# taz.de -- 20. Jahrestag von 9/11: Die Gesichter des 11. September | |
> Nach den Anschlägen hingen überall in New York Zettel mit Vermissten. Wer | |
> sind die Angehörigen dahinter? Eine Spurensuche 20 Jahre danach. | |
In den Tagen danach waren sie überall: Zettel mit Fotos von lächelnden | |
Menschen, von glücklichen Menschen. Von Frauen in eleganten Abendkleidern, | |
mit Kindern auf dem Schoß oder beim Anschneiden einer Torte. Von Männern, | |
die in kurzen Hosen am Strand saßen oder auf einer Party Freunde im Arm | |
hielten. „Missing Person Poster“ hießen die Zettel. Sie klebten in | |
U-Bahn-Stationen und den Fenstern von Restaurants, an Laternenpfählen, | |
Bushaltestellen und den Mauern von Krankenhäusern. | |
Je näher man Ground Zero kam, dem Ort, an dem das World Trade Center | |
gestanden hatte, desto größer waren die Flächen, auf denen die Poster | |
nebeneinander hingen, desto mehr prägten sie das Straßenbild. Zu jedem Bild | |
gab es ein paar Informationen, oft steckbriefartig knapp: die Namen der | |
Vermissten, Nordturm oder Südturm, das Stockwerk und die Firmen, für die | |
sie gearbeitet hatten, Cantor Fitzgerald, Aon, Forte Food Service, Windows | |
of the World. Dazu Telefonnummern der Angehörigen. | |
Am 11. September 2001 steuerten Terroristen um 8.45 Uhr das erste Flugzeug | |
ungefähr auf Höhe der 96. Etage in den Nordturm des World Trade Centers. | |
Die Explosion und die Trümmer der Boeing zerstörten neben den | |
Aufzugsschächten auch alle drei Treppenhäuser für die Notevakuierung. Die | |
Menschen in den darüberliegenden Stockwerken hatten keine Chance mehr zu | |
entkommen. Die zweite Maschine traf den Südturm um 9.03 Uhr in einem | |
schrägeren Winkel auf Höhe der 81. Etage. Eines der drei Treppenhäuser | |
blieb dort zunächst intakt, weshalb sich aus dem Südturm einige Menschen | |
oberhalb der Einschlagstelle retten konnten. | |
## Was passierte mit den Menschen von den Plakaten? | |
Das wusste in den Tagen danach aber noch niemand so genau: Wenn man auf die | |
Vermisstenzettel blickte, versuchte man unwillkürlich, die | |
Stockwerkangaben in Überlebenschancen umzurechnen. Vielleicht hatte der | |
Mann mit dem blauen Halstuch und dem Cowboyhut es doch noch aus dem 99. | |
Stock des Nordturms geschafft? Oder die Frau mit dem großen Blumenstrauß? | |
Je mehr Tage vergingen, desto klarer wurde: Man schaute in die Gesichter | |
der Toten. | |
Ich verbrachte damals viel Zeit vor diesen Zetteln, las die knappen Infos | |
wieder und wieder, prägte mir einzelne Gesichter ein, machte Fotos von den | |
plakatierten Wänden und Bushaltestellen. Der 11. September, dieser Dienstag | |
mit seinem unwirklich blauen Himmel, war zu groß gewesen, um ihn sofort | |
begreifen zu können. Hier vor den Missing-Person-Postern versuchte ich zu | |
verstehen, was er wirklich bedeutete. | |
Im September 2001 war ich in Manhattan, ich war 25 und machte gerade ein | |
Praktikum im New Yorker Büro der Deutschen Presse-Agentur. Nach dem | |
Einschlag der zweiten Maschine, als klar war, dass es sich um einen | |
Anschlag handeln musste, lief ich eine der endlos langen Avenues hinunter, | |
weil keine U-Bahnen mehr fuhren. Von meinem Wohnheim in der 88. Straße | |
wollte ich ins dpa-Büro, das im UN-Hochhaus an der 42. Straße lag. | |
Als ich dort ankam, waren die hohen Gebäude aus Sicherheitsgründen bereits | |
