# taz.de -- Umgang der USA mit Terrorverdächtigen: Genese eines Rechtsbruchs | |
> Nach 9/11 ließ die US-Regierung geheime Gutachten erstellen. Sie sollten | |
> die willkürliche Inhaftierung von Terrorverdächtigen rechtfertigen. | |
Bild: Das US-Gefangenenlager Guantánamo Bay existiert seit 2002. Noch immer si… | |
Vizepräsident Richard Cheney ließ sich in den Wochen nach den Anschlägen | |
vom 11. September 2001 nie von seiner Residenz am Naval Observatory im | |
Nordwesten Washingtons, D. C., ins Weiße Haus fahren, ohne dass eine | |
Reisetasche mit einer Gasmaske und einem Schutzanzug gegen chemische | |
Angriffe hinter ihm im Wagen lag. Eine existenzielle Angst hatte den | |
engsten Stab von Präsident George W. Bush erfasst. Jederzeit wurde mit | |
[1][neuen Terrorangriffen von al-Qaida] in den USA oder mit weiteren | |
Briefen mit dem Nervengift Anthrax gerechnet, wie sie bei mehreren | |
Kongressbüros eingegangen waren. | |
Cheney war die treibende Kraft hinter den Bemühungen, die drohenden | |
Gefahren für die USA um jeden Preis abzuwehren. Doch in seinen Augen waren | |
seinem Land die Hände gebunden, um wahrlich wehrhaft reagieren zu können. | |
Zu viele Bürgerrechte, Gesetze, Bestimmungen des Kongresses und des | |
internationalen Rechts banden dem Präsidenten die Hände. Manche, wie der | |
Grundsatz des Habeas Corpus, der unbegründete Inhaftierungen verbietet, | |
gehen bis ins 17. Jahrhundert zurück. Andere, wie die Genfer Konventionen | |
von 1949, kamen unter maßgeblicher Mitwirkung der USA zustande. | |
Aber dieser Feind war in Cheneys Denken anders als die Widersacher, die man | |
aus dem Kalten Krieg kannte und erfolgreich totgerüstet hatte. Hier ging es | |
um einen asymmetrischen Krieg, und man brauchte andere Mittel. Um sie | |
einsetzen zu können, wollte Cheney juristische Rechtfertigungen für eine | |
andere Kriegsführung, und als Erstes holte er die Juristen in den Dienst | |
der Regierung, die sie ihm liefern würden. Er agierte dabei im Einklang mit | |
Präsident Bush, der die Auseinandersetzung mit al-Qaida immer wieder mit | |
Wildwestterminologie beschrieb. „Was immer nötig ist“, hatte er als Parole | |
des Kampfs gegen den islamistischen Terror ausgegeben. | |
Hier kommen Cheneys Rechtsberater David Addington und der Jurist John Yoo | |
ins Spiel. Der ehrgeizige Yoo arbeitete im Office of Legal Counsel (OLC) | |
des Justizministeriums, das für die Prüfung der Legalität von | |
Regierungsmaßnahmen zuständig war. In Yoos Augen gebe es in einem Konflikt | |
Regeln, wie Staaten miteinander umgehen, aber andere Regeln für Leute „die | |
es vorziehen, wie Piraten zu kämpfen, also außerhalb staatlicher | |
Kontrolle“. | |
## Bruch der US-Verfassungsgrundsätze | |
Das OLC verfasste für das Weiße Haus mehrere Gutachten, die drei Jahre lang | |
völlig geheim blieben, die aber dem Präsidenten die Rechtfertigung | |
lieferten, internationales Recht, die Genfer Konventionen und | |
US-Verfassungsgrundsätze zu brechen. Sie verletzten auch die vom Supreme | |
Court etablierten Grundsätze, wann die Macht des Präsidenten der USA an | |
Grenzen stößt. Wie die bekannte US-Journalistin Jane Mayer in ihrem Buch | |
„The Dark Side“ schrieb, „konnten in den Augen von Bushs Anwälten nun al… | |
Gesetze, die etwa Folter, geheime Gefängnisse und anlasslose Überwachung | |
verbieten, außer Kraft gesetzt werden“. Der Krieg gegen den Terror sei | |
somit zu „einem Krieg gegen die Ideale der USA“ geworden. | |
Die neue Rechtsauslegung öffnete die Tür für die willkürliche Festnahme und | |
Inhaftierung von Terrorverdächtigen, indem sie deren Rechtlosigkeit als | |
„illegale feindliche Kombattanten“ institutionalisierte. Ihnen wurden weder | |
die Rechte ziviler Angeklagter noch die von Kriegsgefangenen gewährt, | |
sondern es entstand eine dritte Kategorie von Häftlingen im juristischen | |
