# taz.de -- Bilderatlas-Ausstellung in Hamburg: Eine Mammutaufgabe | |
> Die Deichtorhallen zeigen eine Rekonstruktion von Aby Warburgs | |
> „Bilderatlas Mnemosyne“. Dieser versucht ein neues Verständnis von | |
> Kunstgeschichte. | |
Bild: Eine Mitarbeiterin der Deichtorhallen Hamburg betrachtet in der Ausstellu… | |
Was, wenn sich Kunst nicht nach Genres oder nach Epochen ordnen ließe, | |
sondern nach Motiven und stilistischen Elementen? Motiven, die immer wieder | |
auftauchen, eine bestimmte Körperhaltung etwa; oder Techniken, mit denen | |
sich Bewegung im statischen Bild darstellen lässt? Antike, Moderne, | |
Renaissance: Alles wäre dann ein Fluss, in dem sich die Kunst bewegt, mal | |
schneller, mal langsamer. | |
Aby Warburg begründete mit dieser Herangehensweise ein komparatistisches | |
Verständnis der Kunstgeschichte. Sein 1924 in Hamburg begonnener | |
„Bilderatlas Mnemosyne“ versuchte, solche Verbindungslinien zwischen Antike | |
und Gegenwart nachzuzeichnen. Das Projekt blieb nach Warburgs Tod 1929 | |
unvollendet, 1933 wurden die entstandenen Bildtafeln nach London ins | |
Warburg Institute gebracht und archiviert, allerdings nicht in der | |
ursprünglich angedachten Zusammenstellung. Die 971 Abbildungen auf 63 | |
Tafeln verschwanden in der rund 450.000 Objekte umfassenden „Photographic | |
Collection“ des Instituts. | |
Seit Jahren arbeiten Axel Heil und Roberto Ohrt an einer Rekonstruktion von | |
Warburgs Bilderatlas. 2016 realisierten sie eine Präsentation im Karlsruher | |
ZKM, die aber primär auf Reproduktionen setzte. Erst vor kurzem gab es die | |
Möglichkeit, [1][„Mnemosyme“ mit den originalen Bildern aus London | |
nachzustellen], zunächst im Berliner Haus der Kulturen der Welt, dann in | |
der Bonner Bundeskunsthalle. | |
Und jetzt endlich am Entstehungsort, in Hamburg, in der Sammlung | |
Falckenberg – deren Räume im Stadtteil Harburg dafür gleichzeitig | |
ungewöhnlich wie einleuchtend sind. Einerseits, weil Warburg dem | |
diskursiven Kunstverständnis entgegen kommt, den auch das Haus beansprucht: | |
Die Deichtorhallen – zu denen der Harburger Standort gehört – „sind schon | |
immer ein Ort für komplexes, anschauliches Denken“, sagt Intendant Dirk | |
Luckow und stellt sich so in die Tradition Warburgs. | |
Zum anderen, weil der „Bilderatlas Mnemosyne“ an diesem Ort weitergedacht | |
wird: als Sammlung eines kulturellen Gedächtnisses, das den Fortbestand | |
antiker Bildwelten nicht nur wie bei Warburg bis zur Moderne verortet, | |
sondern auch in einer Kunst, die zutiefst heutig ist. Warburgs überbordende | |
Bildtafeln jedenfalls stehen hier im Dialog mit Exponaten von Hanne | |
Darboven und Ed Ruscha etwa. | |
Dies bildet freilich nicht den Mittelpunkt der Präsentation. Das übernehmen | |
die einzelnen Tafeln, die klug, wenn auch sehr auf eine Warburg fremde | |
Eindeutigkeit setzend, erläutert werden. Dass man es hier mit einer | |
kuratorischen Mammutaufgabe zu tun hat, wird mehr als einmal dargestellt; | |
auch dass es sich beim Ausgestellten um unbezahlbare Schätze handele, ist | |
mehr Marketing als tatsächliche Aussage: In Ausnahmefällen mussten Heil und | |
Ohrt doch wieder auf Reproduktionen zurückgreifen, die zwar in der | |
begleitenden Publikation kenntlich gemacht sind, auf den Tafeln für das | |
ungeübte Auge aber nicht zu identifizieren. | |
## Die Echtheit war Nebensache | |
Der Begriff „Original“ ist dabei ohnehin brüchig: Es ging Warburg nicht um | |
die Aura des Kunstwerks, sondern um exemplarische Ausprägungen eines | |
kollektiven Bildergedächtnisses, entsprechend war ihm auch nicht wichtig, | |
ob er in seinem Bilderatlas Originale präsentierte oder Nachbildungen von | |
teils diskutabler Qualität – solange nur das Exemplarische am Gezeigten | |
deutlich wurde. Dass die Harburger Ausstellung nun ein wenig | |
marktschreierisch „Bilderatlas Mnemosyne – Das Original“ titelt, ist also | |
einerseits korrekt, solange die überwiegende Mehrzahl der gezeigten | |
Exponate tatsächlich aus den Londoner Archiven stammt. Es ist nur nicht das | |
Thema. | |
Allein: Würde man den Fokus stärker auf das Erinnerungsrepertoire legen, | |
aus dem Warburg schöpfte, als auf den Originalcharakter der einzelnen | |
Beispiele, dann wäre auch die für sich genommen beeindruckende | |
Archivrecherche von Heil und Ohrt nicht mehr als eine Fleißarbeit. Und | |
einen gewissen Reiz hat es natürlich, genau die Tafeln zu bestaunen, an | |
denen schon Warburg seine Theorie erläuterte. | |
1 Sep 2021 | |
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[1] /Aby-Warburgs-Bilderatlas-in-Berlin/!5712508 | |
## AUTOREN | |
Falk Schreiber | |
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