# taz.de -- Hamburger Terrorzelle: „Zum schlimmsten Mörder geworden“ | |
> Stadtplaner Dittmar Machule hat die Diplomarbeit des späteren Attentäters | |
> Mohammed Atta betreut. Ein Gespräch über trügerische Wahrheiten. | |
Bild: Zeitzeuge: Dittmar Maschule blickt auch nach Afghanistan | |
taz: Herr Machule, wollen wir über [1][Mohammed Atta] oder über Mohammed | |
el-Amir sprechen? Sie sagen immer, Sie hätten nur letzteren gekannt. | |
Dittmar Machule: Ich kenne Mohammed Atta nicht. | |
Inwiefern nicht? | |
Ich hatte mit Mohammed el-Amir zu tun, nicht mit dem Attentäter. Das war | |
jemand, der sich verändert hatte und das ist am besten ausgedrückt mit dem | |
berühmten Foto von ihm. | |
Das Sie nicht erkannt haben. | |
Ich sah dieses Bild, von seinem Pass, und dachte: Mensch, der sieht ja doch | |
so ähnlich aus. Mein Gott, könnte er das eventuell sein? | |
Wann hat sich das öffentliche Bild des Attentäters über das von el-Amir | |
gelegt? | |
Das fing an, als er sich verabschiedete, also kurz vorbeikam, was ich im | |
Nachhinein als Abschied empfand. Sie müssen sich einen normalen Studenten | |
aus Ägypten vorstellen, engagiert, fleißig. Er war komisch darin, keiner | |
Frau die Hand zu reichen, aber das war mir nicht so seltsam, weil ich das | |
bei frommen Moslems kannte. | |
Sie haben gesagt, wie oft Sie schon die immer gleichen Fragen beantwortet | |
haben und tun es doch wieder. Warum? | |
Als es losging und die Bilder da waren, rannten alle wie die Hühner | |
durcheinander und wollten bloß keine Presse reinlassen. Da habe ich gesagt: | |
Nee, Türen auf, alles sagen, und habe versucht, alles an mich zu ziehen, | |
damit nicht die TU in den Dreck gezogen wird. Ich bin Zeitzeuge, nicht für | |
die großen Geschichten, die da passierten, sondern für einen Menschen, der | |
nun der schlimmsten Mörder war von allen. | |
Was bezeugen Sie da: eine Radikalisierung? Oder die Unmöglichkeit, eine | |
solche Radikalisierung wahrzunehmen? | |
Ich bin Zeuge eines unfassbaren Geschehens, weil ich einen Menschen | |
kennengelernt habe, Mohammed el-Amir, als jemanden, [2][dem ich überhaupt | |
nichts Böses zutraute]. Und wo ich erfahren muss, dass es doch so ist, dass | |
er einer der verbohrtesten, dogmatischsten und schlimmsten Mörder geworden | |
ist. Der nicht nur sein Leben wegwirft, wie wir es ja 100.000 Mal erleben | |
zurzeit, sondern der auch wider das, was er vorher vertreten hat, handelt. | |
Aber wenn ich jetzt auf Afghanistan sehe, denke ich, dass wir nichts aus | |
der Geschichte lernen – und wir können auch nicht von dem, was ich als | |
Zeitzeuge erzähle, lernen. | |
Das ist eine sehr fatalistische Sicht. | |
Ich habe einer Kollegin ein Gedicht von Theodor Fontane geschickt, | |
„Afghanistan“. 1859 hat er das geschrieben. Die Engländer haben da tausend, | |
zehntausend Mann verloren. Sie schrieb mir zurück: Wenn ich eine Erkenntnis | |
habe, dann ist es die, dass die Menschen nicht aus der Geschichte lernen. | |
Der Grund ist ganz banal: Es ist immer Geldgier und Machtstreben. | |
Aber stehen Sie nicht beide für Forschung, also für die Vorstellung, dass | |
Bildung verändert? Und auch Ihre Zeitzeugenschaft wäre ja sinnlos, wenn es | |
bloße Dokumentation wäre. | |
Es ist alles dialektisch. Die Hoffnung stirbt zuletzt. | |
Hat sich Ihr Blick auf die Studierenden nach den Attentaten verändert? | |
Das ist eine Frage, die man mir schon gleich, nachdem es passiert war, | |
gestellt hat. Damals habe ich spontan gesagt: Nein, wir fangen jetzt nicht | |
an, jeden zu verdächtigen. Und meine Reaktion war ja auch: Nein, ich mache | |
nicht die Türen zu. | |
Was ja staatlicherseits in einem gewissen Maß passiert ist. | |
Ja, das ist ja das Dramatische. Manche Leute sehen das anders als ich, weil | |
sie eben ihre Mechanismen haben, ihre Wahrheiten, wie funktioniert unsere | |
Gesellschaft, wie funktioniert Demokratie? Und das ist ja auch der | |
