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# taz.de -- 20. Jahrestag von 9/11: Die Gesichter des 11. September
> Nach den Anschlägen hingen überall in New York Zettel mit Vermissten. Wer
> sind die Angehörigen dahinter? Eine Spurensuche 20 Jahre danach.
In den Tagen danach waren sie überall: Zettel mit Fotos von lächelnden
Menschen, von glücklichen Menschen. Von Frauen in eleganten Abendkleidern,
mit Kindern auf dem Schoß oder beim Anschneiden einer Torte. Von Männern,
die in kurzen Hosen am Strand saßen oder auf einer Party Freunde im Arm
hielten. „Missing Person Poster“ hießen die Zettel. Sie klebten in
U-Bahn-Stationen und den Fenstern von Restaurants, an Laternenpfählen,
Bushaltestellen und den Mauern von Krankenhäusern.
Je näher man Ground Zero kam, dem Ort, an dem das World Trade Center
gestanden hatte, desto größer waren die Flächen, auf denen die Poster
nebeneinander hingen, desto mehr prägten sie das Straßenbild. Zu jedem Bild
gab es ein paar Informationen, oft steckbriefartig knapp: die Namen der
Vermissten, Nordturm oder Südturm, das Stockwerk und die Firmen, für die
sie gearbeitet hatten, Cantor Fitzgerald, Aon, Forte Food Service, Windows
of the World. Dazu Telefonnummern der Angehörigen.
Am 11. September 2001 steuerten Terroristen um 8.45 Uhr das erste Flugzeug
ungefähr auf Höhe der 96. Etage in den Nordturm des World Trade Centers.
Die Explosion und die Trümmer der Boeing zerstörten neben den
Aufzugsschächten auch alle drei Treppenhäuser für die Notevakuierung. Die
Menschen in den darüberliegenden Stockwerken hatten keine Chance mehr zu
entkommen. Die zweite Maschine traf den Südturm um 9.03 Uhr in einem
schrägeren Winkel auf Höhe der 81. Etage. Eines der drei Treppenhäuser
blieb dort zunächst intakt, weshalb sich aus dem Südturm einige Menschen
oberhalb der Einschlagstelle retten konnten.
## Was passierte mit den Menschen von den Plakaten?
Das wusste in den Tagen danach aber noch niemand so genau: Wenn man auf die
Vermisstenzettel blickte, versuchte man unwillkürlich, die
Stockwerkangaben in Überlebenschancen umzurechnen. Vielleicht hatte der
Mann mit dem blauen Halstuch und dem Cowboyhut es doch noch aus dem 99.
Stock des Nordturms geschafft? Oder die Frau mit dem großen Blumenstrauß?
Je mehr Tage vergingen, desto klarer wurde: Man schaute in die Gesichter
der Toten.
Ich verbrachte damals viel Zeit vor diesen Zetteln, las die knappen Infos
wieder und wieder, prägte mir einzelne Gesichter ein, machte Fotos von den
plakatierten Wänden und Bushaltestellen. Der 11. September, dieser Dienstag
mit seinem unwirklich blauen Himmel, war zu groß gewesen, um ihn sofort
begreifen zu können. Hier vor den Missing-Person-Postern versuchte ich zu
verstehen, was er wirklich bedeutete.
Im September 2001 war ich in Manhattan, ich war 25 und machte gerade ein
Praktikum im New Yorker Büro der Deutschen Presse-Agentur. Nach dem
Einschlag der zweiten Maschine, als klar war, dass es sich um einen
Anschlag handeln musste, lief ich eine der endlos langen Avenues hinunter,
weil keine U-Bahnen mehr fuhren. Von meinem Wohnheim in der 88. Straße
wollte ich ins dpa-Büro, das im UN-Hochhaus an der 42. Straße lag.
