| # taz.de -- SPD und Ampel: Das Orakel von Germany | |
| > Viel spricht für eine Ampelregierung auch wenn die schwierig wird. | |
| > Trotzdem könnte Olaf Scholz werden, was Joe Biden für die USA ist. | |
| Zu den paradoxen Charakteristika unserer Zeit zählt: Je bedrohlicher die | |
| Lage und um so verunsichernder die Polykrisen sind (Corona, Wirtschaft, | |
| Klimakatastrophe), desto zentraler wird das Sicherheitsbedürfnis der | |
| Menschen. Eigentlich braucht es radikale Änderungen, aber gerade deshalb | |
| ist es verständlich, dass die Bürger und Bürgerinnen beim Wählen vorsichtig | |
| sind. | |
| Denn wer will schon riskante Experimente, wenn sowieso schon überall alles | |
| kracht und kollabiert? Wer etwas verändern will, muss zugleich versprechen, | |
| dass alles schon ganz gemäßigt und solide angegangen werde. Auch das ist | |
| eine Lehre des deutschen Wahlsonntags. | |
| Die SPD hat gewonnen, aber nicht triumphal. Die Union ist gerade noch mit | |
| einem blauen Auge davongekommen. Auch sonst blieb alles im Rahmen, und bei | |
| der berühmten Links-rechts-Achse steht es eher fifty-fifty. Die Wähler und | |
| Wählerinnen haben gesprochen. Aber was wollen sie uns damit sagen? | |
| Zunächst: Die Sozialdemokraten haben [1][diese Wahl gewonnen], und zwar gar | |
| nicht so undeutlich. Schließlich liegen sie nicht nur knapp 1,6 | |
| Prozentpunkte vor der Union. Die Union hat rund 10 Prozentpunkte verloren, | |
| die SPD 5 gewonnen, und nimmt man die Umfragen der vergangenen Jahre, hat | |
| sie sogar 10 Punkte zugelegt. Gemessen an der Ausgangslage ist das ein | |
| mittleres Wahlwunder. | |
| Es wäre zu billig, das alleine auf Zufälle oder auf Personen zu reduzieren. | |
| Was heißt denn Sozialdemokratie für den Großteil der Wähler und | |
| Wählerinnen? Auf Seite der normalen Leute stehen, für die Arbeiter sein, | |
| dafür sorgen, dass es gerecht zugeht, garniert mit etwas | |
| gesellschaftspolitischer Modernisierung. Wenn Sozialdemokraten nur ein | |
| wenig den Eindruck erwecken, in dieser Hinsicht ein wenig glaubwürdiger zu | |
| werden, dann werden sie zurzeit gewählt. | |
| ## Nach Hartz IV | |
| Die Deutung, dass die SPD bloß einen guten Wahlkampf gemacht habe, die | |
| Union eben einen schlechten, greift schon etwas arg kurz. Olaf Scholz ist | |
| maßvoll, aber markant nach links gerückt. Der eher linke und der eher | |
| rechte Flügel der Partei zogen an einem Strang. Mit den Botschaften | |
| Mindestlohn, Respekt und ein investierender Staat zeichnete die SPD ein | |
| kongruentes Bild und macht damit sogar ihr Hartz-IV-Trauma vergessen. Der | |
| Kandidat verkörperte die Botschaft: Scholz kann’s, der wird das solide | |
| machen. | |
| Bloß: Armin Laschet ist ja auch nicht der unfähige Volltrottel, als der er | |
| jetzt gerne hingestellt wird. Aber er repräsentierte eine zerrissene | |
| Partei, die nicht mehr weiß, wo sie hinwill. Eigentlich hatte er schon | |
| verloren, bevor alles begann. Man erinnere sich an das Fiasko im | |
| Parteivorstand bei der Nominierung des Kandidaten. Es geht alles schief, | |
| rief Wolfgang Schäuble da mal in einer der vielen Krisensitzungen in der | |
| Nacht aus. So war es. | |
| Die Sozialdemokraten wurden also stärkste Partei, weil sie Sozialdemokraten | |
| sind – und nicht, weil Olaf Scholz smart genug ist, Lachkrämpfe zu | |
| vermeiden, wenn er durch vom Hochwasser zerstörte Städte latscht. | |
| Vielleicht hilft ja ein Blick über den deutschen Tellerrand hinaus. | |
| Sozialdemokraten haben in vielen Ländern Europas in jüngster Zeit Wahlen | |
| gewonnen. Sie regieren in ganz Skandinavien, in Dänemark, in Spanien und | |
