# taz.de -- 314 Schafe, 3 Böcke und 100 Lämmer: Schäferin mit dickem Fell | |
> Die Schäferin Viola Timm zieht mit ihrer Herde südlich von Berlin über | |
> die Felder. Für ihre Tiere ist sie Mutti, Ärztin und Geburtshelferin in | |
> einem. | |
Bild: Die Schäferin Viola Timm inmitten ihrer Herde | |
Es ist der erste schöne Tag nach wochenlangem Regen. Die ersten Bäume | |
blühen, man hört die Vögel zwitschern, Hunde bellen und Schafe blöken. | |
„Außer Rand und Band sind die heute“, sagt Schäferin Viola Timm und lacht. | |
Tatsächlich sieht es so aus, als spüre die Herde, dass der Frühling ruft: | |
Unter lautem Geblöke und Glockengebimmel laufen sie aus dem Pferch, in dem | |
sie über Nacht gestanden haben, und machen sich gierig über die Pflanzen | |
der Nachbarwiese her. | |
Wanderschäfer*innen wie Viola Timm gibt es in Deutschland nicht mehr viele. | |
Der Bundesverband der Berufsschäfer gibt die Zahl der Betriebe, die sich | |
hauptberuflich mit der Wanderschäferei beschäftigen, mit 989 an. Neben dem | |
Verkauf ihrer Erzeugnisse wirtschaften sie mit Prämien. Schafe sind beste | |
Landschaftspfleger, und das wissen viele Länder und Kommunen zu schätzen. | |
Viola Timm lebt vor allem von dem Verkauf ihrer Lämmer. Wenn alles gut | |
läuft, wird die 49-Jährige in diesem Jahr um die 600 Jungtiere an den | |
Schlachter liefern. 40 bis 45 Kilo muss ein Lamm etwa haben. Dafür muss es | |
bis zu einem Dreivierteljahr weiden, und zwar bei jedem Wind und Wetter. | |
Einen Stall hat Timm für ihre Tiere nicht, Mast kommt für sie nicht | |
infrage. So mache das kaum noch ein Schäfer, erzählt sie: „Aber das ist die | |
natürlichste Haltung, die du haben kannst.“ | |
Nicht nur wegen ihrer Berufsethik und ihrer städtischen Herkunft ist Timm | |
eine Exotin im Schäfergewerbe. Sie ist auch eine Frau in einer | |
Männerdomäne. Schlüpfrige Sprüche von Kollegen und Dörflern sind keine | |
Seltenheit. Da muss Viola Timm ein ebenso dickes Fell haben wie ihre Tiere. | |
Und einfallsreich muss sie auch sein. So hat sich Timm – der Skepsis ihrer | |
Kollegen zum Trotz – eine Seilwinde ans Auto gebaut, um tote Schafe auch | |
ohne männliche Muskelkraft aufs Auto hieven zu können. „Das klappt | |
hervorragend“, erklärt sie stolz. | |
Glücklicherweise findet sie an diesem Morgen kein totes Tier vor. Die Herde | |
wirkt entspannt, eine Attacke durch einen Wolf, Fuchs, Marder oder Krähen | |
hat es in der Nacht also nicht gegeben. Einige Schafe kommen blökend auf | |
sie zugelaufen. Die Schäferin kniet sich zu ihnen nieder, nennt sie | |
„Schatz“ und „Mäuschen“, krault ihnen die Ohren und schmiegt das Gesic… | |
ihr weiches Fell. | |
## Kampf um Pachtflächen | |
Spät dran ist Viola Timm heute. Ehe sie aufs Feld gefahren ist, musste sie | |
noch bei einem Bauern vorbei, Klinken putzen. „Um die Pachtflächen wird | |
gehauen und gestochen und beschissen“, sagt die Schäferin, die nach dem | |
Kauf der Schäferei nur 30 Hektar übernehmen konnte. „Das reicht hinten und | |
vorne nicht.“ | |
An diesem Morgen hatte Timm Erfolg. Der Bauer hat ihr zwei Flächen | |
zugewiesen, auf denen sie ihre Schafe für ein bis zwei Wochen weiden lassen | |
kann. Im Prinzip eine Win-win-Situation, Timms Schafe haben Futter und der | |
Bauer Land, das er besser bearbeiten kann, weil die Schafe es gemäht und | |
platt getreten haben. Andererseits bedeutet die Herde für den Bauern | |
Büroarbeit – für die Düngekontrolle muss er ganz genau angeben, wann wie | |
viele Tiere auf seinem Land gewesen sind, wie lange sie dort frei | |
herumliefen oder in einem Pferch standen. Viola Timm muss also ein genaues | |
Weidetagebuch führen. Außerdem wird sie darauf achten, dass die Schafe | |
alles „schön ordentlich“ kurz fressen. Timm: „Wenn er nicht zufrieden is… | |
schmeißt er mich wieder runter.“ | |
Im Mai werden es fünf Jahre, dass Viola Timm mit den Schafen durch das | |