geräumt. So sah ich in einer Bar in Midtown auf einer Leinwand das erste | |
Mal, woher die weißlich-sandfarbene Wand stammte, die ich den ganzen | |
Vormittag über am Horizont der Avenue zwischen den Häuserschluchten gesehen | |
hatte. Es war die Staubwolke vom Zusammenbruch der Türme. | |
Ich erinnere mich an die Fassungslosigkeit in den Gesichtern. An eine junge | |
Frau auf einem Barhocker, die hemmungslos weinte. An den Barkeeper, der mir | |
eine Cola ausgab. Und an das abgründige Gefühl, dass nur ein paar Kilometer | |
von hier gerade Tausende Menschen gestorben sein mussten. | |
[1][2.753 Menschen kamen an diesem Tag in New York durch den Anschlag ums | |
Leben]. Nur 18 wurden in den folgenden Tagen noch lebend geborgen. | |
Die Fotos, die ich damals von den Missing-Person-Postern gemacht habe, | |
liegen heute mit anderen Bildern, Briefen und alten Musikkassetten in einer | |
Holzkiste in meinem Wohnzimmer. Immer wieder mal habe ich sie seitdem | |
hervorgeholt – die Gesichter auf den Zetteln schienen mir mehr über die | |
Anschläge des 11. September zu erzählen als die immer gleichen | |
Fernsehbilder, die an jedem Jahrestag gezeigt wurden. | |
Wenn ich in diese Gesichter blickte, fragte ich mich, wer die Menschen | |
gewesen waren, aber auch, wie das Leben derjenigen weitergegangen war, die | |
damals ihre Telefonnummern auf die Zettel geschrieben hatten, wie sie mit | |
dem Verlust und 9/11 zu leben gelernt hatten. Für diesen Text habe ich | |
versucht, mit einigen von ihnen zu sprechen. | |
Auf vielen Missing-Person-Postern stehen nur Telefonnummern, manchmal die | |
Vornamen der Angehörigen, selten die vollen Namen. Ich suche zu den Zetteln | |
die Nachrufe der New York Times heraus. Jedem 9/11-Toten wurde in der | |
Zeitung [2][in kurzen Texten gedacht], in denen man Namen von Angehörigen | |
findet. Außerdem gibt es im Netz Nachrufseiten wie [3][legacy.com], auch | |
dort finden sich Namen möglicher Gesprächspartner. | |
Die meisten Anfragen führen ins Leere. Die Telefonnummern, die sich online | |
zu den Namen recherchieren lassen, sind alle veraltet. Angehörige, die ich | |
über soziale Netzwerke oder per E-Mail anschreibe, melden sich nicht zurück | |
oder antworten knapp, sie hätten keine Zeit. | |
## Giovanna „Gennie“ Gambale, 27 Jahre alt | |
Dann antwortet mir die Schwester von Giovanna Gambale. Sie würde gern mit | |
mir sprechen, sie möchte, dass man sich an ihre Schwester erinnert. | |
Das Missing-Person-Poster von Giovanna „Gennie“ Gambale ist eines der | |
bekanntesten. Eine junge Frau, 27 Jahre alt, mit einem breiten Lächeln und | |
leuchtend rotem Lippenstift vor schwarzem Hintergrund. Bei den | |
Informationen, wo sie sich zuletzt aufgehalten hatte, hat jemand per Hand | |
Korrekturen eingetragen: Der 102. Stock und der Südturm sind | |
durchgestrichen, es war der 105. Stock des Nordturms. Im Netz gibt es | |
[4][Blogtexte] und Kommentare, in denen Menschen Jahre später schreiben, | |
dass sie sich an das Bild erinnern, wenn sie an den September 2001 denken. | |
„Manchmal passiert es heute noch, dass ich für den Bruchteil einer Sekunde | |
denke, ich muss unbedingt Gennie anrufen und ihr etwas erzählen“, sagt | |
Antonia Gambale Landgraf in unserem Videogespräch. „Aber diese Momente | |
werden immer seltener.“ | |
Gambale Landgraf lebt heute mit ihrem Mann und ihren drei Söhnen in | |
Westport, Connecticut, einer Kleinstadt an der Atlantikküste. Gennie | |