Als ich dort ankam, waren die hohen Gebäude aus Sicherheitsgründen bereits
geräumt. So sah ich in einer Bar in Midtown auf einer Leinwand das erste
Mal, woher die weißlich-sandfarbene Wand stammte, die ich den ganzen
Vormittag über am Horizont der Avenue zwischen den Häuserschluchten gesehen
hatte. Es war die Staubwolke vom Zusammenbruch der Türme.
Ich erinnere mich an die Fassungslosigkeit in den Gesichtern. An eine junge
Frau auf einem Barhocker, die hemmungslos weinte. An den Barkeeper, der mir
eine Cola ausgab. Und an das abgründige Gefühl, dass nur ein paar Kilometer
von hier gerade Tausende Menschen gestorben sein mussten.
[1][2.753 Menschen kamen an diesem Tag in New York durch den Anschlag ums
Leben]. Nur 18 wurden in den folgenden Tagen noch lebend geborgen.
Die Fotos, die ich damals von den Missing-Person-Postern gemacht habe,
liegen heute mit anderen Bildern, Briefen und alten Musikkassetten in einer
Holzkiste in meinem Wohnzimmer. Immer wieder mal habe ich sie seitdem
hervorgeholt – die Gesichter auf den Zetteln schienen mir mehr über die
Anschläge des 11. September zu erzählen als die immer gleichen
Fernsehbilder, die an jedem Jahrestag gezeigt wurden.
Wenn ich in diese Gesichter blickte, fragte ich mich, wer die Menschen
gewesen waren, aber auch, wie das Leben derjenigen weitergegangen war, die
damals ihre Telefonnummern auf die Zettel geschrieben hatten, wie sie mit
dem Verlust und 9/11 zu leben gelernt hatten. Für diesen Text habe ich
versucht, mit einigen von ihnen zu sprechen.
Auf vielen Missing-Person-Postern stehen nur Telefonnummern, manchmal die
Vornamen der Angehörigen, selten die vollen Namen. Ich suche zu den Zetteln
die Nachrufe der New York Times heraus. Jedem 9/11-Toten wurde in der
Zeitung [2][in kurzen Texten gedacht], in denen man Namen von Angehörigen
findet. Außerdem gibt es im Netz Nachrufseiten wie [3][legacy.com], auch
dort finden sich Namen möglicher Gesprächspartner.
Die meisten Anfragen führen ins Leere. Die Telefonnummern, die sich online
zu den Namen recherchieren lassen, sind alle veraltet. Angehörige, die ich
über soziale Netzwerke oder per E-Mail anschreibe, melden sich nicht zurück
oder antworten knapp, sie hätten keine Zeit.
## Giovanna „Gennie“ Gambale, 27 Jahre alt
Dann antwortet mir die Schwester von Giovanna Gambale. Sie würde gern mit
mir sprechen, sie möchte, dass man sich an ihre Schwester erinnert.
Das Missing-Person-Poster von Giovanna „Gennie“ Gambale ist eines der
bekanntesten. Eine junge Frau, 27 Jahre alt, mit einem breiten Lächeln und
leuchtend rotem Lippenstift vor schwarzem Hintergrund. Bei den
Informationen, wo sie sich zuletzt aufgehalten hatte, hat jemand per Hand
Korrekturen eingetragen: Der 102. Stock und der Südturm sind
durchgestrichen, es war der 105. Stock des Nordturms. Im Netz gibt es
[4][Blogtexte] und Kommentare, in denen Menschen Jahre später schreiben,
dass sie sich an das Bild erinnern, wenn sie an den September 2001 denken.
„Manchmal passiert es heute noch, dass ich für den Bruchteil einer Sekunde
denke, ich muss unbedingt Gennie anrufen und ihr etwas erzählen“, sagt
Antonia Gambale Landgraf in unserem Videogespräch. „Aber diese Momente
werden immer seltener.“
Gambale Landgraf lebt heute mit ihrem Mann und ihren drei Söhnen in
Westport, Connecticut, einer Kleinstadt an der Atlantikküste. Gennie
Gambale war ihre zwei Jahre ältere Schwester. Sie habe sich immer um sie
und ihren jüngeren Bruder gekümmert. „Sie war ein bisschen bossy, aber auf
eine nette Art, so wie eine Glucke.“ Zusammen sind sie in Carroll Gardens
aufgewachsen, einem von italienischen Einwanderern geprägten Viertel
Brooklyns. Die Twin Towers auf der anderen Seite des Flusses waren ein
vertrauter Anblick.
