| # taz.de -- Notstand in der Pflege: Die kranken Häuser heilen | |
| > Die überlasteten Beschäftigten der landeseigenen Kliniken in Berlin | |
| > kämpfen für bessere Arbeitsbedingungen. Die Missstände sitzen tief im | |
| > System. | |
| Das Grundproblem ist die Ökonomisierung des Gesundheitssektors“, sagt Gabi | |
| Heise und hört sich dabei etwas müde an. Seit 1983 arbeitet die | |
| Intensivpflegerin am Vivantes Klinikum Neukölln, seit Jahren kämpft sie für | |
| bessere Arbeitsbedingungen der Pflegenden, hat alle Arbeitskämpfe der | |
| Beschäftigten an ihrem Krankenhaus mitgemacht. Inzwischen ist Heise | |
| freigestellte Betriebsrätin und engagiert sich in der [1][Berliner | |
| Krankenhausbewegung], einem Zusammenschluss der Beschäftigten der | |
| landeseigenen Krankenhäuser Charité und Vivantes. | |
| Ende August sind die in der Gewerkschaft Verdi organisierten Beschäftigten | |
| der 13 Krankenhäuser der kommunalen Betreiber [2][in den Arbeitskampf | |
| eingetreten]. Gemeinsam stellen alle Vivantes- und Charité-Standorte über | |
| 40 Prozent der Berliner Klinikbetten. Pflegende und andere Mitarbeitende | |
| wie Reinigungskräfte oder Physiotherapeut:innen sind frustriert, weil | |
| sie in der Pandemie zwar beklatscht, aber nicht entlastet wurden. | |
| Wohl auch deshalb führen die Klinikbeschäftigten ihren Arbeitskampf nun | |
| derart energisch: Sie demonstrieren, schreiben Petitionen und sprechen mit | |
| Politiker:innen. Auf Protestveranstaltungen berichten Beschäftigte in | |
| emotionalen Beiträgen, wie der konstante Personalmangel Patient:innen | |
| gefährde, etwa, wenn sich eine Hebamme um drei Gebärende gleichzeitig | |
| kümmern müsse. | |
| Das Klinikpersonal bricht damit auch aus einer Defensive aus, in der sich | |
| die Beschäftigten des Gesundheitssektors lange befanden. Während der | |
| rigorosen Sparpolitik der 2000er Jahre erlebten sie Lohnkürzungen, | |
| Privatisierungen und das Auslagern ihrer Arbeit auf formal externe | |
| Dienstleister – so genanntes Outsourcing – zu meist schlechteren | |
| Bedingungen. | |
| „Es hieß ja immer: Die Pflege kann nicht streiken“, erinnert sich Heise. Da | |
| Patient:innen versorgt werden müssen, könne Klinikpersonal nicht | |
| einfach so die Arbeit niederlegen, habe es geheißen. Erste Streikversuche | |
| an der Charité gab es bereits 2006 und 2011. Doch diese seien „einfach | |
| verpufft“, so Heise. | |
| Die Trendwende kam 2015, als Charité-Beschäftigte für den Tarifvertrag | |
| Gesundheitsschutz (TV-G) stritten. Dieser sollte bundesweit erstmals | |
| Mindestpersonalschlüssel für jede Krankenhausstation definieren, um den | |
| konstanten Unterbesetzungen zu begegnen. Dies sei „eine ganz andere Art von | |
| Streik“ gewesen, erinnert sich die Pflegerin: „Es wurde vorher abgefragt, | |
| wie viele Kolleg:innen streiken werden. Diese Zahlen haben wir dann | |
| gemeldet. So haben die Kliniken genug Zeit bekommen, die Stationen auch zu | |
| räumen.“. | |
| Die Klinikleitungen mussten alle aus medizinischer Sicht verschiebbaren | |
| Behandlungen und Operationen aufschieben, nicht dringende Fälle wurden | |
| nicht mehr aufgenommen. Das drückt die Einnahmen. Das Resultat: Nach elf | |
| Tagen hatten die Beschäftigten gewonnen, zwischenzeitlich war jedes dritte | |
| Bett leergestreikt worden. Und wie nebenbei hatten die Beschäftigten auch | |
| noch den Arbeitskampf im Krankenhaus wiederbelebt. | |
| Zwar sei der Tarifvertrag Gesundheitsschutz „ins Leere gelaufen“: Die | |
| Gewerkschaft habe damals schlicht vergessen, Konsequenzen für den Fall | |
| festzulegen, dass vereinbarte Personalbesetzungen unterschritten würden, so | |
| Heise. | |
| Doch der Streikerfolg der Berliner Krankenhausbeschäftigten habe „eine | |
| Kette von Tarifkämpfen in ganz Deutschland“ losgetreten. Die Idee, sich per | |
| Tarifvertrag von den permanenten Unterbesetzungen zu entlasten, habe sich | |