Gambale war ihre zwei Jahre ältere Schwester. Sie habe sich immer um sie | |
und ihren jüngeren Bruder gekümmert. „Sie war ein bisschen bossy, aber auf | |
eine nette Art, so wie eine Glucke.“ Zusammen sind sie in Carroll Gardens | |
aufgewachsen, einem von italienischen Einwanderern geprägten Viertel | |
Brooklyns. Die Twin Towers auf der anderen Seite des Flusses waren ein | |
vertrauter Anblick. | |
Am 11. September 2001 arbeitet Antonia Gambale für die Deutsche Bank im | |
World Trade Center 4, einem neunstöckigen Gebäude neben den beiden Türmen. | |
Sie ist gerade im Büro angekommen, als sie einen Knall hört. Die Lampen | |
flackern, kleinere Trümmerteile fallen am Fenster vorbei. Ihre Kollegen und | |
sie entscheiden, das Büro sofort zu verlassen. Unten vor dem Haus sieht sie | |
das Loch im Nordturm. Sie nimmt an, dass es ein Unfall war, dass eine der | |
kleinen Cessnas, in denen Touristen gern Manhattan umkreisen, in den Turm | |
gekracht ist. | |
Sie läuft mit ihren Kollegen von dem brennenden Turm weg. Auf dem Weg fällt | |
ihr ein: Meine Schwester ist da oben. Giovanna Gambale arbeitet für Cantor | |
Fitzgerald, eine Finanzfirma, die fünf Stockwerke an der Spitze des | |
Nordturms gemietet hat. Weil das Mobilfunknetz zusammengebrochen ist, ruft | |
Antonia Gambale ihren Vater aus einer Pizzeria an. Es gibt keine Nachricht | |
von Gennie. | |
Ein Kollege setzt Antonia Gambale in ein Taxi, das sie nach Hause bringen | |
soll. Als es über die Brooklyn Bridge fährt, hört sie die Menschen, die | |
über die Brücke laufen, aufschreien. Im Taxi läuft Radio, der Moderator | |
sagt, der Südturm sei gerade zusammengestürzt. „Ich konnte mich nicht | |
umdrehen, ich wollte das nicht sehen“, erzählt Gambale Landgraf. | |
## In den Tagen danach kursierten viele Gerüchte | |
Die Missing-Person-Poster hätten sie noch am selben Abend gemacht. So etwa | |
1.000 Stück. „Es war keine reine Realitätsverweigerung. Wir dachten, es | |
gäbe eine kleine Chance.“ In den Tagen danach kursierten viele Gerüchte, | |
die Angehörige hoffen ließen. Schwerverbrannte seien nach New Jersey | |
verlegt oder in eine Spezialklinik nach Kanada ausgeflogen worden. Eine | |
Cousine Gambales war in einem Krankenhaus in der Nähe der eingestürzten | |
Türme gewesen. Gennie sei schwer verbrannt eingeliefert worden, sagte ihr | |
dort jemand. Als nach Stunden die Listen der Aufgenommenen kamen, war ihr | |
Name nicht darauf. | |
In Wirklichkeit waren die Krankenhäuser in New York nicht voll ausgelastet. | |
Es gab nur wenige Schwerverletzte. Wer den Türmen rechtzeitig entkommen | |
war, blieb körperlich oft unversehrt. | |
Etwa zwei Tage habe die Familie noch gehofft, erzählt Antonia Gambale | |
Landgraf, sich an Gedanken geklammert wie jenen, dass Gennie gerade einen | |
Aufzug nach unten genommen haben könnte, um eine Pause auf einer | |
niedrigeren Etage zu machen. Dann erklärte ein Psychiater ihrem Vater, | |
dass definitiv niemand in den Büroräumen von Cantor Fitzgerald überlebt | |
hatte. | |
Auch wenn die Vermisstenplakate nicht die Informationen brachten, die sie | |
sich erhofft hätten, hätten sie doch etwas Gutes gehabt, sagt Antonia | |
Gambale Landgraf. Fremde Menschen riefen an und sagten, wie sehr sie Anteil | |
nehmen würden, dass sie für ihre Familie beten würden. „Wir sind keine | |