nördliche Teltow-Fläming zieht. 2015 wohnte sie zwar schon auf dem Land, | |
pendelte aber täglich nach Berlin, wo sie als Sozialpädagogin arbeitete. | |
„Eines Abends saß ich – nach so einem richtig beschissenen Arbeitstag – … | |
meinem Freund vorm Bauwagen und hab Wein getrunken, und da weidete diese | |
Herde um mich rum. Und da wusste ich plötzlich: Das ist es. Ich werde | |
Schäferin.“ Ihr Freund habe nur ungläubig gelacht. | |
Viola Timm aber meinte es ernst. Gleich am nächsten Morgen lauerte sie dem | |
Besitzer der Herde auf und sagte zu ihm: „Schäfer, bring mir alles bei, was | |
ich wissen muss. Dann pachte ich deine Schäferei und du machst dir ein | |
schönes Rentenalter mit deiner Frau.“ Der Schäfer habe versprochen, sie am | |
nächsten Tag abzuholen – was aber erst nach vielem hartnäckigen Nachfragen | |
drei Monate später geschah. Vier Jahre hat Viola Timm bei dem Altschäfer | |
gelernt. Erklärt habe er nicht sehr viel. Timm: „Der hat immer nur gesagt: | |
siehste dann schon. Und wenn nicht, biste hier falsch.“ | |
Anscheinend war Viola Timm richtig. Zum Jahresbeginn hat der Altschäfer ihr | |
die Schäferei verkauft und ist in Rente gegangen – ganz so, wie Timm es | |
vorausgesagt hatte. | |
Als die Schäferin sich jetzt daran zurückerinnert, lächelt sie. Ihre Tiere | |
liegen im Gras, dösen und käuen wieder. Der Schäfer habe recht gehabt, sagt | |
sie. Fürs Hüten müsse man „sich runterfahren“ und die Tiere genau | |
beobachten. Nur dann erkenne man, was sie bräuchten. Am Anfang sei ihr das | |
nicht leicht gefallen. Timm: „Da hatte ich Musik mit und was zu lesen. Oder | |
ich hab auf dem Handy rumgedaddelt. Wenn der Akku alle war, war ich völlig | |
fertig und dachte: Oh Gott, wie lang musst du jetzt hier noch rumstehen?!“ | |
Heute guckt Viola Timm kaum noch auf die Uhr. Sie erkennt auch so, dass nun | |
ein guter Moment ist, um die Schafe in einen engen Pferch zu locken. Das | |
Schaf mit dem entzündetem Euter muss eine Spritze kriegen, außerdem heißt | |
es Klauen schneiden. Dafür muss Viola Timm die Tiere mit dem Schäferstock | |
fangen und auf den Rücken legen – und das geht nicht auf großem Gelände. | |
„Kommt, Mädels, kommt!“, ruft sie mit einer Stimme, die tief aus dem Bauch | |
kommt und eine ganz eigene Melodie besitzt. Die ersten Schafe laufen los, | |
Leitschaf Minimi setzt sich an die Spitze, dann kommen auch die anderen | |
hinterher. Hütehund Friedel läuft bellend um die Herde und sieht zu, dass | |
auch das lahme Tier mit dem schlimmen Bein und die erst gestern geborenen, | |
noch halbblinden Lämmchen mit eingepfercht werden. | |
Zum Klauenschneiden kommt Viola Timm heute jedoch nicht. In der | |
zusammengepferchten Herde entdeckt sie ein Schaf mit einem riesigen | |
blutenden Abzess im Gesicht. Dem Anschein nach hat der sich nicht von | |
allein geöffnet – Krähen haben darin herumgepickt. Für Viola Timm ist das | |
nichts Besonderes. Trotzdem ist der eben noch so souveränen Schäferin nun | |
Nervosität anzumerken. „Scheiße, was mache ich denn jetzt?“, fragt sie | |
sich. „Den Tierarzt rufen?“ Sie entscheidet sich, beim Altschäfer | |
durchzuklingeln. Für so ein altes Schaf hohe Tierarztkosten auf sich zu | |
nehmen lohne nicht, meint der. Timm müsse das Tier selbst versorgen. Sollte | |
es schlimmer werden, müsse „das Ohr eben ab“. | |
„Ohr ab“, das bedeutet so viel wie: Das Schaf kommt zum Schlachthof. Früher | |
haben die Schäfer den aussortierten Schafen tatsächlich das Ohr | |
abgeschnitten, heute machen sie mit dem Stift eine Markierung. Was | |
geblieben ist: die Entscheidung über Leben und Tod. Ist es dringend, muss | |
Viola Timm auch mal selbst zum Messer greifen. So wie bei dem Schaf, das | |
beim Lammen die Gebärmutter mit rausgedrückt hatte: Timm: „Da waren so | |
viele Raben, die die Gebärmutter angefressen haben, das war echt schlimm.“ | |
Gut, dass Viola Timm da schon den Schlachtkurs belegt hatte. | |
