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# taz.de -- Scheitern des Westens in Afghanistan: Das Ende des Werteexports
> Der Abzug der USA und ihrer Verbündeten aus Afghanistan stellt in
> jederlei Hinsicht eine Zäsur dar. Die Welt von morgen wird anders
> geordnet sein.
Bild: So lieblich kann eine Brücke sein
Offensichtlich ging es dem Westen in Afghanistan nicht wesentlich um
wirtschaftliche oder geopolitische Interessen, wie einige Kritiker des
Einsatzes gemeint haben. Sonst hätte man sich nicht so ohne Weiteres zum
Rückzug entschlossen. Dass man sich bei dessen Folgen verschätzte, ist auch
nicht anzunehmen. Der US-Geheimdienst ist in den Analysen, auf die sich
jetzt alle berufen, davon ausgegangen, das bestehende Regime werde sich in
Kabul nur drei bis neun Monate behaupten können.
Der Westen hat der aufgerüsteten afghanischen Armee nicht zugetraut, sich
erfolgreich gegen die Taliban zu behaupten. Die Entscheidung zum
Truppenabzug war die Entscheidung, Afghanistan aufzugeben. Das hätte man
kaum getan, wenn man sich den Zugriff auf die dortigen Bodenschätze hätte
sichern oder das Land am Hindukusch als Bastion einer geopolitischen
Kontrolle Zentralasiens hätte ausbauen wollen.
Was aber waren dann die Motive, aus denen heraus die US-Amerikaner und
Europäer über fast zwanzig Jahre hinweg riesige Geldsummen in das Land
hineingepumpt, eine gewaltige Militärpräsenz aufrechterhalten und zahllose
Hilfsorganisationen dort alimentiert haben? Die Terrorbekämpfung allein
kann es kaum gewesen sein, denn die dortigen Al-Qaida-Basen waren schnell
zerschlagen, sodass man, wäre es allein um sie gegangen, spätestens 2003
hätte abziehen können.
Zweifellos hätte man auch danach dafür sorgen müssen, dass sie nicht erneut
aufgebaut werden, aber das hätte man, wie das auch in den pakistanischen
Stammesgebieten der Fall war, mit einer Kombination aus Späh- und
Kampfdrohnen sowie dem gelegentlichen Einsatz von Spezialkommandos sehr
viel einfacher und billiger haben können. Auf diese Weise wird man wohl
auch reagieren, falls sich in Afghanistan erneut international agierende
Terrorgruppen etablieren sollten.
## Biden folgte Trump
Letztlich bleibt bei der Motivsuche nur die Verbindung von „regime change“
und „nation building“, die dem westlichen Agieren zugrunde lag, also die
politische, gesellschaftliche und mentale Umgestaltung der afghanischen
Gesellschaft, die aus den Fesseln von islamistischer Ideologie und
bäuerlichen Traditionen befreit werden sollte. Etwas Ähnliches hatte die
Sowjetunion fast ein Jahrzehnt lang ebenfalls versucht – und war daran
gescheitert.
Der erste grundsätzliche Fehler der westlichen Afghanistan-Intervention
bestand darin, dass man die Gründe des sowjetischen Scheiterns nicht
sorgfältig analysierte, sondern sich mit der Vorstellung begnügte, die
Sowjets seien als Unterdrücker ins Land gekommen, während man selbst ja als
Befreier und Helfer auftrete. Das war eine Selbstbeschreibung, die man
durch die Wahrnehmung des westlichen Eingreifens seitens der Afghanen hätte
ergänzen müssen – und zwar durch jene, die auf dem Land leben und sich
Traditionen und Religion verbunden fühlen. Wahrscheinlich hätte man dann
eine Vorstellung davon bekommen, auf was für ein Projekt man sich einließ
und wie viele Jahrzehnte man veranschlagen musste, um eine Aussicht auf
Erfolg zu haben.
