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# taz.de -- Hamburgs Verfassungsschutzchef zu 9/11: „Wir dachten erst an eine…
> Hamburgs Verfassungsschutzchef Torsten Voß sieht mit den Taliban in
> Afghanistan eine neue Terrorgefahr. Eine Tat wie 9/11 würde heute aber
> verhindert, sagt er.
Bild: „Beim zweiten Einschlag war klar, das konnte kein Zufall sein.“
taz: Herr Voß, wissen Sie noch, wo Sie vor 20 Jahren waren, als [1][am 11.
September 2001] al-Qaida Flugzeuge in das World Trade Center und Pentagon
steuerte und 3.000 Menschen starben?
Torsten Voß: Ich glaube, da weiß noch jeder, wo er damals war. Ich saß im
Vorzimmer des Hamburger Polizeipräsidenten und habe live in seinem Büro
gesehen, wie das zweite Flugzeug in die Türme geflogen ist. Wir dachten
beim ersten Flugzeug erst, es wäre ein Unfall. Beim zweiten Einschlag war
klar, das konnte kein Zufall sein.
Wie haben Sie reagiert?
Wir haben im Führungsstab überlegt, was das für Auswirkungen für die
Gefährdungslage in Hamburg und Deutschland haben würde. Es gab einen
sofortigen Austausch aller Sicherheitsbehörden. Verfassungsschutz und
Staatsschutz wurden sensibilisiert, Informationen in der islamistischen
Szene zu gewinnen.
Was war Ihre Reaktion, als klar wurde, dass es sogar einen Hamburg-Bezug
gibt? Dass [2][Mohammed Atta und weitere Attentäter] zuvor in Hamburg
lebten und sich dort radikalisierten?
Das Thema internationaler islamistischer Terrorismus wurde überwiegend vom
Bundeskriminalamt und Bundesamt für Verfassungsschutz bearbeitet, auch die
Ermittlungen zur Hamburger Zelle. Aber auch dort lagen keine Hinweise auf
solche Planungen vor. In die Ermittlungen war ich nicht involviert. Ich
hatte damals gerade erst mein Studium zum Polizeirat abgeschlossen und
arbeitete als Referent für den Polizeipräsidenten.
Ab 2011 wechselten Sie zum Hamburger Verfassungsschutz, wurden 2014 der
Behördenleiter. Wie sehr prägte 9/11 damals Ihre Arbeit?
Der Anschlag hatte die Arbeit des Verfassungsschutzes massiv verändert. In
den neunziger Jahren lag der Fokus in Hamburg noch klar auf dem
Rechtsextremismus. Wir hatten den Hamburger Sturm und die FAP, Szenegrößen
wie Michael Kühnen, Thomas Wulff oder Christian Worch, die Stadt war ein
bundesweiter Hotspot. Mit 9/11 erweiterte sich der Fokus abrupt, auch
bundesweit. Beim Hamburger Verfassungsschutz wurde ein neues
Islamismus-Referat aufgebaut und mit Personal deutlich aufgestockt. Es gab
ja auch nicht nur 9/11, vergessen Sie nicht die Anschläge in Madrid 2004
und in London 2005.
Beschäftigte Sie die Hamburger Zelle noch bei Ihrem Amtsantritt?
Nicht direkt. Einige der Mitglieder waren bei den Anschlägen gestorben,
andere inhaftiert oder geflohen. Die Al-Quds-Moschee wurde geschlossen, in
der Atta verkehrte, und der zugehörige Verein verboten. Aber das Umfeld der
Zelle haben wir natürlich im Blick behalten und auch die Entwicklung der
Szene.
Was war die zentrale Lehre aus 9/11 für den Verfassungsschutz?
Dass es eine noch intensivere Zusammenarbeit aller Sicherheitsbehörden
bedurfte – was 2004 mit der Gründung des Gemeinsamen
Terrorismusabwehrzentrum in Berlin auch umgesetzt wurde. Das war ein ganz
wichtiger Schritt. 9/11 hatte ja gezeigt, dass die Bedrohung nicht an der
Landesgrenze aufhört. Die Anschläge wurden in Afghanistan geplant und mit
Attentätern aus Hamburg und Saudi-Arabien durchgeführt.
Glauben Sie, so ein Anschlag könnte heute noch einmal passieren?
Anschläge, die von so langer Hand geplant werden, würden heute sehr
wahrscheinlich von den Sicherheitsbehörden im Vorfeld bemerkt. Das hat sich
an Fällen wie der Sauerlandgruppe ja auch gezeigt. Aber solche festen
Strukturen gibt es zunehmend nicht mehr. Heute haben wir es vor allem mit
Einzeltätern zu tun, die viel schwerer auszumachen sind.
