# taz.de -- Suizide bei Tierärzt*innen: Hilflose Helfende | |
> Kaum ein anderer Beruf wird so romantisiert wie der der Tierärzt*in. | |
> Dabei ist es der Job mit dem höchsten Suizidrisiko. Warum? | |
Bild: Vögeln den gebrochenen Flügel verarzten? So romantisch ist es meist nic… | |
Einen Vogel mit gebrochenem Flügel verarzten, bei der Geburt von Kälbchen | |
helfen und täglich zig Hunde und Katzen streicheln – so vielleicht stellen | |
sich Kinder den Alltag von Tierärzt*innen vor. Auch unter Erwachsenen | |
ist die Annahme verbreitet, Veterinär*innen führten ein erfülltes, | |
glückliches Berufsleben, schließlich verbringen sie den ganzen Tag mit | |
Tieren und tun nebenbei noch etwas Gutes. Die Realität aber ist: In keinem | |
Beruf ist das Suizidrisiko so hoch wie in diesem. | |
[1][Internationale Studien kommen zu dem Ergebnis], dass | |
Veterinärmediziner*innen ein doppelt so hohes Suizidrisiko wie | |
Ärzt*innen haben und ein viermal so hohes wie die Allgemeinbevölkerung. | |
Forscherinnen der FU Berlin und der Universität Leipzig, die nun erstmals | |
das Risiko für Depressionen und Suizid bei Tiermediziner*innen [2][in | |
Deutschland untersucht haben], gehen sogar von einem sechsfach erhöhten | |
Suizidrisiko aus. | |
Warum ist das so? Und wieso ist darüber in Deutschland so wenig bekannt? Zu | |
Besuch bei Diplompsychologin und Psychotherapeutin Heide Glaesmer in ihrem | |
Büro der Universität Leipzig. Sie ist Mitautorin der 2020 im Fachmagazin | |
Veterinary Record veröffentlichen Studie zum Suizidrisiko bei | |
Veterinärmediziner*innen in Deutschland. „Dass sich die | |
Wissenschaft hierzulande bislang nicht mit der Suizidalität unter | |
Tierärzt*innen beschäftigt hat, hat einen Grund“, sagt Glaesmer. „Anders | |
als in anderen Ländern wird der Beruf der Verstorbenen in der | |
Suizidstatistik in Deutschland nicht erfasst. Daher ist es sehr aufwendig, | |
das Suizidrisiko von Berufsgruppen zu erforschen.“ | |
Da Glaesmer und ihre Kolleginnen die Suizidrate von Tierärzt*innen nicht | |
einfach beim Statistischen Bundesamt nachschauen konnten, haben sie eine | |
Befragung unter 3.118 Veterinärmediziner*innen im Alter von 22 bis | |
65 Jahren durchgeführt, wovon 79,5 Prozent Frauen waren. Zum Vergleich: Der | |
Frauenanteil unter den knapp 43.500 Tierärzt*innen in Deutschland liegt | |
bei rund 63 Prozent. | |
## 19 Prozent hatten Suizidgedanken | |
Die Teilnehmer*innen mussten unter anderem angeben, wie oft sie sich in | |
den vergangenen zwei Wochen niedergeschlagen gefühlt haben, wie oft sie | |
gedacht haben, dass sie lieber tot wären, wie wahrscheinlich es ist, dass | |
sie irgendwann durch Suizid sterben oder ob sie schon mal versucht haben, | |
sich umzubringen. Das Ergebnis: Knapp 28 Prozent der Befragten wiesen | |
Depressionssymptome auf, 19 Prozent hatten aktuelle Suizidgedanken und 32 | |
Prozent ein erhöhtes Suizidrisiko. Im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung | |
haben Veterinärmediziner*innen damit ein dreimal so hohes Risiko, | |
an Depressionen zu erkranken und ein sechsmal so hohes Risiko, sich das | |
Leben zu nehmen. | |
Auf die Frage, warum Veterinärmediziner*innen so gefährdet sind, | |
antwortet die Therapeutin: „Tierärzt*innen sind erst mal Menschen wie alle | |
anderen auch, alle allgemeinen Risikofaktoren für Suizid gelten also auch | |
für diese Berufsgruppe.“ Dazu zählten etwa psychische Erkrankungen, das | |
männliche Geschlecht, soziale Isolation oder Krisen wie das Ende einer | |
Partnerschaft oder der Verlust des Jobs. | |
## Risikofaktor Erschöpfung | |
Zusätzlich dazu gebe es Risikofaktoren, die speziell für Human- und für | |
Tiermediziner*innen gälten und in der Forschung immer wieder | |
diskutiert würden: beruflicher Stress, lange Arbeitszeiten, Nacht- und | |