Niemandsland. | |
Der Bush-Regierung stand auch ein geografisches Niemandsland zur Verfügung | |
– ihre Militärbasis am östlichen Ende von Kuba, in Guantánamo Bay. Den | |
Stützpunkt hatten die USA 1903 Kuba nach dem Spanisch-Amerikanischen Krieg | |
als Preis für die Unabhängigkeit abgetrotzt. Die Juristen des OLC hatten | |
gegenüber Bush und Cheney verkündet, die Basis liege außerhalb des | |
Geltungsbereichs der US-Gesetze. Am 11. Januar 2002 wurden die ersten 20 | |
Häftlinge dort hingebracht. Ende Februar waren es schon 200. Ihre Namen | |
waren geheim, Anwält:innen hatten keinen Zutritt. | |
Der Aufbau des Gefangenenlagers oblag einer Taskforce des Militärs, die | |
sich dabei zunächst an die für Kriegsgefangene geltenden Regeln hielt. Die | |
Verhöre durch FBI-Beamte und die Behandlung der ersten Häftlinge waren | |
deshalb vergleichsweise human. Das änderte sich rasch, denn | |
Verteidigungsminister Donald Rumsfeld war nur daran interessiert, was diese | |
über weitere Anschlagspläne von al-Qaida preisgeben würden, und entsandte | |
militärisches Verhörpersonal nach Guantánamo. | |
Schon bald übernahm die CIA die Kontrolle über die Gefangenen und ihre | |
Behandlung. Im April 2002 wurde Camp Delta eröffnet, mit insgesamt 779 | |
Gefangenen – ausschließlich Männer, etwa 20 waren unter 18 Jahre alt. Sie | |
stammten aus mehr als 50 Ländern – vor allem aus Afghanistan, | |
Saudi-Arabien, Jemen und Pakistan. Ein Bericht der Seton Hall Law School in | |
New Jersey über die 517 Männer, die 2005 noch in Guantánamo einsaßen, kam | |
zu dem Schluss, dass „mehr als 80 Prozent von ihnen nicht von Amerikanern | |
im Kriegsgebiet gefasst wurden, sondern von Pakistanern und Afghanen, die | |
sich die vom US-Militär ausgesetzte Belohnung von 5.000 Dollar sichern | |
wollten“. | |
## Erniedrigende Handlungen | |
Ende 2004 veröffentlichte die New York Times Auszüge aus einem | |
vertraulichen Bericht des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, das | |
Guantánamo einige Monate zuvor inspiziert hatte. Die Gefangenen würden | |
„erniedrigenden Handlungen, Isolationshaft, extremen Temperaturen und | |
erzwungenen Körperhaltungen“ ausgesetzt, die Folter gleichkämen. | |
Die berüchtigtste Praxis war das sogenannte Waterboarding, bei dem | |
Ertrinken simuliert wird. Ein Jahr zuvor hatte das Rote Kreuz öffentlich | |
gerügt, es sei inakzeptabel, wenn Häftlinge wie in Guantánamo unbegrenzt | |
lange und ohne Informationen über ihr weiteres Schicksal festgehalten | |
würden. Dies führe zu psychischen Problemen. Wie groß die Verzweiflung | |
vieler Insassen war, zeigte sich an Dutzenden Selbstmordversuchen und | |
mehreren Hungerstreiks. Sechs Insassen nahmen sich bis 2011 das Leben. | |
Neben Guantánamo existierte ein Netz von geheimen US-Gefängnissen, das von | |
Thailand über Afghanistan und Irak bis nach Europa reichte. Es blieb lange | |
im Verborgenen. Im November 2005 berichtete die Washington Post erstmals | |
von CIA-Geheimgefängnissen. Sie lagen auch in Litauen, Rumänien und in | |
Polen. Mit kleinen Business-Jets wurden die Häftlinge nachts über | |
Provinzflughäfen rund um die Welt verschoben, darunter auch Khaled Sheikh | |
Mohammed, der mutmaßliche Chefplaner der Attentate vom 11. September. Er | |
soll in Polen 183-mal dem Waterboarding unterzogen worden sein. | |
Wenige Wochen später fand der Spiegel heraus, dass die CIA bis zu 437-mal | |
geheime Gefangene auch via Deutschland verlegt hat. Die USA wiesen alle | |
Vorwürfe von sich, und auch europäische Stellen hatten große | |
Schwierigkeiten, an Informationen über die sogenannten Black Sites zu | |
kommen. Fast schon mitleidig klingt die Botschaft eines US-Diplomaten vom | |
Januar 2006, die von Wikileaks veröffentlicht wurde: „Das Thema der | |
