# taz.de -- Doku-Film „Surviving 9/11“: Die Stimmen der Überlebenden | |
> Es gibt viele Dokus über den Terror vom 11. September. Arthur Cary | |
> verzichtet in seinem Film auf Erklärungen und lässt Überlebende zu Wort | |
> kommen. | |
Bild: Filmstill aus Arthur Carys „Surviving 9/11“ | |
Der Film „The Towering Inferno“ mit den beiden damals größten Stars, Paul | |
Newman und Steve McQueen, war der spektakuläre Höhepunkt der | |
Katastrophenfilm-Mode in den 1970er Jahren. Er lief in den zwei folgenden | |
Jahrzehnten regelmäßig im deutschen Fernsehen, danach plötzlich nicht mehr. | |
Der mutmaßliche Grund liegt auf der Hand. Das fiktive, zum Zwecke der guten | |
Unterhaltung entworfene Szenario um ein brennendes Hochhaus wurde, wie es | |
immer so heißt, von der Realität eingeholt. Und wenn man ihn sich heute | |
doch noch einmal ansieht, dann lassen einem manche Details wirklich das | |
Blut in den Adern gefrieren: etwa wenn da eine Frau entscheidet, lieber aus | |
dem Fenster zu springen, als in den Flammen zu verbrennen. | |
Das möchte man den [1][Überlebenden und den Angehörigen der Opfer von 9/11] | |
lieber nicht zumuten, schon klar. Andererseits sind die vier koordinierten | |
Flugzeugentführungen und der Anschlag auf das World Trade Center inzwischen | |
20 Jahre her – und damit historisch? Während Arte am Vorabend des 11. | |
Septembers einen Film über einen Terroristen, der ein Flugzeug entführt, | |
zeigt, setzt die ARD auf eine klassische Doku. | |
Dabei ist man mit einem Doku-Format gar nicht zwingend auf der sicheren | |
Seite, wie in diesen Tagen die [2][Kontroverse um Spike Lees „NYC | |
Epicenters 9/11 2021½]“ gezeigt hat. Lee wurde heftig kritisiert, weil er | |
Verschwörungstheoretikern arg viel Raum in seinem vierteiligen HBO-Projekt | |
eingeräumt habe. Es gibt also einiges, was man falsch machen kann im | |
angemessenen Umgang mit 9/11. | |
Man kann aber auch alles richtig machen. Wie Arthur Cary in seinem | |
Doku-Film „Surviving 9/11“. Der ausgezeichnete Filmemacher verzichtet | |
einfach ganz auf jegliche erklärende Einordnung durch einen Off-Kommentar | |
oder durch Terrorismusexperten, Psychologen oder andere Fachleute als | |
Talking Heads. Er beschränkt sich auf die Stimmen einiger Überlebender und | |
Angehöriger, die jeweils ihr Erleben jenes 11. September 2001 schildern. | |
Und der 20 Jahre danach. | |
## Heraus geschafft – hinein gerannt | |
Da ist etwa die Künstlerin aus dem Artist-in-Residence-Programm, die aus | |
ihrem Atelier im World Trade Center auf das Empire State Building in | |
Midtown herabblickte, und sich bis heute fragt, warum gerade sie es noch | |
heraus geschafft hat. Menschen, die eine vergleichbare Erfahrung nicht | |
gemacht haben, können solche Schuldgefühle nicht im Ansatz nachvollziehen – | |
sie sind aber ein bekanntes Phänomen. Auch eine Businessfrau stellt sich | |
diese Fragen: warum sie damals nicht gestorben ist. | |
Es gab die, die aus den brennenden Türmen heraus gelaufen sind, wenn sie | |
konnten. Es gab auch die, die hinein sind, wenn sie konnten. Die Witwe | |
eines Feuerwehrmannes berichtet von ihrem Mann, der von einem fallenden | |
Körper erschlagen wurde, noch bevor er das Gebäude betreten konnte. Sie | |
erinnert sich daran, wie stolz er immer darauf war, sich beim Football nie | |
die Nase gebrochen zu haben. Das alte Telefon mit dem letzten Anruf ihres | |