Wochenenddienste und damit wenig Freizeit. „Viele der Befragten gaben an, | |
oft müde und emotional erschöpft zu sein, kaum Zeit für Privatleben zu | |
haben und sich wenig wertgeschätzt zu fühlen“, sagt Glaesmer. | |
Arbeitsbelastung und Belohnung lägen in einem Ungleichgewicht. | |
Darüber hinaus hätten Human- und Tiermediziner*innen Zugang zu | |
tödlichen Medikamenten und wüssten, wie sie welches Mittel dosieren müssen, | |
um zu sterben. „Mediziner*innen sterben überzufällig häufig an einer | |
Medikamentenvergiftung, das belegen internationale Studien“, sagt Glaesmer. | |
Warum aber ist das Suizidrisiko bei Tiermediziner*innen noch mal | |
deutlich höher als bei Humanmediziner*innen? „Eine Erklärung könnte sein, | |
dass Veterinärmediziner*innen häufig kranke oder verletzte Tiere | |
einschläfern müssen, sie werden also viel öfter mit dem Tod konfrontiert.“ | |
Ein Viertel der Studienteilnehmer*innen gab an, das Einschläfern | |
stelle eine „substanzielle Belastung“ für sie dar. „Dass sie durch das | |
häufige Einschläfern emotional abstumpfen und daher die Furcht vor dem | |
eigenen Tod verlieren, konnten wir aber nicht belegen, obwohl [3][das eine | |
Hypothese ist, die in diesem Zusammenhang diskutiert wird]“, sagt | |
Glaesmer. | |
## Ethischer Konflikt | |
Eine weitere mögliche Erklärung: „Veterinärmediziner*innen können manche | |
Tiere nur deswegen nicht retten, weil den Besitzer*innen das Geld für | |
die nötige Operation fehlt“, sagt Glaesmer. „Das tut nicht nur weh, | |
sondern bringt Tierärzt*innen auch in einen ethischen Konflikt. Sie | |
haben sich ja für den Beruf entschieden, weil sie Tieren helfen wollen.“ | |
Während Behandlungen in der Humanmedizin von der Krankenkasse übernommen | |
werden, zahlen Haustierbesitzer*innen meist aus eigener Tasche. Bei | |
einer Umfrage der LMU München unter 405 Hunde- und | |
Katzenbesitzer*innen in Deutschland gaben 16 Prozent an, ihr Tier | |
krankenversichert zu haben. | |
Julia Arnoldi, 40, wurde schon oft von Tierhalter*innen angeschrien, | |
weil die Behandlungskosten zu hoch seien. Sie arbeitet seit August als | |
Tierärztin in Freiburg, vorher war sie mehr als zehn Jahre in der | |
Kleintierklinik der FU Berlin tätig, erst als tiermedizinische | |
Fachangestellte und später, während des Studiums, als Hilfskraft. Im | |
Notdienst in Berlin hatte sie ständig Angst, auf wütende oder | |
verständnislose Halter*innen zu treffen. „Uns wurde oft vorgeworfen, | |
geldgierig zu sein und Tieren nicht helfen zu wollen – [4][nur weil wir sie | |
nicht umsonst operiert haben].“ | |
## Besitzer*innen können nicht zahlen | |
Ein Mann ist ihr besonders in Erinnerung geblieben. Sein Hund wurde vom | |
Auto angefahren und war schwer verletzt, die Operation hätte 1.500 Euro | |
gekostet – Geld, das der Besitzer nicht hatte. „Wir haben ihn gebeten, sich | |
das Geld bei Freund*innen oder der Familie zu leihen“, sagt Arnoldi. „Er | |
aber ist völlig ausgeflippt und hat der behandelnden Ärztin gedroht, ihr | |
nach Feierabend aufzulauern, wenn sie seinen Hund nicht kostenlos operiere. | |
Am Ende musste die Polizei kommen.“ | |
Die 32 Jahre alte Tierärztin Melanie Schwarze, die zusammen mit einer | |
Freundin eine Kleintierpraxis in Leipzig führt, berichtet Ähnliches: „Mir | |
ging es schon oft emotional schlecht, weil mir Haustierbesitzer*innen | |
vorgeworfen haben, zu hohe Preise zu haben oder schlechte Arbeit zu | |
leisten.“ | |
## Kein Privatleben, kaum Freizeit | |
Bevor Schwarze sich 2019 selbstständig machte, war sie unter anderem als | |
Assistenzärztin in einer Praxis für Groß- und Kleintiere auf dem Land | |
tätig. Dort hatte sie oft eine Woche am Stück Bereitschaftsdienst – 24 | |
Stunden am Tag. Weil Schwarze binnen 30 Minuten beim Tier sein musste, | |