Familie, die sich zurückzieht. Bei uns war die Tür immer offen. Viele | |
Freunde und Bekannte kamen vorbei, dazu die Anrufe – das alles fühlte sich | |
nicht aufdringlich an, sondern unterstützend.“ | |
Von ihrer Kirchengemeinde wurde am zweiten Abend nach dem Anschlag eine | |
Andacht vor dem Haus der Gambales abgehalten. Antonia Gambale rechnete mit | |
ein paar alten Frauen, die einen Rosenkranz beten. Als sie vor die Tür | |
trat, hatten sich in der Straße 300 Menschen versammelt. Während sie im | |
Videogespräch davon erzählt, wischt sie sich ein paarmal die Augenwinkel | |
trocken. | |
Etwa zwei Wochen nach den Anschlägen fand eine Polizistin im Schutt des | |
World Trade Centers Gennie Gambales rotes Lederportemonnaie. Es hatte | |
Rußspuren, an einer Ecke war es angebrannt. „Es hatte diesen starken | |
Brandgeruch von Ground Zero. Als es im Erdgeschoss lag, roch unser ganzes | |
Haus danach“, sagt Gambale Landgraf. Ihr Vater gab die Geldscheine darin | |
einem Obdachlosen. Später spendeten sie das Portemonnaie mit | |
Einkaufsgutscheinen, Gennies Visitenkarte und ihrem Bibliotheksausweis dem | |
9/11-Museum, das heute Teil der Gedenkstätte am Ground Zero ist. | |
Die Toten des 11. September werden in der amerikanischen Öffentlichkeit mit | |
ihrem überschießenden Pathos oft als Helden bezeichnet, alle, nicht nur die | |
Feuerwehrleute. Sie wären für die Freiheit gestorben, heißt es dann. „Damit | |
kann ich nichts anfangen“, sagt Gambale Landgraf. „Meine Schwester ging an | |
dem Morgen zur Arbeit wie jeder andere auch. Dann wurde sie ermordet.“ | |
Im Mai 2002, Antonia Gambale war gerade allein im Haus der Familie, | |
klopften zwei Polizisten. Die Überreste von Giovanna Gambale waren | |
eindeutig identifiziert worden. „Es hat mich umgehauen, obwohl es natürlich | |
keine Überraschung mehr war.“ Ende September hatten 3.000 Menschen eine | |
Gedenkveranstaltung für Gennie besucht, jetzt entschied sich die Familie | |
für eine sehr kleine Beerdigung. Sie hätten das gebraucht, um in Ruhe | |
abschließen zu können, sagt Gambale Landgraf. | |
Die Anschläge setzten eine Kette von Ereignissen in Gang, die Kriege in | |
Afghanistan und dem Irak, die Tötung Osama bin Ladens, auch der Fall von | |
Kabul im August dieses Jahres gehört in die Reihe. „Es ist schwierig, das | |
getrennt voneinander zu sehen“, sagt Gambale Landgraf. Die Jagd auf Bin | |
Laden sei gerechtfertigt gewesen, auch bei Afghanistan habe sie am Anfang | |
gedacht, dass es richtig sei, den Terror dort zu bekämpfen, nur habe es | |
sich zu einer unkontrollierbaren Lawine entwickelt. „Ich will nicht, dass | |
ein Mord zu einem anderen führt, dass meine Schwester benutzt wird, um | |
zivile Tote in anderen Ländern zu rechtfertigen.“ | |
Die Familie geht nicht zu den öffentlichen Gedenkveranstaltungen, bei denen | |
jedes Jahr die Listen der Opfer verlesen werden. Sie würden im Stillen | |
gedenken. „Der Schmerz wird mit den Jahren nicht schwächer“, sagt Antonia | |
Gambale Landgraf. „Aber man lernt, mit ihm zu leben.“ | |
Wenn man die Fotos der plakatierten Wände genauer anschaut, merkt man, wie | |
unterschiedlich die Zettel sind. Manche sind mit Hand geschrieben, teils | |
nur schwer zu entziffern. Farbausdrucke und rote Überschriften bekommen | |
mehr Aufmerksamkeit als krisselige Schwarzweißbilder. | |
Und genauso ist es 20 Jahre danach leichter, Kontakte zu Angehörigen zu | |