Mannes unmittelbar vor dem Einsatz auf dem Anrufbeantworter hat sie bis | |
heute aufbewahrt. Es sind solche persönlichen Details, die die Schrecken | |
des Terrors viel eher vermitteln als die nüchternen Fakten. | |
Ein anderer, der hinein wollte, mit seinem Kamerateam, ist der Journalist | |
N.J. Burkett. Während die Kleidung der Herauskommenden in Fetzen hängt, | |
sieht er auf allen 9/11-Archivbildern aus wie geleckt in seinem adretten | |
Anzug, den Manschettenknöpfen, den wechselnden Krawatten – wie viele mag er | |
dabei gehabt haben? Seine Erwartung – „I want to see the heroism and the | |
bravery of the fire fighters“ – ist so amerikanisch, dass man sie gar nicht | |
ins Deutsche übersetzen mag. Um so mehr bewegt es, zu sehen, dass es selbst | |
mit so einer auf die Sensation gepolten Professionalität irgendwann vorbei | |
ist und er nicht anders kann, als eine Frau in den Arm zu nehmen. | |
Apropos Helden: Die Passagiere des United-Airlines-Fluges 93, der das von | |
den Terroristen anvisierte Ziel nicht erreichte, wurden von Präsident | |
George W. Bush hinterher zu Helden erklärt. Wenn die Witwe des Co-Piloten | |
nun beklagt, dass er, LeRoy Homer Jr., darüber ganz vergessen wurde – und | |
insinuiert, dass das damit zusammenhänge, dass er Schwarz gewesen sei –, | |
dann wird deutlich, dass die Spaltung der amerikanischen Gesellschaft und | |
Black Lives Matter auch das Gedenken an 9/11 betreffen. | |
Auch wenn Arthur Carys Film keine Kontroversen auslösen dürfte, so heißt | |
das nicht, dass darin keine kontroversen Ansichten geäußert würden. „We | |
are, all of us, survivors of 9/11. If you were alive on 9/12, you are a | |
survivor of 9/11“, sagt N.J. Burkett wieder schön markig. Dass er damit | |
natürlich die Erfahrungen aller anderen Protagonisten von „Surviving 9/11“ | |
relativiert, scheint ihm nicht in den Sinn zu kommen. | |
11 Sep 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Schwerpunkt-9/11/!t5112232 | |
[2] https://www.spiegel.de/kultur/tv/spike-lee-kuerzt-serie-ueber-new-york-nach… | |
## AUTOREN | |
Jens Müller | |
## TAGS | |
Doku | |
Schwerpunkt 9/11 | |
Terror | |
USA | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Schwerpunkt 9/11 | |
Schwerpunkt 9/11 | |
Schwerpunkt 9/11 | |
Schwerpunkt 9/11 | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
20. Jahrestag von 9/11: Die Gesichter des 11. September | |
Nach den Anschlägen hingen überall in New York Zettel mit Vermissten. Wer | |
sind die Angehörigen dahinter? Eine Spurensuche 20 Jahre danach. | |
Vom 11. September zu Corona: Mutter der „alternativen Fakten“ | |
Die Behauptung, 9/11 sei ein „Inside Job“, war die erste große | |
Internet-Verschwörungsthese. „Alternative Fakten“ wurden massentauglich. | |
Hamburger Terrorzelle: „Zum schlimmsten Mörder geworden“ | |
Stadtplaner Dittmar Machule hat die Diplomarbeit des späteren Attentäters | |
Mohammed Atta betreut. Ein Gespräch über trügerische Wahrheiten. | |
Anti-Terror-Maßnahmen der USA: Kampf mit offenem Ende | |
20 Jahre nach 9/11 dauert der präventive Krieg gegen den Terror an. Orient | |
und Okzident treiben auseinander. Dabei können sie nur gemeinsam gewinnen. | |
Experte über Anti-Terror-Krieg nach 9/11: „Eine Etappe im Abstieg des Westen… | |
20 Jahre US-geführter „Krieg gegen den Terror“ haben den Terrorismus nicht | |
besiegt. Ganz im Gegenteil, sagt der Islamwissenschaftler Guido Steinberg. |