Eine Folge des Aufstiegs und Terrors des „[3][Islamischen Staats]“ …
… ja, der Islamismus entwickelte sich deutlich anders, nachdem al-Qaida
durch den Einmarsch der USA in Afghanistan nahezu ausgeschaltet war. Mit
dem IS gab es nun eine Gruppe, die nicht mehr klandestin Anschläge plante,
sondern ihre Anhänger offen zu Attacken in Europa aufrief – dort, wo diese
wohnten und zu Zeitpunkten, die diese für richtig hielten. Das ist in
Würzburg, Ansbach oder auf dem Berliner Breitscheidplatz ja auch geschehen.
Das waren Einzeltäter, die teilweise zuvor von IS-Kadern über soziale
Netzwerke gespottet und angeleitet wurden.
Attentäter, die Ihr Verfassungsschutz nicht auf dem Schirm hatte oder
[4][falsch einschätzte].
Es ist eine große Herausforderung, Einzeltäter, die zuvor nicht in der
islamistischen Szene oder nach außen auffällig werden, im Vorfeld zu
detektieren. Dafür müssen wir sehr intensiv im Internet recherchieren – und
werden dennoch nicht alle finden. Zumal wir zuletzt immer wieder auch Fälle
psychisch Erkrankter hatten. Nur weil einer Allahu Akbar ruft, ist es noch
nicht gleich eine islamistische Tat. Wir müssen diese Fälle jedes Mal ganz
genau anschauen. Man darf aber nicht vergessen, dass die
Sicherheitsbehörden etliche Anschläge in den letzten Jahren auch verhindert
haben.
Zuletzt war der IS in Syrien und Irak wieder zurückgeschlagen, al-Qaida
marginalisiert. Wird dieser Erfolg mit der [5][Machtübernahme der Taliban]
in Afghanistan wieder zunichte gemacht?
Ich sehe die aktuelle Entwicklung in Afghanistan tatsächlich mit Sorge. Wir
müssen schauen, wie die Taliban nun agieren, inwieweit sie ein islamisches
Emirat nach altem Vorbild installieren. Al-Qaida fand in Afghanistan damals
ja einen Rückzugsraum und unterwarf sich den Taliban. Beide Anführer, Bin
Laden wie al-Zawahiri, schworen den Taliban den Treueeid. Der IS steht den
Taliban dagegen feindschaftlich gegenüber. Nun besteht die Gefahr, dass
sich in Afghanistan erneut ein terroristischer Rückzugsraum auftut und sich
zumindest al-Qaida dort reorganisiert. Wir müssen auch beobachten, ob es
internationale Freiwillige als foreign fighters dorthin zieht. All das
könnte mittel- oder langfristig auch die Gefährdungssituation in
Deutschland verschärfen.
In Afghanistan ist diese schon jetzt dramatisch, wie der Anschlag am
Flughafen in Kabul gezeigt hat. Den [6][reklamierte der IS für sich]. Was
bedeutet das für den internationalen islamistischen Terrorismus?
Der Anschlag zeigt einmal mehr das feindschaftliche Verhältnis des IS zu
den Taliban und dass dieser nur seine islamistische Ideologie zulässt.Es
ist jetzt zu beobachten und zu bewerten, was das Dreigestirn Taliban, Al
Qaida und IS in Afghanistan für den internationalen Terrorismus und die
Bedrohungslage für Europa und damit auch für Deutschland bedeutet. Wobei
sich nicht zuletzt durch den Anschlag andeutet, dass der IS weder mit
al-Qaida noch mit den Taliban eine Kooperation gegen den Westen eingehen
wird.
Und wie reagiert die islamistische Szene in Deutschland auf die Lage in
Afghanistan?
Auch die hiesige Szene war über die plötzliche Wende sehr überrascht. Klar
freuen sich viele Islamisten, dass der in ihren Augen ungläubige Westen
durch Muslime besiegt wurde. Trotzdem stimmt nicht jeder Islamist mit den
Taliban ideologisch überein. Da muss sich auch die Szene erst einmal
sortieren.
Nach 9/11 bekam der Verfassungsschutz mehr Personal und neue Befugnisse,
nun kommt auch der [7][Staatstrojaner] dazu. Hilft das nicht bei der
Einschätzung?