| Portugal, und mit Joe Biden sitzt ein Mann im Weißen Haus, der viel mit | |
| Olaf Scholz gemeinsam hat. Er ist ein Mann aus dem Zentrum seiner Partei, | |
| der sich mit einem erstarkten linken Parteiflügel arrangierte, der als | |
| Präsident linker ist, „als es der Senator Joe Biden je war“ (Die Zeit). | |
| ## Das Erfolgsrezept: Mitte-Links | |
| Biden punktet heute mit den klassisch progressiv-sozialdemokratischen | |
| Botschaften. Dazu gehört, dass die Gesellschaft „von unten und aus der | |
| Mitte heraus wieder aufgebaut“ werden müsse. Denn die Entfesselung der | |
| Märkte und der Trickle-down-Effekt haben nicht funktioniert. Denn die | |
| Reichen werden reicher, die Armen ärmer. | |
| Die Menschen wollen nun soziale Sicherheit, ordentliche Löhne und nicht wie | |
| Nummern behandelt werden. Sie wollen auch nicht herumkommandiert werden. | |
| Man liegt gar nicht so arg schief, wenn man in Olaf Scholz den Joe Biden | |
| Deutschlands sieht. | |
| Daraus wird nicht automatisch ein neues sozialdemokratisches Jahrzehnt, wie | |
| es manche plötzlich schon proklamieren. Anders als in früheren Epochen | |
| verkörpern die Sozialdemokraten keinen planetarischen Zeitgeist. Die | |
| Gesellschaften sind polarisiert und die Wahlsiege sind auch viel zu knapp. | |
| Heute wird man – jedenfalls in Demokratien mit Verhältniswahlrecht – oft | |
| mit 25 Prozent Stimmenanteil schon stärkste Partei. Das bedeutet aber auch, | |
| dass Sozialdemokraten eher klapprigen Koalitionen vorstehen und dabei so | |
| viele Kompromisse eingehen müssen, dass sie am Ende wenige Spuren | |
| hinterlassen. Abgesehen von der Ausnahmefigur Antonio Costas in Portugal | |
| sitzt kaum ein regierender Sozialdemokrat auf einer soliden strategischen | |
| Mehrheit. | |
| Aber: Es gibt eine Nachfrage nach Sozialdemokratie, die dann zum Tragen | |
| kommt, wenn das Angebot einigermaßen stimmt. | |
| ## Sogar Kommunisten können siegen | |
| Es ist vielleicht nur ein skurriler Zufall, dass in der zweitgrößten Stadt | |
| Österreichs – in Graz – zeitgleich zur deutschen Bundestagswahl bei den | |
| Kommunalwahlen [2][die Kommunisten stärkste Partei (!) wurden] und die | |
| konservative Volkspartei gleichsam zertrümmerten. | |
| Die Grazer Kommunisten präsentieren sich seit 25 Jahren volksnah, | |
| bescheiden und auf der Seite der Benachteiligten. Das Ergebnis sind jetzt | |
| 30 Prozent (die Grünen haben 16, die Sozialdemokraten fast zehn, was sich | |
| auf eine satte Mehrheit links der Mitte summiert). Klar hat dieser Erfolg | |
| der KPÖ etwas Irreales. Aber er ist auch ein Symptom. | |
| Zurück nach Deutschland. Die Union hat zwar den Traum noch immer nicht | |
| aufgegeben, sich irgendwie zurück ins Kanzleramt zu tricksen. Aber diese | |
| Versuche haben eine bescheidene Legitimität. Gewiss, das Grundgesetz steht | |
| dem nicht im Wege. Aber Armin Laschet als Kanzler würde der Botschaft der | |
| Wählerinnen und Wähler schon arg widersprechen. | |
| Die Union, die sich gerade im Schlammcatchen übt, wirkt nicht einmal | |
| verhandlungs-, geschweige denn regierungsfähig. Im Grunde sollte daher | |
| alles auf die Ampel aus SPD, Grünen und FDP zulaufen. Nur: Diese | |
| Konstellation versetzt niemanden in wirkliche Feierlaune. Die Gewählten | |
| auch nicht. | |
| ## Rot-Grün war ein logisches Projekt | |
| 1998 war das anders. Da kletterten wir Journalisten vor der SPD-Baracke in | |
| Bonn auf die Laternenmasten, um im Meer der Feiernden irgendetwas zu sehen. | |
| „Rot-Grün, Rot-Grün“, skandierten Tausende. Damals hatte eigentlich keiner | |
| mit Rot-Grün gerechnet. Eine von der SPD geführte Große Koalition schien | |
| vor der Wahl unausweichlich. Aber kaum waren die Hochrechnungen | |
