# taz.de -- Deutsche Außenpolitik seit 9/11: Deutschlands Dilemma | |
> Das Verhältnis zu den USA war stets das Leitmotiv deutscher Außenpolitik | |
> nach 9/11. Der Abzug aus Afghanistan offenbart die Nachteile. | |
Bild: Zurück aus Afghanistan: Bundeswehrsoldaten auf dem Fliegerhorst Wunstorf… | |
Berlin taz | Die Bundestagssitzung am 12. September 2001 begann mit einer | |
Trauerminute für die Opfer des Terroranschlags auf die USA. Dann sprach | |
Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD). Er habe dem US-Präsidenten George W. | |
Bush sein Beileid ausgesprochen, sagte Schröder. Und: „Ich habe ihm auch | |
die uneingeschränkte – ich betone: die uneingeschränkte – Solidarität | |
Deutschlands zugesichert.“ | |
Schröders außenpolitischer Berater Michael Steiner erzählte Jahre später in | |
deutschen Medien, er habe noch versucht, den Kanzler von der Vokabel | |
„uneingeschränkt“ abzubringen. Schließlich hätten die Amerikaner | |
„überreagieren“ können – inklusive Atombombenangriff. Die Lage sei | |
unkalkulierbar gewesen: Die Bush-Regierung habe sich „regelrecht | |
eingebunkert“, berichtete Steiner, man sei in Washington überhaupt nicht | |
durchgekommen. | |
Das Dilemma der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik nach 9/11 ist in | |
diesem Szenario unmittelbar nach den Anschlägen bereits komplett enthalten: | |
Einerseits war Solidarität mit den USA so notwendig wie geboten. | |
Andererseits riskierte Deutschland dadurch, in Kriege hineingezogen zu | |
werden, über deren Art die USA wiederum stets allein entscheiden – und die | |
sie doch nicht kontrollieren können, wie die aktuelle Situation in | |
Afghanistan überdeutlich belegt. | |
An einem wichtigen Punkt hat die Bundesregierung – damals noch Rot-Grün – | |
sich aus dieser Klemme befreit: Sie verweigerte an der Seite von Frankreich | |
2002/2003 die Teilnahme an einem Krieg gegen den Irak. Man stehe „für | |
Abenteuer nicht zur Verfügung“, lauteten Schröders Worte. Gut möglich, dass | |
dies auch dem damaligen Bundestagswahlkampf geschuldet war. Dann wäre damit | |
eben bewiesen, dass Bekenntnisse in Wahlkämpfen nicht immer wertlos sein | |
müssen. | |
## Politische Gymnastikübungen | |
Doch wurden die politischen Kosten des „Nein“ zum Irakkrieg als | |
beträchtlich empfunden. Bis heute erklären Außen- und | |
VerteidigungspolitikerInnen von Union, SPD und Grünen, „schon wegen Irak“ | |
habe Deutschland sich in Afghanistan stark engagieren müssen – quasi um die | |
Scharte auszuwetzen. | |
Nur beruhen solche Rechnungen in der Außenpolitik fast immer auf | |
Eindrücken, auf kaum belegbaren Folgeabschätzungen. Der Irakkrieg war | |
herbeigelogen worden. Daraus, dass Deutschland nicht dabei war | |
(beziehungsweise nur geringfügige Hilfsdienste leistete), muss man nicht | |
zwingend größere Verpflichtungen an anderer Stelle ableiten. | |
Auch die Nato aber machte Afghanistan zu ihrem wichtigsten, Sinn und | |
Zusammenhalt stiftenden Projekt, und die Bundesrepublik schlüpfte in eine | |
bereits eingeübte Rolle: die der globalen Wirtschaftsmacht, die sich auch | |
außen- und verteidigungspolitisch „erwachsen“ zeigen will – die bloß M�… | |
hat, dies den eigenen Leuten zu erklären. | |
Auf den Klassentreffen der sicherheitspolitischen Szene, etwa der Münchner | |
Sicherheitskonferenz, vollführten deutsche PolitikerInnen also jahrelang | |
politische Gymnastikübungen aus Großmachen und Kleinmachen: einerseits | |
betonen, wie bedeutsam der deutsche Beitrag in Afghanistan und der Welt | |
längst sei. Andererseits Richtung „besondere Geschichte“, „pazifistische | |
Grundhaltung in der Bevölkerung“ und „wir bemühen uns ja“ gestikulieren, | |
wenn jemand andeutete, dass so ein Exportkoloss doch zweifellos auch | |
militärisch mehr leisten könne. | |
## Sicherheitslage bröckelte trotz Truppenaufstockung | |
Unter US-Präsident Barack Obama wurde Afghanistan ab 2009 zum [1][„guten“, | |
richtigen Krieg der USA], im Gegensatz zum „schlechten“ im Irak. Doch auch | |
eine enorme Aufstockung der Truppen – USA vorneweg, Deutschland hinterdrein | |
– brachte nicht das gewünschte Ergebnis. Im Gegenteil, die Sicherheitslage | |
in Afghanistan schien eher zu bröckeln. | |
Es waren Erkenntnisse, die in Deutschland nicht verarbeitet werden konnten. | |
Denn hier wollten die außen- und sicherheitspolitischen VordenkerInnen die | |
Beliebtheit Obamas auch nutzen, um am weltpolitischen Bewusstsein der | |
Bevölkerung zu arbeiten. | |
Auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Jahr 2014 sagten Bundespräsident | |
Joachim Gauck, Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) und | |
Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) fast wortgleich: | |
Deutschland müsse bereit sein, sich außen- und sicherheitspolitisch | |
„früher, entschiedener und substanzieller“ einzubringen. | |
Die Leitartikel dazu waren allerdings kaum gedruckt, da annektierte | |
Russland die Krim. Statt Aufstandsbekämpfung und Staatsaufbau am Hindukusch | |
war plötzlich eine Art Kalter Krieg zurück. „Früh, entschieden und | |
substanziell“ musste die Bundesregierung handeln – aber in ganz anderem | |
Zusammenhang als gedacht. Die Weltlage hatte sich wieder einmal nicht an | |
die deutschen Fahrpläne gehalten. | |
## Wider die Interventionslogik | |
Nach dem [2][schmählichen Abzug] der Alliierten aus Afghanistan dürfte es | |
künftig nun noch schwerer werden, irgendwen von einer Interventionslogik zu | |
überzeugen, wonach Deutschland unbedingt dabei sein muss, um erwachsen zu | |
sein. Ist jetzt der ganze „Westen“ geopolitisch am Ende und wird nirgends | |
mehr eingreifen, wie überall zu lesen steht? Manche FriedensforscherInnen | |
rollen dazu mit den Augen. | |
Über Jahrzehnte scheine es „dem Westen“ nicht gelungen zu sein, aus | |
Interventionen und Kriegen zu lernen. Stets werde von „lessons learned“ | |
zwar geredet, aber kaum je eine Lehre gezogen. Weswegen sich die Frage | |
stellt: Warum sollte es nächstes Mal anders sein? | |
10 Sep 2021 | |
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## AUTOREN | |
Ulrike Winkelmann | |
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