Doch, diese Instrumente sind unerlässlich. Denn der Extremismus hat sich
längst in die virtuelle Welt verlagert und kommuniziert auch dort. Die
klassische Islamistenzelle oder rechtsextreme Kameradschaft gibt es in der
Realwelt immer weniger. Und ich behaupte auch mal, den IS hätte es in
diesem Ausmaß ohne das Internet nicht gegeben. Durch ihre professionell
gestalteten Propagandavideos wurden über das Internet neue Anhänger
geködert.
In welchem Umfang überwachen Sie heute Kommunikation?
Darüber kann ich natürlich nicht offen sprechen. Aber wenn wir
Telekommunikationsüberwachungen durchführen, braucht es dafür Hinweise auf
schwere Straftaten und einen Beschluss der unabhängigen G10-Kommission. Das
geschieht also nicht leichtfertig. Für mich bleibt das wichtigste Werkzeug
aber immer noch die menschliche Quelle. Denn natürlich passen sich auch
Extremisten an und schützen ihre Kommunikation. Dabei hilft ihnen auch die
zunehmende Verschlüsselung im Internet.
Nach den 9/11-Anschlägen erklärten die USA einen Krieg gegen den Terror.
Der Islamismus ist dennoch nicht verschwunden, nun bekommt er gar wieder
Aufwind. Wurde der Krieg verloren?
Das sind verschiedene Kämpfe. Der Kampf gegen al-Qaida wurde dahingehend
gewonnen, dass es der Gruppe in den letzten Jahren nicht mehr gelang,
Anschläge in den USA oder Europa zu verüben. Aber der Islamismus ist
geblieben. Auch nach dem territorialen Zerfall des IS ist die
Gefährdungslage in Deutschland hoch. Weil sich der IS derzeit weltweit in
Zellen reorganisiert und mit Anschlägen versucht, sich wieder zu
profilieren. Und weil die Gefahr durch Einzeltäter fortbesteht.
Bemerkenswert ist auch, dass wir mit dem Erstarken des IS ab 2014 in
Hamburg eine Vervierfachung der Salafisten hatten – und diese Zahl mit dem
Zerfall der Gruppe kaum zurückgegangen ist.
Wie kommt das?
Das hat mit einer gefährlichen Entgrenzung des Islamismus zu tun. Die
Extremisten besetzen gezielt breit diskutierte oder akzeptierte Themen, die
sie mit ihrer Agenda vermengen. So erhielt der Verfassungsschutz Hamburg
vor zwei Jahren Kenntnis von einem Strategiepapier, in dem Islamisten den
Stadtteil Wilhelmsburg mit der Ideologie der verbotenen islamistischen
Hizbut Tahir überziehen wollten. Dafür gründeten sie extra einen
Fußballverein, um in Kontakt mit Muslimen zu kommen. Oder schauen Sie auf
die Gruppe „Realität Islam“, die es geschafft hat, eine Petition gegen das
Kopftuchverbot für Musliminnen unter 14 Jahren an Schulen mit über 170.000
Unterschriften in den Petitionsausschuss des Bundestages einzubringen. Das
klingt erst mal harmlos, aber diesen Gruppen geht es um etwas anderes: Sie
lehnen die Demokratie ab, diskreditieren den Staat, predigen Antisemitismus
und versuchen so den Brückenschlag in die Mitte der Gesellschaft.
Warum findet der Islamismus immer wieder Anhänger:innen?
Es gibt in unserem Land Menschen, die sich abgehängt fühlen und das unter
anderem darin begründet sehen, dass sie Muslime sind. Und wenn dann jemand
kommt, der vorgibt, für Muslime zu kämpfen, spricht das erst mal an. Dieses
Verwischen der Anliegen und das Einsickern des Extremismus in die
Gesellschaft ist gefährlicher für die Demokratie als ein Anschlag. Ein
Anschlag führt zu gesellschaftlicher Gegenwehr und Solidarisierung mit den
Opfern. Das Einsickern aber vergiftet das Miteinander.
Braucht es hier nicht Präventionsarbeit statt Verfassungsschutz?
Der Verfassungsschutz ist als Sicherheitsbehörde ein wichtiger Baustein,
wenn es um Prävention geht. Als Frühwarnsystem ist es unsere Aufgabe,
solche Strukturen zu detektieren und frühzeitig darüber zu informieren. Wir
sind die erste Verteidigungslinie unserer Demokratie. Aber natürlich
gehören zur Prävention auch die Polizei, Sozialbehörden, Schulen oder
muslimische Verbände. Nur mit Aufklärung ist der Kampf gegen den Islamismus
langfristig zu gewinnen.
30 Aug 2021
## LINKS
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## AUTOREN
Konrad Litschko
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