Am 11. September 2001 arbeitet Antonia Gambale für die Deutsche Bank im
World Trade Center 4, einem neunstöckigen Gebäude neben den beiden Türmen.
Sie ist gerade im Büro angekommen, als sie einen Knall hört. Die Lampen
flackern, kleinere Trümmerteile fallen am Fenster vorbei. Ihre Kollegen und
sie entscheiden, das Büro sofort zu verlassen. Unten vor dem Haus sieht sie
das Loch im Nordturm. Sie nimmt an, dass es ein Unfall war, dass eine der
kleinen Cessnas, in denen Touristen gern Manhattan umkreisen, in den Turm
gekracht ist.
Sie läuft mit ihren Kollegen von dem brennenden Turm weg. Auf dem Weg fällt
ihr ein: Meine Schwester ist da oben. Giovanna Gambale arbeitet für Cantor
Fitzgerald, eine Finanzfirma, die fünf Stockwerke an der Spitze des
Nordturms gemietet hat. Weil das Mobilfunknetz zusammengebrochen ist, ruft
Antonia Gambale ihren Vater aus einer Pizzeria an. Es gibt keine Nachricht
von Gennie.
Ein Kollege setzt Antonia Gambale in ein Taxi, das sie nach Hause bringen
soll. Als es über die Brooklyn Bridge fährt, hört sie die Menschen, die
über die Brücke laufen, aufschreien. Im Taxi läuft Radio, der Moderator
sagt, der Südturm sei gerade zusammengestürzt. „Ich konnte mich nicht
umdrehen, ich wollte das nicht sehen“, erzählt Gambale Landgraf.
## In den Tagen danach kursierten viele Gerüchte
Die Missing-Person-Poster hätten sie noch am selben Abend gemacht. So etwa
1.000 Stück. „Es war keine reine Realitätsverweigerung. Wir dachten, es
gäbe eine kleine Chance.“ In den Tagen danach kursierten viele Gerüchte,
die Angehörige hoffen ließen. Schwerverbrannte seien nach New Jersey
verlegt oder in eine Spezialklinik nach Kanada ausgeflogen worden. Eine
Cousine Gambales war in einem Krankenhaus in der Nähe der eingestürzten
Türme gewesen. Gennie sei schwer verbrannt eingeliefert worden, sagte ihr
dort jemand. Als nach Stunden die Listen der Aufgenommenen kamen, war ihr
Name nicht darauf.
In Wirklichkeit waren die Krankenhäuser in New York nicht voll ausgelastet.
Es gab nur wenige Schwerverletzte. Wer den Türmen rechtzeitig entkommen
war, blieb körperlich oft unversehrt.
Etwa zwei Tage habe die Familie noch gehofft, erzählt Antonia Gambale
Landgraf, sich an Gedanken geklammert wie jenen, dass Gennie gerade einen
Aufzug nach unten genommen haben könnte, um eine Pause auf einer
niedrigeren Etage zu machen. Dann erklärte ein Psychiater ihrem Vater,
dass definitiv niemand in den Büroräumen von Cantor Fitzgerald überlebt
hatte.
