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# taz.de -- Linke verliert bei der Bundestagswahl: Die verlorene Platte
> Zwanzig Jahre lang hat Petra Pau Marzahn-Hellersdorf gewonnen. Doch jetzt
> triumphiert im Berliner Osten ein CDU-Mann. Wie konnte das geschehen?
Bild: Bleibt im Bundestag, trotz verlorenem Direktmandat: Petra Pau am Wahlaben…
Berlin taz | Tja, sie wisse auch nicht, warum die Linke das Direktmandat
hier in Marzahn-Hellersdorf verloren hat, sagt die junge Frau mit
Einkaufstüte in der einen und dem Kind an der anderen Hand. Ein Mann mit
zwei Tüten voller leerer Flaschen und Selbstgedrehter im Mundwinkel sagt,
zur Linken könne er nichts sagen, er habe die CDU gewählt. Er spricht mit
russischem Akzent. Russlanddeutscher? Er nickt. „Meine Kinder wählen CDU
und ich wähle, was sie wählen.“ Zwei Frauen mit angeleinten Hündchen winken
gleich ab. Die Linke? „Da fragen Sie de Richtige, die haben meine Stimme
noch nie bekommen. Ist doch eh alles korrupt hier“, sagt die eine und die
andere nickt.
Ein Rentner, Elektriker von Beruf, zuckt die Schultern: „Weeß ick och nich.
Meine zwei Kreuze haben die Linken bekommen.“ Seit 1991 wähle er die
Partei, die vorher PDS hieß, genauso lange, wie er hier in Marzahn wohne.
Direktkandidatin Petra Pau kenne er auch persönlich. „Der Bezirk hat sich
aber auch verändert, ist viel bunter hier.“
Eine Gesellschaft, die sich verändert, eine Partei, die nicht mitkommt.
Vielleicht ist das schon ein Teil der Antwort auf die Frage, warum die
Linke bei dieser Bundestagswahl im Kleinen wie im Großen verloren hat.
Nicht einmal 5 Prozent der Wähler:innen stimmten am Sonntag für die
Partei.
Der Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf galt 30 Jahre lang als linke
Hochburg. Er fungierte auch als Lebensversicherung. In den 90ern und
zuletzt 2002 war es das hiesige Direktmandat, das Kandidat:innen der
PDS zum Einzug in den Bundestag verhalf, als die Partei die 5-Prozent-Hürde
verfehlte. So wie dieses Mal wieder, nur ohne Marzahn-Hellersdorf.
## Die rote Burg ist gefallen
Denn seit dem Sonntag ist die rote Burg gestürmt. Der Verlust steht
beispielhaft für die Entwurzelung der Linken im Osten, für den Schwund der
alten Stammwähler:innen. Ohne den Osten, wo sie lange Volkspartei war, ist
die Linke eine Kleinstpartei.
Die Suche nach den Ursachen beginnt vor dem Wahlkreisbüro von [1][Petra
Pau] in Marzahn-Hellersdorf, es befindet sich im Erdgeschoss eines hellen
Betonbaus. Hier im Zentrum von Marzahn ist viel Beton verbaut. Marzahn war
die erste Berliner Großsiedlung, die die DDR in den 1970ern errichten ließ.
Die Wohnungen waren begehrt, Zentralheizung, Warmwasser, Müllschlucker im
Treppenhaus.
Marzahn-Hellersdorf beherbergt heute den größten Plattenbau Europas und
gleichzeitig eine der ausgedehntesten Eigenheimsiedlungen. Platte und
Häuschen – der Bezirk vereint die ganze Bandbreite sozialer Gegensätze.
250.000 Menschen leben hier, so viele wie in ganz Aachen oder Chemnitz.
Petra Pau, Jahrgang 1963, lebt seit 1989 in Marzahn. Aufgewachsen ist sie
in einer Berliner Altbauwohnung, kein Bad, die Toilette im Hausflur teilen
sich sechs Parteien. Vor der Wende arbeitet Pau als Pionierleiterin, ab
1991 als Berufspolitikerin für die PDS. Seit 2002 gewinnt sie in
Marzahn-Hellersdorf das Direktmandat. Jedes Mal. In Hochzeiten holt sie
fast jede zweite Stimme.
