,
Kommunismus, Sozialismus, Intellektuelle, Elite, Kosmopolitismus,
Demokratie, Freiheit, Wahrheit.
In meiner Kindheit in Deutschland war ich das [2][„Gastarbeiterkind“.] Es
bedurfte in Deutschland eines halben Jahrhunderts, bis der Begriff
weitgehend durch „Einwanderer“ ersetzt wurde. In den achtziger Jahren des
vergangenen Jahrhunderts war der Begriff „Rassismus“ geradezu verpönt. Er
war in den Medien und in der öffentlichen Debatte faktisch inexistent,
obwohl er gesellschaftliche Wirklichkeit abbildete.
## Kein Rassismus, nur Ausländerfeindlichkeit
Ich erinnere mich an die Kommunalwahlen in Frankfurt 1985, als der damalige
Oberbürgermeister Wallmann rassistische Motive in seinem Wahlkampf nutzte.
Als wir mit dem türkischen, kommunistischen Drucker Armağan Konrat und der
Argentinierin Dora de la Vega in einem Pamphlet den Oberbürgermeister des
Rassismus bezichtigten, schauten unsere politischen Freunde uns schief an:
Rassismus geht ganz und gar nicht. Vielleicht ein bisschen
Ausländerfeindlichkeit.
Die Berieselung durch Wörter und Wortkonstruktionen über Jahre hinweg –
angetrieben von Politikern und Journalisten – verschafft Ideologien
Legitimität und Macht. Nur eine kurze Auswahl für Deutschland:
Integrationsverweigerer, integrationsunwillig, Zuwanderung in
Sozialsysteme, Anti-Abschiebe-Industrie, Parallelgesellschaften, deutsche
Leitkultur. Gerade das Unbestimmte macht die Stärke der Begriffe aus.
Als ich eine neu nach Deutschland zugezogene Frau fragte, was sie unter
deutscher Leitkultur verstehe, antwortete sie: „Die Bild-Zeitung. Sie ist
doch die Zeitung mit der höchsten Auflage.“
Ranan zitiert in der Einleitung des Buches Victor Klemperer über die
Wirkung von Sprache: „Sprache dichtet und denkt nicht nur für mich, sie
lenkt auch mein Gefühl, sie steuert mein ganzes seelisches Wesen, je
selbstverständlicher, je unbewusster ich mich ihr überlasse. Und wenn nun
die gebildete Sprache aus giftigen Elementen gebildet oder zur Trägerin von
Giftstoffen gemacht worden ist? Worte können wie winzige Arsendosen sein:
Sie werden unbemerkt verschluckt; sie scheinen keine Wirkung zu tun – und
nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.“
## „Angeblicher Völkermord“ in der Türkei
Als Korrespondent in der Türkei hörte ich immer wieder den Begriff des
„angeblichen Völkermordes“. Wurde beim Völkermord an den Armeniern
„angeblich“ weggelassen, war das schon Grund zur Strafverfolgung.
„Kurdische Provinzen“ war verboten, geschrieben wurde „die Provinzen in
Südostanatolien“. Auch für die Bezeichnung der kurdischen PKK gibt es einen
feststehenden Begriff: „separatistische Terrororganisation“.
Ein Perfektionist in der Giftdosierung ist im Übrigen der türkische
Staatspräsident Tayyip Erdoğan. Noch vor Donald Trumps „fake news“
beziehungsweise der „Lügenpresse“ deutscher Querdenker hat er die Begriffe
im Türkischen eingeführt. Für jedes wirtschaftliche Missgeschick macht er
die „internationale Zinslobby“ verantwortlich.
George Orwell erteilt uns Ratschläge, wie man es besser machen kann:
„Politische Sprache wird gestaltet, um Lügen wahrhaftig und Mord
respektabel klingen zu lassen und leerem Geschwätz Aufmerksamkeit zu
verschaffen. Man sollte begreifen, dass das gegenwärtige politische Chaos
mit dem Verfall der Sprache zusammenhängt und dass sich eine Verbesserung
wahrscheinlich dadurch erreichen ließe, bei seinem verbalen Ende
anzufangen.“
15 Oct 2021
## LINKS
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## AUTOREN
Ömer Erzeren
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