Auch wenn die Vermisstenplakate nicht die Informationen brachten, die sie
sich erhofft hätten, hätten sie doch etwas Gutes gehabt, sagt Antonia
Gambale Landgraf. Fremde Menschen riefen an und sagten, wie sehr sie Anteil
nehmen würden, dass sie für ihre Familie beten würden. „Wir sind keine
Familie, die sich zurückzieht. Bei uns war die Tür immer offen. Viele
Freunde und Bekannte kamen vorbei, dazu die Anrufe – das alles fühlte sich
nicht aufdringlich an, sondern unterstützend.“
Von ihrer Kirchengemeinde wurde am zweiten Abend nach dem Anschlag eine
Andacht vor dem Haus der Gambales abgehalten. Antonia Gambale rechnete mit
ein paar alten Frauen, die einen Rosenkranz beten. Als sie vor die Tür
trat, hatten sich in der Straße 300 Menschen versammelt. Während sie im
Videogespräch davon erzählt, wischt sie sich ein paarmal die Augenwinkel
trocken.
Etwa zwei Wochen nach den Anschlägen fand eine Polizistin im Schutt des
World Trade Centers Gennie Gambales rotes Lederportemonnaie. Es hatte
Rußspuren, an einer Ecke war es angebrannt. „Es hatte diesen starken
Brandgeruch von Ground Zero. Als es im Erdgeschoss lag, roch unser ganzes
Haus danach“, sagt Gambale Landgraf. Ihr Vater gab die Geldscheine darin
einem Obdachlosen. Später spendeten sie das Portemonnaie mit
Einkaufsgutscheinen, Gennies Visitenkarte und ihrem Bibliotheksausweis dem
9/11-Museum, das heute Teil der Gedenkstätte am Ground Zero ist.
Die Toten des 11. September werden in der amerikanischen Öffentlichkeit mit
ihrem überschießenden Pathos oft als Helden bezeichnet, alle, nicht nur die
Feuerwehrleute. Sie wären für die Freiheit gestorben, heißt es dann. „Damit
kann ich nichts anfangen“, sagt Gambale Landgraf. „Meine Schwester ging an
dem Morgen zur Arbeit wie jeder andere auch. Dann wurde sie ermordet.“
Im Mai 2002, Antonia Gambale war gerade allein im Haus der Familie,
klopften zwei Polizisten. Die Überreste von Giovanna Gambale waren
eindeutig identifiziert worden. „Es hat mich umgehauen, obwohl es natürlich
keine Überraschung mehr war.“ Ende September hatten 3.000 Menschen eine
Gedenkveranstaltung für Gennie besucht, jetzt entschied sich die Familie
für eine sehr kleine Beerdigung. Sie hätten das gebraucht, um in Ruhe
abschließen zu können, sagt Gambale Landgraf.
Die Anschläge setzten eine Kette von Ereignissen in Gang, die Kriege in
Afghanistan und dem Irak, die Tötung Osama bin Ladens, auch der Fall von
Kabul im August dieses Jahres gehört in die Reihe. „Es ist schwierig, das
getrennt voneinander zu sehen“, sagt Gambale Landgraf. Die Jagd auf Bin
Laden sei gerechtfertigt gewesen, auch bei Afghanistan habe sie am Anfang
gedacht, dass es richtig sei, den Terror dort zu bekämpfen, nur habe es
sich zu einer unkontrollierbaren Lawine entwickelt. „Ich will nicht, dass
ein Mord zu einem anderen führt, dass meine Schwester benutzt wird, um
zivile Tote in anderen Ländern zu rechtfertigen.“
Die Familie geht nicht zu den öffentlichen Gedenkveranstaltungen, bei denen
jedes Jahr die Listen der Opfer verlesen werden. Sie würden im Stillen
gedenken. „Der Schmerz wird mit den Jahren nicht schwächer“, sagt Antonia
Gambale Landgraf. „Aber man lernt, mit ihm zu leben.“
Wenn man die Fotos der plakatierten Wände genauer anschaut, merkt man, wie
unterschiedlich die Zettel sind. Manche sind mit Hand geschrieben, teils
nur schwer zu entziffern. Farbausdrucke und rote Überschriften bekommen
mehr Aufmerksamkeit als krisselige Schwarzweißbilder.
