# taz.de -- Film über Rockband Dinosaur Jr.: Die Menschen attackieren | |
> Bei der US-Rockband Dinosaur Jr. ging es immer um Übersteuerung und | |
> Grenzüberschreitung. Das zeigt der Film „Freakscene – The Story of | |
> Dinosaur Jr.“. | |
Bild: Die Bandmitglieder von Dinosaur Jr. igeln sich gerne ein zwischen den Mar… | |
Was macht eine Band zu einer Ausnahmeband? Warum erscheint ihr Sound | |
originär, dringlich und ergreifend? Warum die und keine andere? Für eine | |
der wichtigsten US-Rockbands überhaupt, Dinosaur Jr., sucht der Film | |
„Freakscene – The Story of Dinosaur Jr.“ nach Antworten auf diese Fragen. | |
Dabei kommen die drei langjährigen Bandmitglieder J Mascis, Lou Barlow und | |
Emmett Jefferson Murphy („Murph“) zu Wort, zudem werden langjährige | |
Weggefährten aus der Indieszene (Kim Gordon, Henry Rollins, Bob Mould) nach | |
dem Geheimnis [1][von Dinosaur Jr.] befragt. Darüber hinaus gibt es jede | |
Menge Livematerial und Ausschnitte aus Videoclips. | |
Gedreht hat den Film der deutsche Regisseur Philipp Reichenheim (aka | |
Philipp Virus). Reichenheim ist sehr nah dran an der Band, J Mascis ist | |
sein Schwager (der Sänger und Gitarrist ist mit der Berlinerin Luisa | |
Reichenheim verheiratet); schon vor der familiären Verbindung waren die | |
beiden befreundet. Der Berliner Filmemacher hat viel mit den Berliner | |
Technopunks Atari Teenage Riot zusammengearbeitet, er hat auch [2][Miron | |
Zownirs Film „Bruno S. – die Fremde ist der Tod“] produziert und zahlreic… | |
Musikvideos gedreht. | |
Reichenheim steigt noch vor der Bandgründung ein – der Film beginnt mit der | |
Vorgängerband Deep Wound, die J Mascis – damals noch am Schlagzeug – und | |
Lou Barlow Anfang der Achtziger in Massachussetts gründeten. Die Ursprünge | |
der beiden Musiker liegen im Punk und Hardcore, Deep Wound klangen dabei | |
weitaus wüster und weniger melodisch als Dinosaur Jr.. Obwohl J Mascis Lou | |
Barlow offenbar nicht besonders mochte, wollte er, dass der in seiner Band | |
spiele. | |
## Krachig-schrammeliger Sound | |
Dinosaur Jr. gründeten sich nach dem Ende von Deep Wound 1984, zunächst | |
bloß als „Dinosaur“, ehe eine andere Band, die Supergroup „Dinosaurs“,… | |
auf dem Rechtsweg zu einer Namensänderung zwang. Sie hängten einfach ein | |
„Jr.“ an ihren Namen. Mit den frühen Alben „You’re Living All Over Me�… | |
(1987) und „Bug“ (1988) haben sie zeitlose Indie-Klassiker eingespielt und | |
ihren typisch krachig-schrammeligen Sound entwickelt. | |
Man könnte auch sagen: [3][sie haben Grunge vorweggenommen]. Die drei | |
Bandmitglieder waren alle auf ihre Art Außenseiter. Der stets mit dünner | |
Stimme und äußerlich regungslos sprechende Mascis erzählt im Film: „Ich war | |
schon in der Mittelstufe schräg drauf, ich wollte aus der Gesellschaft | |
aussteigen.“ | |
Wie besonders diese Band auf vielen Ebenen ist, verdeutlicht dieser Film. | |
Es ging bei Dinosaur Jr. einerseits immer um Lautstärke, um Übersteuerung, | |
um Grenzüberschreitung. Über sein Gitarrenspiel sagt Mascis: „Ich hab immer | |
so laut gespielt, um das gleiche Gefühl wie beim Schlagzeugspielen zu | |
bekommen, und wollte mit Effekten eine gewisse Dynamik erreichen.“ Barlow | |
erzählt: „Ich wollte nie auf der Bühne stehen, um vor Publikum zu spielen, | |
sondern um Menschen zu attackieren.“ | |
Genauso fühlte sich das auch an auf Dinosaur-Jr.-Konzerten: Der dichte | |
Sound aus den Marshall-Türmen hatte immer einen Wahnsinnswumms, durchdrang | |
den Körper voll und ganz. Dabei schafften sie es, trotzdem noch melodisch | |
zu klingen. | |
## Beispiel misslungener männlicher Kommunikation | |
Besonders ist auch die gegenseitige Abneigung zwischen J Mascis und Lou | |
Barlow. Die beiden mögen sich bis heute nicht, sie sprechen kaum | |
miteinander, was zwischenzeitlich auch zu einer Trennung und neuen | |
Bandbesetzung führte. Schlagzeuger Murph steht teils wie ein (zum Scheitern | |
verurteilter) Mediator dazwischen – im Film beschreiben mehrere die Band | |
als eine Art psychotische Familie. | |
Kim Gordon, damals mit Sonic Youth oft auf Tour mit Dinosaur Jr., sieht es | |
als ein Beispiel misslungener männlicher Kommunikation an, dass Mascis und | |
Barlow sich nur über die Musik miteinander verständigen: „Sie | |
kommunizieren, und sie kommunizieren auch wieder nicht.“ | |
Dass diese Konstellation – nach der Trennung kamen sie 2005 im | |
Original-Line-up wieder zusammen – so gut funktioniert, dass Dinosaur Jr. | |
noch große Alben wie „Farm“ (2009) und „I Bet on Sky“ (2012) nachlegte… | |
ist das eigentliche Wunder. Eine Erklärung dafür hat Henry Rollins: Die | |
drei hätten einfach irgendwann kapiert, wie groß das ist, was sie als Band | |
zusammen sind – und aus Respekt vor der gemeinsamen Leistung akzeptierten | |
sie die konfliktbehaftete Situation. | |
Erfreulich an diesem Film ist, dass die O-Töne keine | |
(Selbst-)Beweihräucherungsorgien sind; man hat das Gefühl, die | |
Interviewpartner versuchen zu greifen und begreifen, wer und was Dinosaur | |
Jr. sind. Auch die Ästhetik der Band kommt bestens rüber, dank der | |
Videoclips aus der Frühzeit, der psychedelisch anmutenden neongrünen und | |
lilafarbenen Farbfilter oder wenn man immer wieder sieht, wie sich die | |
Bandmitglieder zwischen den Verstärkertürmen einigeln oder hinter dem | |
Schlagzeug verschanzen. | |
Für das Triumvirat Mascis/Barlow/Murphy ist die Musik wahlweise Zuflucht, | |
Betäubung oder Aufputschmittel – für ihr Publikum gilt das aber ganz sicher | |
gleichermaßen. | |
8 Sep 2021 | |
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## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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