bekommen, die schon einmal mit Medien gesprochen haben. Meist sind es | |
Angehörige von Menschen, die gut bezahlte Jobs in den Türmen hatten. Die | |
Spuren der Sandwichverkäufer und Fensterputzer in den oberen Etagen | |
verlieren sich schnell, für sie finden sich im Netz keine eigenen | |
Erinnerungsseiten. | |
## Adam Arias, 37 Jahre alt | |
Bei der Suche nach den Menschen hinter den Vermisstenpostern lerne ich auch | |
Valerie Lucznikowska kennen. Sie hat ihren Neffen Adam Arias im Südturm | |
verloren – für das Poster, mit dem sie damals nach ihm suchte, hat sie in | |
den Jahren danach eine neue Funktion gefunden: Sie hat ein politisches | |
Plakat daraus gemacht. | |
Den Kontakt zu ihr bekomme ich über die Organisation „September Eleventh | |
Families for Peaceful Tomorrows“. In ihr haben sich Angehörige von Opfern | |
zusammengeschlossen, die ab Februar 2002 gegen den Kriegskurs der | |
US-Regierung protestierten. | |
Adam Arias sei ihr Lieblingsneffe gewesen, erzählt Valerie Lucznikowska zu | |
Beginn unseres Videogesprächs, sie selbst habe keine Kinder. Sie ist 82 | |
Jahre alt und lebt seit ein paar Jahren in dem Städtchen Warwick, 90 | |
Kilometer von New York entfernt. Eigentlich sei sie aber eine „in der Wolle | |
gefärbte New Yorkerin“. | |
Lucznikowska kommt aus einer polnischen Familie, ist in armen Verhältnissen | |
auf der Lower East Side aufgewachsen. Als Erste in ihrer Familie ging sie | |
aufs College, lebte im Ausland, studierte eine Zeitlang in London. Der | |
Aufstieg habe sie mit ihrem Neffen verbunden. Er hatte sich nur mit einem | |
Highschool-Abschluss zur Position des Vizepräsidenten einer Brokerfirma | |
hochgearbeitet. „Adam sollte gerade für seine Firma eine Zeit lang nach | |
London gehen. Ich wollte mitfliegen und ihm ein paar Tage die Stadt | |
zeigen“, erzählt Lucznikowska. | |
Politisch hätten sie sehr verschiedene Ansichten gehabt, aber das sei | |
zwischen ihnen kein Problem gewesen. Ihr Neffe war ein Anhänger von Ayn | |
Rand, einer Vordenkerin des Libertarismus, die einen völlig ungezähmten | |
Kapitalismus forderte. Sie sei dagegen eine Bernie-Sanders-Demokratin, sagt | |
Lucznikowska. „Manche nennen mich eine Sozialistin. Vor dem Wort habe ich | |
aber keine Angst.“ | |
Am 11. September 2001 ist sie die Einzige ihrer Familie, die in Manhattan | |
lebt. Adam Arias wohnt mit seiner Frau auf der Nachbarinsel Staten Island, | |
pendelt jeden Tag mit der Fähre, arbeitet im 84. Stock des Südturms. Weil | |
nach dem Anschlag das Telefonnetz zusammengebrochen ist und keine regulären | |
Fähren mehr fahren, erwartet Lucznikowska, dass er zu ihrem Apartment | |
kommt, das vier Kilometer von den Twin Towers entfernt liegt. Es wird | |
Nachmittag, sie wird immer unruhiger. Schließlich geht sie zu einer | |
Vermisstenstelle, um ihn zu melden. | |
Zwei Brüder von Adam Arias kommen abends in die Stadt. Zu dritt machen sie | |
Plakate mit einem Bild von Adam, auf dem er lächelt, Blitzlicht spiegelt | |
sich in seinen Brillengläsern. Sie schreiben ihre Telefonnummern darauf, | |
hängen die Zettel in Downtown auf, in Parks und U-Bahn-Stationen, auch vor | |
einem Schwesternwohnheim, weil sie hoffen, eine Krankenschwester könnte | |
einen Komapatienten in ihm wiedererkennen. „Aber es hat niemand angerufen“, | |
sagt Lucznikowska. | |
Sie erinnert sich noch an den Moment, in dem sie begriff, dass es keine | |