Hintergrund, weshalb verdammt noch mal Großmächte [3][immer wieder meinen, | |
sie müssten ihre Wahrheiten irgendwo hin transportieren]. | |
Hat die Frage des Blicks des Westens auf den arabischen Raum nicht auch | |
eine Rolle in der Arbeit von Mohammed el-Amir gespielt? | |
Die Thematik spielte eine Rolle in seiner Diplomarbeit und auch wenn wir | |
miteinander gesprochen haben. Zum Beispiel: Was ist das Wesen von | |
arabischer Kunst und Architektur? | |
Gab es Menschen, die nach dem 11. September sagten, Sie hätten Mohammed | |
el-Amir etwas anmerken können – oder müssen? | |
Nein, das war meine Frage: Muss ich mir Vorwürfe machen? Habe ich etwas | |
nicht gesehen? Ich habe auch mit den Kollegen öfter mal darüber gesprochen. | |
Die haben dann auch gesagt: „Dittmar, man konnte nichts merken, wir haben | |
nichts übersehen.“ Ich habe die Kollegin, die den Mohammed betreut hat bei | |
den Korrekturen seiner Arbeit, gebeten: Lies du doch bitte die Diplomarbeit | |
auch mal, ob du irgendwo etwas siehst, wo man etwas hätte merken müssen. | |
Und dann waren das alles Stellen, die in ihrer kritischen Haltung dem | |
entsprachen, was ich hätte auch sagen können: zu dem, was die Amis machen, | |
oder etwas über die westliche Wertewelt. | |
Taucht auch der Umgang mit Frauen als Thema auf? | |
Ich hatte ihm gesagt: Mohammed, du solltest auch mal darüber nachdenken, | |
wie man die Bevölkerung beteiligt an Entwicklungen. Das hat er aufgegriffen | |
und sehr dezidiert beschrieben, weshalb das im syrischen, arabischen, | |
muslimischen Raum ganz anders ist, gerade in Bezug auf Frauen. Das war eine | |
neutral wissenschaftliche Betrachtungsweise, wo nicht eine eigene Meinung | |
durchkam. Das fand ich sehr positiv und es hat mich bestärkt in meiner | |
Einschätzung: Dieser Junge ist auf dem Weg dahin, dass er vermitteln kann | |
zwischen der westlichen Kultur, die er kennengelernt hat, und seiner | |
angestammten muslimisch geprägten Kultur. Also unterm Strich habe ich nach | |
zwanzig Jahren das ruhige Gewissen, dass ich nichts übersehen habe. | |
Ist Ihr Fazit aus dieser Begegnung also die praktische Erfahrung dessen, | |
was Sie theoretisch vorher ohnehin wussten: dass man immer nur den | |
Ausschnitt von Menschen erfährt, den sie einem zeigen wollen? | |
So war das hier nicht. Ich hatte 120 Studenten und Mohammed war einer von | |
denen, die eine Prüfung machen mussten und die sich interessierten. Er fiel | |
eben dadurch auf, dass er ein Ägypter war und ein bestimmter Typ. | |
Durch die Erfahrung dieser Begegnung hat sich also nichts für Sie | |
verändert? | |
Auf eine Weise nicht und auf eine Weise doch. Nicht dramatisch, dass man | |
sein Verhalten ändert. Aber jede Lebenserfahrung – ich merke jetzt auch, | |
ich bin 80 Jahre alt, „Alhamdulilah“, sagt man im Arabischen … | |
Was bedeutet das? | |
„Gott sei Dank“, so wie [4][„Allahu akbar“, „Gott ist der Größte“… | |
Es ist bitter: Damit assoziiere ich zuerst Selbstmordattentäter. | |
Das geht mir inzwischen auch so. Ich habe es im Ohr, wie in Damaskus, in | |
Aleppo die Muezzin rufen. Und vor meinen Augen entsteht [5][9/11, die | |
rauchenden Türme]. Das zum Beispiel hat sich verändert. Es ist ein Klang, | |
der mitschwingt. | |
Können Sie das noch genauer beschreiben? | |
Am Anfang war es so, als ob einer auf den Knopf drückt und die Spule | |
losgeht und ich erzähle von dem, was ich erlebt habe. Inzwischen kann | |
jemand über das Thema sprechen und ich kann schweigen. Manchmal ertappe ich | |
mich schon dabei zu sagen: Liegst du eigentlich falsch? Müsstest du | |
eigentlich jetzt am Boden zerschmettert sein und immer wieder dran denken? | |
Und ich warte immer noch darauf, dass mir einer ins Gesicht sagt: Du machst | |
dir was vor, du bist ja eiskalt, du verarbeitest das in deinem Inneren. | |
11 Sep 2021 | |
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## AUTOREN | |
Friederike Gräff | |
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