| wie ein Lauffeuer verbreitet. Seit 2015 haben bundesweit 17 Krankenhäuser | |
| ähnliche Tarifverträge verabschiedet. „Das war auch ein Lernprozess. In | |
| jedem dieser Verträge wurden Schlupflöcher, die wir offen gelassen haben, | |
| gestopft.“ | |
| Ein solcher Tarifvertrag – ein Tarifvertrag Entlastung (TV-E) – ist heute | |
| eine der zwei zentralen Forderungen der Berliner Krankenhausbewegung. Darin | |
| würde definiert, wie viel Personal für eine menschenwürdige Pflege auf | |
| jeder Station nötig ist. Unterbesetzungen würden durch ein Dienstprogramm | |
| automatisch erfasst. Müssten Pflegende in Unterbesetzung arbeiten, bekämen | |
| sie einen „Belastungsausgleich“ in Form von Freizeit oder Geld. Um den | |
| Druck auf die Klinikleitungen zu erhöhen, mehr Personal einzustellen, würde | |
| dieser Belastungsausgleich zudem schrittweise erhöht werden. | |
| ## Problem Outsourcing | |
| Die zweite zentrale Forderung der Bewegung lautet „TvöD für alle“. | |
| Hintergrund ist das Outsourcing in Tochterunternehmen, mit dem Vivantes und | |
| Charité eine Bezahlung gemäß dem Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes | |
| (TvöD) umgehen, nach dem das Personal der landeseigenen Klinikbetriebe | |
| bezahlt wird. Nur Beschäftigte der ausgegliederten Firmen, die noch | |
| Verträge aus der Zeit vor der Auslagerung besitzen, werden weiterhin nach | |
| TvöD bezahlt. Laut der Krankenhausbewegung entstehen so Lohnunterschiede | |
| von teils über 900 Euro monatlich. | |
| [3][Im Fall von Vivantes] ist Outsourcing wohl sogar ein zentraler | |
| Gründungsgedanke des Klinikkonzerns. Unmittelbar nachdem 2001 zehn vormals | |
| bezirkliche und städtische Krankenhäuser in der Vivantes – Netzwerk für | |
| Gesundheit GmbH zusammengefasst wurden, lagerte der Konzern | |
| Speiseversorgung, Physiotherapie und weitere Bereiche aus. In der | |
| Konzernchronik heißt es dazu nicht ohne Stolz: „2005 hat das Unternehmen | |
| rund 150 Millionen Euro Personalkosten weniger als im Gründungsjahr.“ Die | |
| Charité fasste 2006 alle „nichtmedizinischen Dienstleistungen“ in der | |
| Charité Facility Management (CFM) zusammen. | |
| Doch auch hier konnten die Beschäftigten bereits [4][Streikerfolge | |
| erringen]. 2020 wurden nach mehrjährigen Kämpfen die Therapeut:innen in | |
| den Vivantes-Mutterkonzern zurückgeführt. Anfang dieses Jahres wurde der | |
| jahrelange Tarifstreit in der Charité-Tochter CFM mit dem Resultat gelöst, | |
| dass der Lohn der Beschäftigten in den nächsten Jahren an das TvöD-Niveau | |
| angepasst werden soll. Seit 2016 strebt auch die rot-rot-grüne Koalition | |
| offiziell an, Outsourcing zu unterbinden und die Bezahlung in den | |
| Tochterunternehmen an den Tarifvertrag anzunähern. | |
| Doch gegen die Forderungen der Beschäftigten, die seit dem 20. August | |
| offiziell in den Arbeitskampf getreten sind, wehren sich Charité und | |
| Vivantes derzeit auf ganzer Linie. | |
| Am 20. August war ein 100-Tage-Ultimatum der Krankenhausbewegung | |
| ausgelaufen, ohne dass Politik oder Klinikleitungen näher auf die | |
| Forderungen eingegangen wären. Zuletzt hatte Vivantes sogar versucht, die | |
| nach Ablauf des Ultimatums angekündigten Streiks durch einstweilige | |
| Verfügungen zu verbieten. | |
| Insbesondere Vivantes lehnte inhaltliche Verhandlungen zum | |
| Entlastungsvertrag lange kategorisch ab. Die Charité legte zwar ein Angebot | |
| vor, doch laut Gewerkschaft hätte dieses die Lage der Beschäftigten teils | |
| weiter verschlechtert. Auch die Verhandlungen zur Tarifzahlung in den | |
| Tochterunternehmen scheiterten zunächst. Verdi hat deshalb am 30. August | |
| eine Urabstimmung über einen unbefristeten Arbeitskampf angekündigt, am | |
| kommenden Montag soll das Ergebnis verkündet werden. Erst nach dieser | |
| Ankündigung zeigten sich Vivantes und Charité erstmals offener gegenüber | |
| konkreten Tarifverhandlungen, doch zu Ergebnissen kam es bisher nicht. | |