Hoffnung mehr gab. Am Tag nach den Anschlägen hatten sie wieder und wieder | |
die Vermisstenbüros, Polizeistationen und Krankenhäuser abgeklappert, nach | |
Adam gefragt, seine Fallnummer genannt. Adams Brüder hatten sich abends | |
schon auf der Couch im Wohnzimmer hingelegt, Lucznikowska wollte noch | |
einmal zum Vermisstenbüro. | |
Nur noch wenige Leute warteten dort spät abends auf neue Nachrichten. | |
„Schließlich kam jemand mit einer neuen Liste rein, ich schoss auf ihn zu, | |
aber auf der Liste standen …“, sie macht im Gespräch eine kurze Pause, „… | |
standen nur einzelne Körperteile“. In dem Moment sei ihr klar geworden, | |
dass ihr Neffe tot sei. Er wurde 37 Jahre alt. | |
Adam Arias' Leichnam zählte zu den ersten, die man fand, er wurde noch am | |
11. September geborgen. Es dauerte aber acht Tage, bis man ihn | |
identifiziert hatte und die Familie informierte. Die Wochen danach erinnert | |
Lucznikowska nur als Nebel. „Mit dem Kriegsbeginn in Afghanistan habe ich | |
mich damals nicht beschäftigt, dazu war ich psychisch nicht in der Lage. | |
Ich wusste aber auch überhaupt nichts über das Land.“ Erst mit einigen | |
Monaten Abstand habe sie begonnen, viel dazu zu lesen, ihr politisches | |
Interesse sei dadurch erwacht. | |
2002 laufen die Vorbereitungen für den Irakkrieg. Obwohl es keine | |
Verbindung zu al-Qaida gibt, wollen auch viele Demokraten im Senat einer | |
Kriegsvollmacht für Präsident Georg W. Bush zustimmen. „Das Mantra war | |
damals: Wir ziehen im Namen derjenigen in den Krieg, die wir an 9/11 | |
verloren haben“, erzählt Lucznikowska. „Und ich habe gesagt: Nicht in | |
seinem Namen.“ Sie hat das Vermisstenplakat ihres Neffen noch in ihrem | |
Computer gespeichert. Sie vergrößert es, zieht es auf eine feste Pappe auf | |
und demonstriert mit anderen Angehörigen vor dem Büro des demokratischen | |
New Yorker Senators Chuck Schumer. | |
## Sie hat oft das Plakat mit dem Foto dabei | |
Viel Aufmerksamkeit bekommt die kleine Demonstration nicht und Schumer | |
stimmt der Kriegsvollmacht im Oktober 2002 zu. Lucznikowska trifft bei dem | |
Protest aber eine Frau, die sie auf die Initiative „September Eleventh | |
Families for Peaceful Tomorrows“ aufmerksam macht. Sie tritt ihr bei, wird | |
eine der Sprecherinnen und geht in den folgenden Jahren zu unzähligen | |
Antikriegsveranstaltungen, oft hat sie das Plakat mit dem Foto von Adam | |
Arias mit dabei. | |
„Für mich war es eine unglaubliche Erleichterung, Menschen kennenzulernen, | |
die genau wie ich Rache ablehnten“, erzählt sie. Der Widerstand gegen die | |
Kriege nach 9/11 gibt ihr eine Aufgabe. Und er hilft ihr auch mit dem | |
Schmerz umzugehen. „Jeder Psychiater bestätigt das: Aktiv zu werden hilft | |
ungemein beim Überwinden eines Verlusts.“ | |
Als eine Repräsentantin der 9/11-Familien wird sie 2008 vom Pentagon zu | |
einem Gespräch eingeladen, in dem Pläne für Guantanamo vorgestellt werden. | |
In dem Gefangenenlager inhaftieren die USA seit 2002 Terrorverdächtige, die | |
sie als „ungesetzliche Kombattanten“ bezeichnen. Lucznikowska wird zu einer | |
der härtesten Kritikerinnen des Lagers, besucht Anhörungen dort, prangert | |
Foltermethoden an und wirbt bis heute für die sofortige Schließung: | |
„Guantanamo offenzuhalten, würde bedeuten, dass wir nie Gerechtigkeit | |
bekommen“, weil dort nach Militärregeln prozessiert werde, nicht nach denen | |