Am Sonntag verpasst Pau erstmals das Direktmandat. 39.403 Stimmen gehen an
[2][Mario Czaja] von der CDU, nur 29.259 an sie. Bundesweit verharrt die
Linke bei dünnen [3][4,9 Prozent] und erreicht nur über drei Direktmandate
als Fraktion den Bundestag. Über die Landesliste gelingt es Pau, dennoch
wieder in den Bundestag zu kommen.
## Die CDU als neue Kümmererpartei
Zu Besuch bei der Frau mit dem roten Igelhaarschopf. Nicht in ihrem
Marzahner Büro, sondern im Bundestag, wo ihr als Noch-Vizepräsidentin ein
Büro mit Blick auf den Reichstag zusteht. Es ist Dienstagmorgen, in einer
Stunde beginnt die erste Fraktionssitzung der um 30 auf 39 Mitglieder
geschrumpften Fraktion.
Dass die Linke überhaupt Fraktionsstatus hat, verdankt sie einer
Besonderheit der Geschäftsordnung. Wenn eine Partei mehr als 5 Prozent der
gewählten Abgeordneten stellt, gilt sie als Fraktion und nicht nur als
Gruppe mit deutlich weniger Rechten. Die Linke repräsentiert 5,3 Prozent
der Abgeordneten.
Pau kennt die Geschäftsordnung gut, hat sie gleich nach dem Aufwachen am
Montagmorgen studiert. Zu Bett gegangen sei sie am Sonntag noch mit dem
Gedanken, dem Bundestag nicht länger anzugehören.
Warum der Bezirk nach 30 Jahren an ihren Herausforderer ging? Pau redet
nüchtern, fast emotionslos. Wie nahe ihr die Niederlage geht, lässt sich
nur erahnen. Eine Ursache sei der sehr personalisierte Wahlkampf um das
Direktmandat gewesen. Der 46-jährige Mario Czaja, wie Pau Urberliner und
zudem im Bezirk geboren, tritt als Kiezkümmerer auf, setzt auf kommunale
Themen, etwa ein Freibad.
„Seitdem das Bad in Mahlsdorf Anfang der 90er geschlossen wurde, sind wir
die einzige Großstadt ohne Freibad. Wir kämpfen seit Langem dafür“, erklä…
Pau. Das Bundesinnenministerium habe jedoch Geld für Neubauten verweigert,
das sei Aufgabe der Kommune. Das habe Czaja natürlich nicht thematisiert.
Ihre Stimme bebt vor Empörung.
Positiv formuliert hat sich die CDU das Kümmererimage der einstigen PDS
geschnappt, die im Osten immer den Anspruch vertrat, vom Mieter- bis zum
Kleingartenverein vor Ort präsent zu sein. Hat die Linke das vielleicht zu
leichtfertig aufgegeben und stattdessen auf soziale Bewegungen gesetzt, wo
sich die jungen Neumitglieder tummeln?
„Wir sind auch die Kümmererpartei“, entgegnet Pau fest. „Das heißt, wir
sind für die Leute da.“ Sie sei in den letzten Monaten täglich im Bezirk
unterwegs gewesen, stand ab sechs vor der U-Bahn-Station und hat am
Nachmittag Erbsensuppe mit dem Deutschen Roten Kreuz an Bedürftige
ausgegeben. Mehr Präsenz ging also nicht? Sie breitet ratlos die Arme aus.
„Es sei denn, jemand hätte sich nachts noch mit mir treffen wollen.“
Zur Erbsensuppeausgabe gesellte sich an diesem Donnerstag vor der
Bundestagswahl auch Mario Czaja, der auch ehrenamtlich Präsident des Roten
Kreuzes ist. „Wir bekriegen uns nicht“, sagt Pau. Ihr gehe es immer darum,
hart in der Sache zu sein, aber niemals persönlich verletzend. „So habe ich
es immer gehalten.“
## Der Streit in der Partei
Innerhalb von Paus Partei hat dieses Prinzip in den letzten Jahren nicht
unbedingt gegolten. In einer sehr persönlich geführten
[4][Auseinandersetzung] streiten die Lager um den richtigen Kurs. Ein Kreis
wirbt um Wähler:innen, die nach rechts abzuwandern drohen, setzt dabei auch
auf nationalistische Töne. Eine andere Gruppe bemüht sich um die jungen
Leute, denen Umweltschutz und Minderheitenrechte am Herzen liegen.