Und genauso ist es 20 Jahre danach leichter, Kontakte zu Angehörigen zu
bekommen, die schon einmal mit Medien gesprochen haben. Meist sind es
Angehörige von Menschen, die gut bezahlte Jobs in den Türmen hatten. Die
Spuren der Sandwichverkäufer und Fensterputzer in den oberen Etagen
verlieren sich schnell, für sie finden sich im Netz keine eigenen
Erinnerungsseiten.
## Adam Arias, 37 Jahre alt
Bei der Suche nach den Menschen hinter den Vermisstenpostern lerne ich auch
Valerie Lucznikowska kennen. Sie hat ihren Neffen Adam Arias im Südturm
verloren – für das Poster, mit dem sie damals nach ihm suchte, hat sie in
den Jahren danach eine neue Funktion gefunden: Sie hat ein politisches
Plakat daraus gemacht.
Den Kontakt zu ihr bekomme ich über die Organisation „September Eleventh
Families for Peaceful Tomorrows“. In ihr haben sich Angehörige von Opfern
zusammengeschlossen, die ab Februar 2002 gegen den Kriegskurs der
US-Regierung protestierten.
Adam Arias sei ihr Lieblingsneffe gewesen, erzählt Valerie Lucznikowska zu
Beginn unseres Videogesprächs, sie selbst habe keine Kinder. Sie ist 82
Jahre alt und lebt seit ein paar Jahren in dem Städtchen Warwick, 90
Kilometer von New York entfernt. Eigentlich sei sie aber eine „in der Wolle
gefärbte New Yorkerin“.
Lucznikowska kommt aus einer polnischen Familie, ist in armen Verhältnissen
auf der Lower East Side aufgewachsen. Als Erste in ihrer Familie ging sie
aufs College, lebte im Ausland, studierte eine Zeitlang in London. Der
Aufstieg habe sie mit ihrem Neffen verbunden. Er hatte sich nur mit einem
Highschool-Abschluss zur Position des Vizepräsidenten einer Brokerfirma
hochgearbeitet. „Adam sollte gerade für seine Firma eine Zeit lang nach
London gehen. Ich wollte mitfliegen und ihm ein paar Tage die Stadt
zeigen“, erzählt Lucznikowska.
Politisch hätten sie sehr verschiedene Ansichten gehabt, aber das sei
zwischen ihnen kein Problem gewesen. Ihr Neffe war ein Anhänger von Ayn
Rand, einer Vordenkerin des Libertarismus, die einen völlig ungezähmten
Kapitalismus forderte. Sie sei dagegen eine Bernie-Sanders-Demokratin, sagt
Lucznikowska. „Manche nennen mich eine Sozialistin. Vor dem Wort habe ich
aber keine Angst.“
Am 11. September 2001 ist sie die Einzige ihrer Familie, die in Manhattan
lebt. Adam Arias wohnt mit seiner Frau auf der Nachbarinsel Staten Island,
pendelt jeden Tag mit der Fähre, arbeitet im 84. Stock des Südturms. Weil
nach dem Anschlag das Telefonnetz zusammengebrochen ist und keine regulären
Fähren mehr fahren, erwartet Lucznikowska, dass er zu ihrem Apartment
kommt, das vier Kilometer von den Twin Towers entfernt liegt. Es wird
Nachmittag, sie wird immer unruhiger. Schließlich geht sie zu einer
Vermisstenstelle, um ihn zu melden.
Zwei Brüder von Adam Arias kommen abends in die Stadt. Zu dritt machen sie
Plakate mit einem Bild von Adam, auf dem er lächelt, Blitzlicht spiegelt
sich in seinen Brillengläsern. Sie schreiben ihre Telefonnummern darauf,
hängen die Zettel in Downtown auf, in Parks und U-Bahn-Stationen, auch vor
einem Schwesternwohnheim, weil sie hoffen, eine Krankenschwester könnte
einen Komapatienten in ihm wiedererkennen. „Aber es hat niemand angerufen“,
sagt Lucznikowska.