einer unabhängigen Justiz, [5][schreibt sie im Juni 2021] in der linken | |
Wochenzeitung The Nation. | |
Sie spricht 2011 aber auch auf einer Konferenz, auf der eine neue | |
Untersuchung zu World Trade Center 7 (WTC 7) gefordert wird. Das 186 Meter | |
hohe Nebengebäude wurde von herabfallenden Trümmern des Nordturms | |
getroffen, danach brannten stundenlang unkontrolliert mehrere Feuer, was | |
abends zu seinem Einsturz führte. WTC 7 ist ein Einfallstor für eine | |
Vielzahl von Verschwörungstheorien, die davon ausgehen, dass die | |
US-Regierung selbst hinter den Anschlägen stehe. Als Beleg dafür gilt unter | |
anderem, dass die CIA eine Etage im WTC 7 gemietet hatte. | |
In ihrem Vortrag macht Lucznikowska keine Andeutungen, sie betont nur, dass | |
Menschen nicht dafür niedergemacht werden sollten, Dinge zu hinterfragen. | |
Sie stehe auch heute noch zu ihrem Vortrag, sagt sie auf Nachfrage. Man | |
sollte nicht sofort alles, was die offizielle Darstellung infrage stelle, | |
als Verschwörungstheorie abtun. | |
Die Familie ihres Neffen lehnt ihr politisches Engagement und ihre | |
Antikriegshaltung ab. Sie stünden weit rechts, hätten ihre Ansichten aber | |
früher immer toleriert, sagt Lucznikowska. Nach Beginn des Irakkriegs | |
ändert sich das, der Kontakt wird immer schwieriger. Ihre Schwester, die | |
Mutter von Adam, die 2015 stirbt, habe jahrelang nicht mehr mit ihr | |
gesprochen. | |
Und so führt diese Recherche auch mitten hinein in die politischen | |
Konflikte und die Polarisierung, die die USA heute so prägen. Ein Bruder | |
von Adam Arias heißt Don. Er gehört nicht zu jenen Brüdern, die in | |
Manhattan mit Lucznikowska damals nach dem Vermissten suchten. | |
Don Arias lebt in Florida, er ist 64 Jahre alt, war lange Offizier in der | |
Air Force und dort für Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Im Netz finden sich | |
Ausschnitte aus Interviews, in denen er bei dem rechten Fernsehsender Fox | |
News als 9/11-Angehöriger auftritt und früher Barack Obama, heute Joe Biden | |
heftig kritisiert. | |
In unserem Videogespräch erzählt er von dem letzten Telefonat mit seinem | |
Bruder am 11. September 2001. In seinem Büro auf einem Luftwaffenstützpunkt | |
in Florida sieht er im Fernsehen den brennenden Nordturm. Er ruft seinen | |
Bruder in der 84. Etage des Südturms an. „‚Du glaubst nicht, was ich hier | |
sehe. Leute springen da drüben aus dem Fenster‘, sagte Adam zu mir. Ich | |
sagte: ‚Geh nach Hause.‘ Ich weiß nicht, ob er das noch hörte. Es war sehr | |
laut im Hintergrund.“ | |
Wenige Minuten später fliegt die zweite Maschine in den Südturm. 18 | |
Menschen schaffen es von oberhalb der Einschlagstelle zu entkommen. Auch | |
aus dem Büro von Eurobrokers überleben einige. Was genau mit Adam Arias | |
passierte, ist nicht klar. Sein Bruder sagt, Adam sei noch unten am Ausgang | |
des Turms gesehen worden, wollte dann anderen helfen und sei | |
zurückgelaufen. Auf Nachfrage räumt Don Arias aber ein, dass er sich da | |
nicht ganz sicher sei, dass er das nur aus zweiter Hand habe. | |
Im Gespräch ist er differenzierter als in den Fox-News-Interviews. Als | |
Soldat wolle man für eine Militäraktion einen Anfang und ein Ende, das sei | |
das Problem mit den Kriegen in Afghanistan und Irak gewesen. „Und aus | |
heutiger Sicht muss man sagen, der Irak war ein monumentaler Fehler. Aber | |