konnte sie nie wegfahren. Besuche bei Freund*innen in Leipzig waren damit | |
unmöglich. „Bekam wiederum ich Besuch, musste ich oft mitten im Gespräch | |
aufbrechen, weil zum Beispiel eine Kuh nach der Geburt nicht aufstehen | |
konnte.“ Ein Privatleben hatte Schwarze so gut wie nicht. Für ihren | |
Vollzeitjob bekam sie [5][ein Monatsgehalt] von knapp 2.800 Euro brutto. | |
„Ich habe mich nicht anerkannt gefühlt“, sagt Schwarze. Heute verdient sie | |
als selbstständige Tierärztin „deutlich mehr“ – und das, obwohl sie in | |
Teilzeit arbeitet. | |
Anders als Amtstierärzt*innen, die zum Beispiel Schlachtbetriebe und | |
Bauernhöfe kontrollieren, haben angestellte Tierärzt*innen keinen | |
Tarifvertrag. [6][Der Bund angestellter Tierärzte e.V. (BaT) möchte das | |
ändern]. Berufsanfänger*innen sollten dem BaT zufolge im ersten | |
Halbjahr monatlich mindestens 3.500 Euro brutto bekommen. Zum Vergleich: | |
Humanmediziner*innen verdienen laut Deutschem Ärzteverlag im ersten | |
Assistenzarztjahr im Schnitt 4.700 Euro pro Monat. „Das Tiermedizinstudium | |
ist genauso anspruchsvoll und anstrengend wie das Humanmedizinstudium. Es | |
ist ungerecht, dass Tierärzt*innen weniger verdienen“, sagt Dr. | |
Elisabeth Brandebusemeyer vom BaT. | |
## Info-Website geplant | |
Um das Suizidrisiko bei Veterinärmediziner*innen zu minimieren, | |
plant Heide Glaesmer mit zwei Kolleg*innen eine Webseite, auf der | |
Tierärzt*innen erfahren, wie ein Ausgleich zwischen Job und Freizeit | |
gelingen kann, woran man Depressionen erkennt, wie man mit Symptomen umgeht | |
und wo man Hilfe bekommt. Während es in anderen Ländern | |
[7][Suizidpräventionsprogramme speziell für Tiermediziner*innen gibt, | |
in den USA etwa „Not One More Vet“], fehlen solche Angebote in Deutschland | |
bislang. | |
Neben einem höheren Gehalt und Präventionsprogrammen sei es wichtig, sagt | |
Glaesmer, Veterinärmediziner*innen bereits im Studium auf die zum | |
Teil emotional belastenden Situationen mit Tierhalter*innen | |
vorzubereiten. Bisher gibt es nur Wahlpflicht-Kurse zu diesem Thema. | |
## Verpflichtende Tierkrankenversicherung | |
Die Therapeutin schlägt verpflichtende Schulungen vor, in denen angehende | |
Tiermediziner*innen an Schauspieler*innen üben, unerfreuliche | |
Nachrichten zu überbringen, zu trösten [8][oder über Operationskosten zu | |
sprechen]. „In der Ausbildung von Humanmediziner*innen ist das | |
inzwischen Standard.“ | |
Damit es gar nicht erst zu Auseinandersetzungen mit Tierbesitzer*innen | |
kommt, wünschen sich die Tierärzt*innen Melanie Schwarze und Julia | |
Arnoldi eine verpflichtende Tierkrankenversicherung. So müsste kein Tier | |
Schmerzen aushalten oder sterben, nur weil sein*e Besitzer*in nicht | |
genug Geld beiseite gelegt habe. Gleichzeitig hätten die Praxen dann mehr | |
Einnahmen und könnten die Veterinärmediziner*innen besser | |
bezahlen. Viel bedeutender als Geld, sagt Tierärztin Arnoldi, sei aber die | |
Wertschätzung durch Tierhalter*innen. „Würden uns alle mit Respekt begegnen | |
und sich häufiger bedanken, wäre schon viel gewonnen.“ | |
12 Oct 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.wsava.org/wp-content/uploads/2020/12/Veterinary-Record_Veterina… | |
[2] https://bvajournals.onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1136/vr.105430 | |
[3] https://econtent.hogrefe.com/doi/full/10.1027/0227-5910/a000689 | |
[4] /Kampf-um-die-Wuerde-trotz-Hartz-IV/!5166501 | |
[5] https://www.vetline.de/lange-arbeitszeiten-geringes-einkommen-und-unzufried… | |
[6] https://bundangestelltertieraerzte.de/erhoehtes-suizidrisiko-in-der-deutsch… | |
[7] https://mensch-tierarzt.de/2021/04/rrn-suizidrisiken/ | |
[8] /Obdachlosigkeit-in-Berlin/!5729729 | |
## AUTOREN | |
Rieke Wiemann | |
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