Sie erinnert sich noch an den Moment, in dem sie begriff, dass es keine
Hoffnung mehr gab. Am Tag nach den Anschlägen hatten sie wieder und wieder
die Vermisstenbüros, Polizeistationen und Krankenhäuser abgeklappert, nach
Adam gefragt, seine Fallnummer genannt. Adams Brüder hatten sich abends
schon auf der Couch im Wohnzimmer hingelegt, Lucznikowska wollte noch
einmal zum Vermisstenbüro.
Nur noch wenige Leute warteten dort spät abends auf neue Nachrichten.
„Schließlich kam jemand mit einer neuen Liste rein, ich schoss auf ihn zu,
aber auf der Liste standen …“, sie macht im Gespräch eine kurze Pause, „…
standen nur einzelne Körperteile“. In dem Moment sei ihr klar geworden,
dass ihr Neffe tot sei. Er wurde 37 Jahre alt.
Adam Arias' Leichnam zählte zu den ersten, die man fand, er wurde noch am
11. September geborgen. Es dauerte aber acht Tage, bis man ihn
identifiziert hatte und die Familie informierte. Die Wochen danach erinnert
Lucznikowska nur als Nebel. „Mit dem Kriegsbeginn in Afghanistan habe ich
mich damals nicht beschäftigt, dazu war ich psychisch nicht in der Lage.
Ich wusste aber auch überhaupt nichts über das Land.“ Erst mit einigen
Monaten Abstand habe sie begonnen, viel dazu zu lesen, ihr politisches
Interesse sei dadurch erwacht.
2002 laufen die Vorbereitungen für den Irakkrieg. Obwohl es keine
Verbindung zu al-Qaida gibt, wollen auch viele Demokraten im Senat einer
Kriegsvollmacht für Präsident Georg W. Bush zustimmen. „Das Mantra war
damals: Wir ziehen im Namen derjenigen in den Krieg, die wir an 9/11
verloren haben“, erzählt Lucznikowska. „Und ich habe gesagt: Nicht in
seinem Namen.“ Sie hat das Vermisstenplakat ihres Neffen noch in ihrem
Computer gespeichert. Sie vergrößert es, zieht es auf eine feste Pappe auf
und demonstriert mit anderen Angehörigen vor dem Büro des demokratischen
New Yorker Senators Chuck Schumer.
## Sie hat oft das Plakat mit dem Foto dabei
Viel Aufmerksamkeit bekommt die kleine Demonstration nicht und Schumer
stimmt der Kriegsvollmacht im Oktober 2002 zu. Lucznikowska trifft bei dem
Protest aber eine Frau, die sie auf die Initiative „September Eleventh
Families for Peaceful Tomorrows“ aufmerksam macht. Sie tritt ihr bei, wird
eine der Sprecherinnen und geht in den folgenden Jahren zu unzähligen
Antikriegsveranstaltungen, oft hat sie das Plakat mit dem Foto von Adam
Arias mit dabei.
„Für mich war es eine unglaubliche Erleichterung, Menschen kennenzulernen,
die genau wie ich Rache ablehnten“, erzählt sie. Der Widerstand gegen die
Kriege nach 9/11 gibt ihr eine Aufgabe. Und er hilft ihr auch mit dem
Schmerz umzugehen. „Jeder Psychiater bestätigt das: Aktiv zu werden hilft
ungemein beim Überwinden eines Verlusts.“
Als eine Repräsentantin der 9/11-Familien wird sie 2008 vom Pentagon zu
einem Gespräch eingeladen, in dem Pläne für Guantanamo vorgestellt werden.
In dem Gefangenenlager inhaftieren die USA seit 2002 Terrorverdächtige, die
sie als „ungesetzliche Kombattanten“ bezeichnen. Lucznikowska wird zu einer
der härtesten Kritikerinnen des Lagers, besucht Anhörungen dort, prangert
Foltermethoden an und wirbt bis heute für die sofortige Schließung:
„Guantanamo offenzuhalten, würde bedeuten, dass wir nie Gerechtigkeit
bekommen“, weil dort nach Militärregeln prozessiert werde, nicht nach denen
einer unabhängigen Justiz, [5][schreibt sie im Juni 2021] in der linken
Wochenzeitung The Nation.