Obwohl sich die Genoss:innen zuletzt, die Niederlage vor Augen,
disziplinieren, ist diese unversöhnlich geführte Diskussion noch längst
nicht beendet. Man muss sich nur die Pressemitteilung anschauen, mit der
[5][Oskar Lafontaine] am Montag ankündigt, im nächsten Jahr nicht mehr für
den Landtag in Saarbrücken zu kandidieren. Als Ursache für den Absturz der
Linken nennt er „die Übernahme grüner Politikinhalte – offene Grenzen für
alle, starke Betonung von Minderheitenthemen und ein Klimaschutz über
Verteuerung von Benzin, Gas und Heizöl“.
Dass die Linke bei der Bundestagswahl über 1,4 Millionen Wähler:innen an
SPD und Grüne verloren hat, muss diese These nicht unbedingt stärken.
Andere, wie die scheidende Abgeordnete [6][Heike Hänsel], sehen die zu
starke Fokussierung auf eine Regierungsbeteiligung als Ursache für den
Absturz. Da ist von einer „tödlichen Strategie“ die Rede.
Petra Pau widerspricht. Das Gegenteil sei richtig: Der Linken fehle eine
realistische Umsetzungsperspektive. „Wir haben ein massives Problem,
inwieweit uns noch die Kompetenz zugeschrieben wird, Probleme zu lösen“,
sagt sie. Sie deutet aus dem Fenster auf den Reichstag. Nur der Tatsache,
dass der Bundestagspräsident seinen Dienstsitz im Westen habe, sei es zu
verdanken, dass die Mitarbeiter des deutschen Parlaments nach dem Westtarif
bezahlt würden. 30 Jahre nach der Wiedervereinigung gelten in Ost und West
immer noch unterschiedliche Löhne und Renten. Und die einstige Ostpartei,
die Linke, hat daran in 30 Jahren nichts ändern können.
Pau sagt, ihre Partei müsse jetzt eine strategische und programmatische
Debatte führen. Sie hat da schon mal eine Idee skizziert. „Links sein im
21. Jahrhundert“, heißt ihr Büchlein, veröffentlicht vor zwei Jahren. Paus
zentrale These: „Rote müssen im 21. Jahrhundert zugleich Grüne und Piraten
sein. Nur so kann aus dem nötigen Kontra zum Bestehenden ein werbendes Pro
für Neues werden – bündnis- und mehrheitsfähig.“
Pau muss jetzt los zur Fraktionssitzung. Forschen Schrittes eilt sie zum
Reichstagsgebäude. Wie sich die Fraktion jetzt neu aufstellen müsse?
Zunächst mal sollten sich einige nicht mehr für den Nabel der Welt halten,
sagt sie. Wen sie meine? Keine Namen. Stattdessen lobt sie die beiden neuen
Parteivorsitzenden, Janine Wissler und Susanne Hennig-Wellsow. Beide hätten
sich vorbildlich verhalten: die eigene Person zurückstellen und versuchen,
alle zu integrieren.
## Otto Wels statt Clara Zetkin
Auf der Fraktionsebene unter der Reichstagskuppel wird Pau von einem
Mitarbeiter empfangen. „Wir sind bei der SPD im Otto-Wels-Saal.“ Ob die
Linke ihren alten Versammlungsraum, den Clara-Zetkin-Saal, weiter für sich
nutzen kann, steht noch nicht fest.
Fest steht dagegen, dass das Freibad in Marzahn gebaut wird. Der
rot-rot-grüne Senat hat die Mittel dafür in den Haushalt eingestellt. Mario
Czaja von der CDU wird das wohl als seinen Erfolg verkaufen. Aber Pau ist
fest entschlossen, dort auf jeden Fall schwimmen zu gehen.
28 Sep 2021
## LINKS
[1] https://petra-pau.eu/
[2] https://www.mario-czaja.de/
[3] /Wahldebakel-der-Linkspartei/!5803726
[4] /Linken-Absturz-bei-der-Bundestagswahl/!5800259
[5] /Krise-der-Linkspartei-im-Saarland/!5803882
[6] /Konsequenzen-aus-der-Klo-Affaere/!5028586
## AUTOREN
Anna Lehmann
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