CIA-Gefängnisse wird die polnische Regierung verfolgen, trotz der | |
Bemühungen unserer Seite und der Polen, das Thema ad acta zu legen.“ | |
2007 legte der Schweizer Jurist Dick Marty als Ermittler des Europarats | |
einen Bericht über CIA-Geheimgefängnisse und CIA-Verschleppungen in Europa | |
vor. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verurteilte 2015 Polen, | |
2018 dann auch Rumänien und Litauen, an vier Häftlinge in Black Sites der | |
CIA jeweils 100.000 beziehungsweise 130.000 Euro Entschädigung zu zahlen. | |
## Rücknahme ungesetzlicher Praktiken | |
Menschenrechtsorganisationen, Medien und Anwält:innen erstritten vor | |
Gericht, dass nach und nach die ungesetzlichen Praktiken, mit denen die | |
Bush-Regierung die Terrorverdächtigen in die Rechtlosigkeit gestoßen hatte, | |
zurückgenommen werden mussten. 2006 musste Präsident Bush zugeben, dass die | |
USA Geheimgefängnisse betreiben, und er musste die Direktive aufheben, die | |
den brutalen Umgang mit den Verdächtigen legitimiert hatte. Aber er | |
beharrte darauf, dass die CIA, anders als das Militär, nicht an die Genfer | |
Konvention gebunden sei. | |
Weiter unklar war damals, ob und wie den Verdächtigen in Guantánamo der | |
Prozess gemacht werden konnte. Die US-Regierung bestand auf | |
Sonderregelungen für alle „ungesetzlichen Kombattanten“ und ließ sich das | |
im September 2006 vom Kongress absegnen. Das Gesetz wurde von | |
[2][Menschenrechtsorganisationen und in der liberalen Presse scharf | |
kritisiert]. Am Ende kam es nur zu einer Handvoll Verfahren vor den | |
sogenannten Militärkommissionen. Ende August soll [3][in Guantánamo] zum | |
ersten Mal seit mehreren Jahren eine Verhandlung gegen drei Lagerinsassen | |
beginnen, darunter den Indonesier Hambali. Auch Hambali sei in der Haft | |
gefoltert worden, sagt sein Anwalt, der Prozess gegen ihn sei „absurd“. | |
Bis zum Ende von Bushs Amtszeit wurden etwa 500 Gefangene aus Guantánamo | |
zumeist an ihre Heimatländer überstellt. Die Vorwürfe gegen die meisten | |
hatten sich als haltlos erwiesen. Vor allem hätte Bush sich eingestehen | |
müssen, dass [4][Folter und andere Praktiken des Militärs und der CIA] im | |
„Krieg gegen den Terror“ mehr geschadet als genützt haben, denn sie machten | |
reguläre Strafverfahren unmöglich. Und sie dienten Autokraten von China | |
über die Türkei bis Russland als bequeme Rechtfertigung für ihre eigenen | |
Menschenrechtsverstöße. | |
Als Barack Obama im Januar 2009 ins Weiße Haus einzog, erbte er Guantánamo | |
und die noch 242 dort Inhaftierten als Altlast. Er wolle das Lager [5][so | |
schnell wie möglich schließen], verkündete er. Ein Ausweg wäre gewesen, die | |
Häftlinge in ein Hochsicherheitsgefängnis in den USA zu verlegen, doch das | |
vereitelten die Republikaner. Auch wenn vielen der Terrorverdächtigen keine | |
konkreten Verbrechen nachgewiesen werden konnten, galten sie vielen weiter | |
als hochgefährlich. | |
Nach langen Verhandlungen konnte Obama einige in die Obhut anderer Staaten | |
entlassen, darunter der winzige Inselstaat Palau, der 2009 sechs Männer | |
aufnahm. Fünf weitere wurden nach Albanien und vier nach Bermuda entlassen. | |
Zuvor hatte Obama Deutschland gebeten, einige Uiguren aus Guantánamo | |
aufzunehmen, da in München eine große uigurische Exilgemeinde existiert. | |
Doch der damalige Innenminister Wolfgang Schäuble weigerte sich, diesen | |
Wunsch der US-Regierung zu erfüllen. | |
Noch immer sitzen 39 Männer in Guantánamo. Die Hölle dort wird nun von | |
Hollywood nacherzählt, [6][in dem Drama „Der Mauretanier“], nach dem | |
Hafttagebuch Mohamedou Ould Slahis, der 14 Jahre lang ohne Anklage in dem | |
Haftlager einsaß. | |
11 Sep 2021 | |
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Stefan Schaaf | |
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