Schauergeschichten wie diese hat die Schäferin einige auf Lager. So erzählt | |
sie von Schafen, die bei einem Sturm von einem Baum erschlagen wurden, | |
blutigen Wolfsattacken und einer Totgeburt, das sie einem Schaf aus dem | |
Leib ziehen musste. Der Gestank war so unerträglich, dass sie dachte, | |
sterben zu wollen. „Aber da haste keine Zeit zum Totsein“, schließt Viola | |
Timm und lacht. „Dann musste halt einfach schnell machen.“ | |
Gut erinnert sie sich auch an den letzten Sommer, als sie mit der Herde auf | |
eine weit gelegene Weide ziehen musste und gleich acht Lämmchen | |
schlappmachten. „Die habe ich bei 35 Grad eine Dreiviertelstunde lang | |
getragen. Da habe ich geheult.“ | |
## Freundschaften zerbrechen | |
Dieses völlige Auf-sich-allein-gestellt-Sein ist schwierig für Viola Timm. | |
Sie beschreibt sich selbst als geselligen Typ und könnte sich gut | |
vorstellen, einen Partner zu haben. Timm: „Aber wo soll der herkommen, der | |
wächst hier leider nicht.“ Abends fährt Timm manchmal nach Berlin. | |
Verabredungen einzuhalten sei jedoch oft unmöglich. Da wird ein Schaf | |
krank, hat Probleme beim Lammen oder ein Anruf kommt, dass die Tiere | |
ausgebüchst seien. Da heißt es, selbst die wichtigsten Termine absagen. | |
Timm: „Daran sind schon einige Freundschaften zerbrochen.“ | |
In der schönen Jahreszeit kommen die Freunde aus der Stadt manchmal raus, | |
um der Schäferin zu helfen. Wenn Timm weit ziehen muss, fahren sie mit dem | |
Auto hinterher und sammeln müde gewordene Schafe ein. Diese Hilfe ist | |
nützlich, zählen kann Viola Timm darauf jedoch nicht. Urlaub machen oder | |
krank im Bett liegen ist nicht drin. „Es gibt Tage, wo du denkst, ich will | |
nicht aufstehen, ich will Kaffee im Bettchen trinken und nach Berlin | |
fahren“, gesteht sie. „Aber dann stehste auf und machst einfach – fertig.… | |
Genau wie jetzt. Viola Timm hat ihren blutverschmierten Pullover gegen | |
einen anderen eingetauscht. Sie scheint sich wieder gefangen zu haben. So | |
wie auch das Schaf, dem sie eine Dosis Desinfektionsspray und ein | |
Schmerzmittel verpasst hat. Friedlich grast es mit der Herde auf der | |
nächsten Weide. Zeit, sich ein Verschnaufpäuschen zu gönnen – Viola Timm | |
lehnt sich dazu gegen den Schäferstock. Das sei so ein Moment, in dem sie | |
genau wisse, warum sie diesen Beruf mache, sagt sie. „Du hast die Sonne im | |
Rücken, guckst die an und weißt: Denen geht es gut.“ | |
Es ist dies, was Menschen wie Viola Timm am Schäferstock hält. Das Geld ist | |
es nicht. Vergangenes Jahr hat Timm durchschnittlich 4,28 Euro pro Stunde | |
verdient – weniger als viele Kollegen. Bei denen lag der Durchschnitt bei | |
6,80 Euro. „Wenn du das so rechnest, stehste morgens nicht mehr auf“, meint | |
die Schäferin. Sie hat sich deshalb entschlossen, nicht mehr zu rechnen. | |
Und für ihre Mädels weiter aufzustehen. | |
22 Apr 2020 | |
## AUTOREN | |
Karlotta Ehrenberg | |
## TAGS | |
Schafe | |
Brandenburg | |
Schäfer | |
Museum | |
Tierarzt | |
Tierhaltung | |
Tiere | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Die Wertschätzerin: Lieb und nicht immer teuer | |
Heide Rezepa-Zabel begutachtet im Museum der Dinge in Kreuzberg | |
mitgebrachte Schätze. Dabei geht es längst nicht immer nur um materiellen | |
Wert. | |
Suizide bei Tierärzt*innen: Hilflose Helfende | |
Kaum ein anderer Beruf wird so romantisiert wie der der Tierärzt*in. Dabei | |
ist es der Job mit dem höchsten Suizidrisiko. Warum? | |
Aktion auf dem Tempelhofer Feld: Mit Schaf und alles | |
Bis Sonntag grasen hundert Schafe auf dem Tempelhofer Feld. Hirte Knut | |
Kucznik verteidigt seinen Beruf – und redet mit allen, die Fragen haben. | |
Die Wahrheit: Schafe sind keine Schimpansen | |
Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (Teil 44): Die Welt der | |
Schäfer und ihrer Herden ist voll von Anekdoten und Witzen. |