Sie spricht 2011 aber auch auf einer Konferenz, auf der eine neue
Untersuchung zu World Trade Center 7 (WTC 7) gefordert wird. Das 186 Meter
hohe Nebengebäude wurde von herabfallenden Trümmern des Nordturms
getroffen, danach brannten stundenlang unkontrolliert mehrere Feuer, was
abends zu seinem Einsturz führte. WTC 7 ist ein Einfallstor für eine
Vielzahl von Verschwörungstheorien, die davon ausgehen, dass die
US-Regierung selbst hinter den Anschlägen stehe. Als Beleg dafür gilt unter
anderem, dass die CIA eine Etage im WTC 7 gemietet hatte.
In ihrem Vortrag macht Lucznikowska keine Andeutungen, sie betont nur, dass
Menschen nicht dafür niedergemacht werden sollten, Dinge zu hinterfragen.
Sie stehe auch heute noch zu ihrem Vortrag, sagt sie auf Nachfrage. Man
sollte nicht sofort alles, was die offizielle Darstellung infrage stelle,
als Verschwörungstheorie abtun.
Die Familie ihres Neffen lehnt ihr politisches Engagement und ihre
Antikriegshaltung ab. Sie stünden weit rechts, hätten ihre Ansichten aber
früher immer toleriert, sagt Lucznikowska. Nach Beginn des Irakkriegs
ändert sich das, der Kontakt wird immer schwieriger. Ihre Schwester, die
Mutter von Adam, die 2015 stirbt, habe jahrelang nicht mehr mit ihr
gesprochen.
Und so führt diese Recherche auch mitten hinein in die politischen
Konflikte und die Polarisierung, die die USA heute so prägen. Ein Bruder
von Adam Arias heißt Don. Er gehört nicht zu jenen Brüdern, die in
Manhattan mit Lucznikowska damals nach dem Vermissten suchten.
Don Arias lebt in Florida, er ist 64 Jahre alt, war lange Offizier in der
Air Force und dort für Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Im Netz finden sich
Ausschnitte aus Interviews, in denen er bei dem rechten Fernsehsender Fox
News als 9/11-Angehöriger auftritt und früher Barack Obama, heute Joe Biden
heftig kritisiert.
In unserem Videogespräch erzählt er von dem letzten Telefonat mit seinem
Bruder am 11. September 2001. In seinem Büro auf einem Luftwaffenstützpunkt
in Florida sieht er im Fernsehen den brennenden Nordturm. Er ruft seinen
Bruder in der 84. Etage des Südturms an. „‚Du glaubst nicht, was ich hier
sehe. Leute springen da drüben aus dem Fenster‘, sagte Adam zu mir. Ich
sagte: ‚Geh nach Hause.‘ Ich weiß nicht, ob er das noch hörte. Es war sehr
laut im Hintergrund.“
Wenige Minuten später fliegt die zweite Maschine in den Südturm. 18
Menschen schaffen es von oberhalb der Einschlagstelle zu entkommen. Auch
aus dem Büro von Eurobrokers überleben einige. Was genau mit Adam Arias
passierte, ist nicht klar. Sein Bruder sagt, Adam sei noch unten am Ausgang
des Turms gesehen worden, wollte dann anderen helfen und sei
zurückgelaufen. Auf Nachfrage räumt Don Arias aber ein, dass er sich da
nicht ganz sicher sei, dass er das nur aus zweiter Hand habe.