Das war allenfalls rudimentär der Fall. Stattdessen kam es, zumal in Europa
und hier insbesondere in Deutschland, zu einem Überbietungswettbewerb der
Werte, die man in Afghanistan einpflanzen, und der Normen, an denen man
sich dabei orientieren wollte. Wenn man schon mit Militär in die Region
hineinging, dann musste das moralisch rechtfertigbar sein und entsprechende
humanitäre Effekte haben.
Das passte gut mit der Vorstellung einer regelbasierten, wertgebundenen und
normorientierten Weltordnung zusammen, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts
die politischen Vorstellungen beflügelte: Wenn man schon mit den westlichen
Menschen- und Bürgerrechten nicht gegen China ankam und auch Russland sich
ihnen gegenüber zunehmend widerspenstig zeigte, dann konnte man an der
Peripherie dieser Machtblöcke zeigen, wie gut liberale Freiheit und
wirtschaftliche Prosperität zusammengingen. Afghanistan sollte zum
Musterfall, wenn nicht gar Hebel bei der globalen Verwirklichung einer
regel- und wertebasierten Ordnung werden, und das erklärt die
Beharrlichkeit, mit der man an dem Projekt noch festhielt, als sich immer
größere Probleme bei seiner Umsetzung zeigten.
## Das Ende einer wertebasierten Weltordnung
Folgt man dieser Rekonstruktion, so hat der Westen über bald zwei
Jahrzehnte keine Kosten und Mühen gescheut, das Ziel einer grundlegenden
Transformation der afghanischen Gesellschaft zu verfolgen. Darüber kann und
darf der überstürzte und chaotische Rückzug der letzten Tage mitsamt seinen
gerade in humanitärer Hinsicht verheerenden Begleiterscheinungen nicht
hinwegtäuschen.
Sie ziehen zurzeit die Aufmerksamkeit auf sich, aber das langfristig
Folgenreiche ist nicht nur der in jeder Hinsicht miserable Umgang mit den
Ortskräften, sondern die grundsätzliche Entscheidung zum Rückzug aus
Afghanistan. Der vormalige US-Präsident Trump hatte sie getroffen, aber der
jetzige Präsident Biden wollte sie nicht revidieren, was er hätte tun
können. Wie er selbst zum Rückzug steht, wurde in seiner jüngsten Erklärung
deutlich, in der er meinte, eigentlich sei es den USA ja nur um
Terrorbekämpfung gegangen, und das Vorhaben des „nation building“ sei nur
eine Begleiterin dessen gewesen.
Auch unter Biden also haben sich die USA von der Vorstellung einer regel-
und wertebasierten Weltordnung verabschiedet. Die Demolierung dieser Idee
war kein Trump’sches Zwischenspiel, wie so mancher geglaubt hat. Sie ist
definitiv. Denn die Europäer, auch das hat sich jetzt in Kabul gezeigt,
sind nicht in der Lage, dieses Projekt anstelle der USA weiterzuführen.
Insofern ist der Rückzug aus Afghanistan eine Zäsur von globaler Bedeutung.
Der Rückzug des Westens, des Militärs und der Hilfsorganisationen ist nicht
nur einer aus dem Land am Hindukusch, sondern auch ein Abschied von der
globalen Ordnungsidee, die weiter zu verfolgen zu teuer kommt und zu viele
Kräfte bindet.
Mit dem Historiker Paul Kennedy kann man das als ein Herausschlüpfen der
USA aus der Falle des „imperial overstretch“ beschreiben. Oder
grundsätzlicher: Eine Weltordnung, die zu ihrem Funktionieren auf einen
„Hüter“ angewiesen ist, steht nun ohne Hüter da. Die Vereinten Nationen
sind dafür zu schwach, zumal sie in allen wichtigen Fragen politisch
gelähmt sind. Die USA fühlen sich damit überfordert; und China, von dem
einige erwartet haben, dass es diese Aufgabe übernehmen würde, ist
erkennbar zu umsichtig, um sich auf ein solches Projekt einzulassen.