| einigermaßen klar, erschien Rot-Grün wie ein logisches Projekt, das dem | |
| Zeitgeist entsprach. | |
| Knapp dreißig Jahre vorher war das wahrscheinlich auch nicht anders | |
| gewesen, als sich die Brandt-SPD mit der FDP Walter Scheels zusammen tat, | |
| als Allianz einer modernistischen Sozialdemokratie mit dem liberalen Teil | |
| des deutschen Bürgertums. | |
| Bei der Ampel bekommt kaum jemand leuchtende Augen. Das beginnt schon mit | |
| der Sozialdemokratie, für die es heute keine Verlockung sein kann, in die | |
| Mitte zu rücken, sich Richtung liberaler Gesellschaftspolitik zu | |
| modernisieren. Sie ist, simpel gesagt, in dieser Richtung modern genug. | |
| Sie muss eher wieder Repräsentant der sogenannten einfachen Leute werden, | |
| die mit Recht lange das Gefühl hatten, dass sich für sie niemand mehr | |
| interessiert. Die Sozialdemokraten müssen eher geerdeter, | |
| gewerkschaftlicher werden, aber zugleich die Balance mit den jüngeren, | |
| städtischen linken und linksliberalen Milieus halten. So wie das Joe Biden | |
| macht, der die White Working Class im Mittelwesten ansprechen muss und | |
| zugleich die Fans von Alexandria Ocasio-Cortez. | |
| Die soziale Krise und der Kampf gegen die Klimakatastrophe verlangen einen | |
| intervenierenden starken Staat, der baut, investiert, modernisiert, | |
| begrünt, Stromleitungen legt, die Infrastruktur für die E-Mobilität | |
| schafft. Dabei können sich Sozialdemokraten und Grüne ja noch recht leicht | |
| treffen. | |
| ## FDP ist auf der Suche nach sich selbst | |
| Das Problem ist eine FDP, die im Grunde schon lange nicht recht weiß, was | |
| sie sein soll, liberale Bürgerrechtspartei im Traditionsstrom der | |
| Aufklärung oder AfD für Besserverdienende mit Schick und Geschmack? Das ist | |
| übrigens auch nicht völlig neu. Auch vor vierzig Jahren war sie zerrissen | |
| zwischen dem Linksliberalismus von Hildegard Hamm-Brücher und Co auf der | |
| einen Seite und einem piefig-provinziellen, sehr rechten | |
| Nationalkonservativismus, der viele Basisorganisationen prägte. | |
| Parteivorsitzende der FDP hatten immer einen Wackelkurs zu gehen. Das ist | |
| auch das Problem von Christian Lindner, der deshalb viele Leute irritiert, | |
| weil so recht nicht klar ist: Wer ist das eigentlich? Was will er? | |
| Vielleicht hilft der FDP ja ein Blick auf ihr Wählerpotenzial. Bei den | |
| Jungwählern bis 24 Jahre [3][sind die Liberalen stark.] Mehr als 20 Prozent | |
| der Jüngeren haben die FDP gewählt. Man kann vermuten, dass viele dieser | |
| Wähler eine Fantasie gewählt haben. Die Jungwähler sind nicht alle | |
| 18-Jährige aus der Erbengeneration, die schon im Gymnasium | |
| Ralph-Lauren-Hemden tragen und im Kinderzimmer vor ihrem Computer von einem | |
| Leben im Investmentgeschäft träumen. So viele deprimierende Jugendliche | |
| gibt es gar nicht. Diese jungen Leute haben die FDP gewählt, weil sie sie | |
| für frischere Grüne halten und für etwas lustiger als die Sozis. Für | |
| vernünftig, faktenorientiert und unideologisch. | |
| Man stelle sich vor, die FDP würde ein paar Dogmen abschütteln und sich in | |
| Richtung dieser Fantasie entwickeln. Dann hätte die Ampel neben einer | |
| Mehrheit vielleicht sogar auch noch eine Geschichte zu erzählen. | |
| 2 Oct 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.tagesschau.de/inland/btw21/spd-analyse-105.html | |
| [2] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/oesterreich-gemeinderatswahl-graz-… | |
| [3] https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/was-junge-waehler-von-fdp-un… | |
| ## AUTOREN | |
| Robert Misik | |
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