Im Gespräch ist er differenzierter als in den Fox-News-Interviews. Als
Soldat wolle man für eine Militäraktion einen Anfang und ein Ende, das sei
das Problem mit den Kriegen in Afghanistan und Irak gewesen. „Und aus
heutiger Sicht muss man sagen, der Irak war ein monumentaler Fehler. Aber
damals dachten wir wirklich, sie hätten Massenvernichtungswaffen.“
Afghanistan sei anders, der Abzug katastrophal verlaufen, viel zu
überhastet. „Ich habe das Gefühl, dass wir irgendwann wieder dahin
zurückkehren werden müssen“, sagt Arias.
Wenn es um Guantanamo und die Menschenrechtsverletzungen der USA geht,
sieht er das Land weiter im Krieg – und in dem müsse man den „Gesetzen des
Krieges“ folgen und Dinge tun, die in Friedenszeiten nicht nötig seien. Es
ist eine wortreiche Umschreibung für: Folter ist in manchen Fällen doch
okay.
20 Jahre nach den Anschlägen befinden sich [6][noch 39 Gefangene in
Guantanamo]. Er könne nicht verstehen, dass die Militärtribunalprozesse
nicht vorankommen, sagt Don Arias. „Das liegt auch an linken Gruppen, NGOs
und Leuten, die nicht an Gerechtigkeit interessiert sind. Die verzögern das
immer weiter.“
Das ist der Moment, in dem das Gespräch unweigerlich auf seine Tante
Valerie Lucznikowska kommt. Sie sei schon immer komisch gewesen, habe im
Kalten Krieg zu den Russen gehalten, das habe die Familie damals noch
toleriert. Heute aber würde sie seinen toten Bruder für ihre politischen
Ziele benutzen, das sei für ihn sehr schmerzhaft.
Valerie Lucznikowska sagt, Don Arias würde nur Lügen über sie verbreiten.
Der wiederum sagt, wenn seine Tante selbst Kinder großgezogen hätte, nicht
nur Katzen, hätte sie auch einen realistischeren Blick auf die Welt. Es ist
eine Familienfehde, in der es darum geht, wer das Andenken an Adam Arias
vertreten darf. Ihn selbst kann niemand mehr fragen.
Im Oktober 2001 [7][erschien im Magazin der New York Times ein Essay] über
die Bedeutung der Missing-Person-Poster für die Trauerbewältigung in der
Stadt. Jeder New Yorker kenne durch sie mindestens ein Opfer, schrieb der
Autor. Aus der Vielzahl der Gesichter hätten sich die meisten eines
herausgepickt, das ihnen nun so vertraut sei wie jemand aus der
Nachbarschaft, den man seit Jahren ab und zu auf der Straße treffe. Das
mache das Ganze fassbarer, es helfe beim Verarbeiten.
Im multikulturellen New York hätte ein gemeinsames Trauerritual auch erst
geschaffen werden müssen – eben durch die Plakate der Vermissten, denen man
in den Wochen danach langsam beim Verwittern zuschauen konnte. Sie seien
genauso vergänglich wie die Blumenkränze auf einem Grab.
Anfang Oktober bin ich damals zurück nach Deutschland geflogen. Ich
erinnere mich, wie erleichternd es sich anfühlte, den schwelenden
Schutthaufen und den ständigen Brandgeruch in Manhattan hinter sich zu
lassen. Die Toten von 9/11 traten in meinem Leben wieder in den
Hintergrund. Die Menschen, die damals ihre Telefonnummern auf diese Zettel
schrieben, hatten diese Möglichkeit nicht.
11 Sep 2021
## LINKS
[1] https://nymag.com/news/articles/wtc/1year/numbers.htm
[2] https://archive.nytimes.com/www.nytimes.com/interactive/us/sept-11-reckonin…
[3] https://www.legacy.com/
[4] http://purplefishguts.blogspot.com/2006/09/tribute-to-giovanna-gennie-gamba…
[5] https://www.thenation.com/article/world/close-guantanamo-bay-2/
[6] /Freilassung-aus-Guantanamo/!5787892
[7] https://www.nytimes.com/2001/10/07/magazine/missing.html
## AUTOREN
Jan Pfaff
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