## Keine Werteorientierung in China und Russland
Zweifelsohne gibt es geopolitische Gewinner des westlichen Scheiterns in
Afghanistan. China und Russland sind hier als erste zu nennen, wenngleich
für sie mit der Verabschiedung des Westens aus der Region auch Risiken
verbunden sind. Pakistan und Iran sind Anwärter auf einen hegemonialen
Machtgewinn. Es ist wahrscheinlich, dass das zu neuen Konflikten führt,
über die sich indes nur spekulieren lässt. Was man jetzt aber schon
konstatieren kann, sind Kompromisslinien zwischen China bzw. Russland zu
den in Afghanistan siegreichen Taliban.
Diese mischen sich nicht in das Uigurenproblem der Chinesen ein und
unterstützen auch keine Offensive islamistischer Akteure in die einst der
Sowjetunion zugehörigen zentralasiatischen Republiken. Dafür kooperieren
Russen und Chinesen mit den Taliban in wirtschaftlicher Hinsicht. Darauf
sind diese dringend angewiesen. Russland und China verzichten aber auf
einen menschen- und bürgerrechtlichen Werteexport und lassen die Taliban
ungestört ihr Emirat errichten. Das dürfte der Modus Vivendi sein, mit dem
in nächster Zeit am Hindukusch zu rechnen ist.
Zum Verzicht des Westens auf die globale Durchsetzung einer an seinen
Vorstellungen orientierten Weltordnung kommt also noch der Umstand hinzu,
dass seine Konkurrenten und Kontrahenten, China und Russland, aufgrund
ihrer Werteindifferenz nach außen für viele Regime, seien sie nun eher
autoritär oder stärker ideologisch ausgerichtet, die attraktiveren
Bündnispartner darstellen. Der Westen ist durch seine Werteorientierung in
doppelter Hinsicht im Nachteil.
Zunächst, weil viele auf Distanz bleiben, da sie den damit verbundenen
Erwartungen nicht folgen wollen, und sodann, weil die werteorientierten
Vorhaben des „nation building“ ausgesprochen aufwendig sind, gewaltigen
Ressourceneinsatz erfordern und leicht angreifbar und zu zerstören sind.
Das haben zuletzt nicht nur Libyen und der Irak, sondern insbesondere auch
Afghanistan gezeigt. Man wird davon ausgehen müssen, dass die Ära des
Werteexports zu Ende ist. Die Erwartungen in eine regelbasierte globale
Ordnung lassen sich nur noch unter Minimalbedingungen aufrechterhalten.
## Ein Regime der Einflusszonen
Was heißt das? Ohne das Vorhandensein eines Hüters der Ordnung, der sich um
die Verwirklichung der Werte kümmert und für die Einhaltung der Regeln
sorgt, wird sich die weltpolitische Ordnung schnell verändern. Es dürfte
ein Regime der Einflusszonen entstehen, in dem die USA und China, Russland
und Indien sowie die Europäische Union, sofern sie handlungsfähiger wird,
als Akteure auftreten. Der neuralgische Punkt dieser Ordnung werden die
Überschneidungszonen und Zwischenräume der Einflusszonen sein sowie die
Territorien, an denen keiner der großen Akteure interessiert ist, weswegen
er sich weder um deren politische Stabilität noch wirtschaftliche
Prosperität sorgt.
Parallel dazu werden die Nichtregierungsorganisationen, die als
Wertebeobachter und Normverwalter auftreten, an Bedeutung und Einfluss
verlieren, jedenfalls in globalen Fragen. Innerhalb des eigenen, in diesem
Fall westlichen Einflussgebiets werden sie indes weiter hinreichend zu tun
haben. Das Problem der Proliferation von Atomwaffen wird wieder eine
stärkere Rolle spielen, weil sich viele, die bislang auf die von den USA
bereitgehaltenen Schutzschirme vertraut haben, nunmehr fragen, ob sie sich
darauf dauerhaft verlassen können. Auch darin dürfte Afghanistan eine Zäsur
darstellen.
28 Aug 2021
## AUTOREN
Herfried Münkler
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