damals dachten wir wirklich, sie hätten Massenvernichtungswaffen.“ | |
Afghanistan sei anders, der Abzug katastrophal verlaufen, viel zu | |
überhastet. „Ich habe das Gefühl, dass wir irgendwann wieder dahin | |
zurückkehren werden müssen“, sagt Arias. | |
Wenn es um Guantanamo und die Menschenrechtsverletzungen der USA geht, | |
sieht er das Land weiter im Krieg – und in dem müsse man den „Gesetzen des | |
Krieges“ folgen und Dinge tun, die in Friedenszeiten nicht nötig seien. Es | |
ist eine wortreiche Umschreibung für: Folter ist in manchen Fällen doch | |
okay. | |
20 Jahre nach den Anschlägen befinden sich [6][noch 39 Gefangene in | |
Guantanamo]. Er könne nicht verstehen, dass die Militärtribunalprozesse | |
nicht vorankommen, sagt Don Arias. „Das liegt auch an linken Gruppen, NGOs | |
und Leuten, die nicht an Gerechtigkeit interessiert sind. Die verzögern das | |
immer weiter.“ | |
Das ist der Moment, in dem das Gespräch unweigerlich auf seine Tante | |
Valerie Lucznikowska kommt. Sie sei schon immer komisch gewesen, habe im | |
Kalten Krieg zu den Russen gehalten, das habe die Familie damals noch | |
toleriert. Heute aber würde sie seinen toten Bruder für ihre politischen | |
Ziele benutzen, das sei für ihn sehr schmerzhaft. | |
Valerie Lucznikowska sagt, Don Arias würde nur Lügen über sie verbreiten. | |
Der wiederum sagt, wenn seine Tante selbst Kinder großgezogen hätte, nicht | |
nur Katzen, hätte sie auch einen realistischeren Blick auf die Welt. Es ist | |
eine Familienfehde, in der es darum geht, wer das Andenken an Adam Arias | |
vertreten darf. Ihn selbst kann niemand mehr fragen. | |
Im Oktober 2001 [7][erschien im Magazin der New York Times ein Essay] über | |
die Bedeutung der Missing-Person-Poster für die Trauerbewältigung in der | |
Stadt. Jeder New Yorker kenne durch sie mindestens ein Opfer, schrieb der | |
Autor. Aus der Vielzahl der Gesichter hätten sich die meisten eines | |
herausgepickt, das ihnen nun so vertraut sei wie jemand aus der | |
Nachbarschaft, den man seit Jahren ab und zu auf der Straße treffe. Das | |
mache das Ganze fassbarer, es helfe beim Verarbeiten. | |
Im multikulturellen New York hätte ein gemeinsames Trauerritual auch erst | |
geschaffen werden müssen – eben durch die Plakate der Vermissten, denen man | |
in den Wochen danach langsam beim Verwittern zuschauen konnte. Sie seien | |
genauso vergänglich wie die Blumenkränze auf einem Grab. | |
Anfang Oktober bin ich damals zurück nach Deutschland geflogen. Ich | |
erinnere mich, wie erleichternd es sich anfühlte, den schwelenden | |
Schutthaufen und den ständigen Brandgeruch in Manhattan hinter sich zu | |
lassen. Die Toten von 9/11 traten in meinem Leben wieder in den | |
Hintergrund. Die Menschen, die damals ihre Telefonnummern auf diese Zettel | |
schrieben, hatten diese Möglichkeit nicht. | |
11 Sep 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://nymag.com/news/articles/wtc/1year/numbers.htm | |
[2] https://archive.nytimes.com/www.nytimes.com/interactive/us/sept-11-reckonin… | |
[3] https://www.legacy.com/ | |
[4] http://purplefishguts.blogspot.com/2006/09/tribute-to-giovanna-gennie-gamba… | |
[5] https://www.thenation.com/article/world/close-guantanamo-bay-2/ | |
[6] /Freilassung-aus-Guantanamo/!5787892 | |
[7] https://www.nytimes.com/2001/10/07/magazine/missing.html | |
## AUTOREN | |
Jan Pfaff | |
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