| Die Klinikleitungen argumentieren, die Forderungen der Krankenhausbewegung | |
| kämen zu teuer. Laut Johannes Danckert, kommissarischer Vorsitzender der | |
| Vivantes-Geschäftsführung, würde allein der Entlastungsvertrag „zusätzlic… | |
| Belastungen in Höhe von 25 bis 45 Millionen Euro pro Jahr“ mit sich | |
| bringen. Doch wie würden diese entstehen? | |
| Eigentlich werden die Personalkosten eines Krankenhauses in Deutschland von | |
| den Krankenkassen übernommen. Seit Verabschiedung des | |
| Pflegepersonalstärkungsgesetzes 2019 kann jede zusätzliche Stelle in der | |
| Pflege direkt refinanziert werden, weshalb neue Pflegestellen für | |
| Krankenhäuser im Grunde kostenlos sind. | |
| Laut Vivantes entstehen die Mehrkosten durch den gravierenden | |
| Personalmangel in der Pflege. Da neues Personal schwer zu finden sei, | |
| müssten zunächst Betten gesperrt werden, da nicht alle Stationen | |
| ausreichend besetzt werden könnten. Allein in den neun Berliner | |
| Vivantes-Kliniken wären dies laut Leitung 360 bis 750 Betten – wodurch es | |
| zu einer „Einschränkung der Versorgungskapazitäten“ käme. Durch eine | |
| Bezahlung nach TvöD für alle Beschäftigten der Tochterunternehmen kämen | |
| zusätzliche Kosten von 35 Millionen Euro hinzu. Dies sei nicht | |
| finanzierbar, so der Klinikkonzern. | |
| Doch könnte Berlin nicht einfach mehr Geld zur Verfügung stellen? Immerhin | |
| geht es um landeseigene Betriebe – und die Gesundheitsversorgung der | |
| Bürger:innen. Auch Danckert sagt: „Um die Versorgung nachhaltig | |
| sicherzustellen, benötigen wir als kommunales Krankenhausunternehmen eine | |
| angemessene finanzielle Ausstattung. Das betrifft sowohl das allgemeine | |
| Vergütungssystem für Krankenhäuser als auch die Investitionsmittel durch | |
| das Land Berlin.“ | |
| Finanzsenator Matthias Kollatz (SPD) – in dieser Funktion auch Vorsitzender | |
| des Vivantes-Aufsichtsrats und Mitglied im Aufsichtsrat der Charité – | |
| erklärte aber Mitte August auf taz-Nachfrage, „staatliche Zuschüsse für | |
| Defizite, die für Personalaufwendungen im laufenden Betrieb entstehen“, | |
| seien „nicht zulässig“. Wettbewerber würden dagegen klagen. | |
| ## Duale Finanzierung | |
| Hintergrund ist, dass das deutsche Gesundheitssystem eine duale | |
| Krankenhausfinanzierung vorsieht: Die Krankenkassen übernehmen alle | |
| Behandlungs- und die Personalkosten eines Krankenhauses. Die Bundesländer | |
| sollen dagegen nur die Investitionen finanzieren, also etwa die Anschaffung | |
| technischer Geräte. Wenn Kollatz sagt, dass Berlin nicht einfach Geld für | |
| gestiegene Personalkosten dazuschießen könne, hat er also einerseits recht. | |
| Andererseits hat Berlin über Jahre viel zu wenig Geld in die Investitionen | |
| seiner Kliniken gesteckt. So sei eine „Riesen-Investitionslücke“ entstanden | |
| sei, erklärt Heise: „Diese Lücke müssen die Kliniken schließen.“ Deshalb | |
| nutzten sie Gelder der Krankenkassen, die eigentlich für Personal und | |
| Behandlungen gedacht sind, um Investitionen zu tätigen. | |
| Das ist kein Geheimnis: Vivantes gibt jährlich im Geschäftsbericht an, wie | |
| viele Investitionen aus sogenannten Eigenmitteln stammen – eine andere | |
| Bezeichnung für die Gelder der Krankenkassen für Pflege und Personal. 2018 | |
| waren das 77 Millionen, 2019 127,5 Millionen Euro. | |
| Die rot-rot-grüne Koalition in Berlin fordert in ihrem Koalitionsvertrag | |
| eine „Trendwende in der Krankenhausfinanzierung“ – und erhöhte die | |
| Investitionen auch deutlich: zwischen 2018 und 2021 von 140 Millionen auf | |
| 235 Millionen Euro jährlich. Laut der Krankenhausgesellschaft, einer | |
| Vereinigung der Berliner Krankenhausträger, sind aber jährliche | |
| Investitionen von 350 Millionen Euro nötig. | |
| Kalle Kunkel, langjähriger Gewerkschaftssekretär, engagiert sich heute im | |
| [5][Bündnis „Gesundheit statt Profite“] gegen die Ökonomisierung des | |
| Gesundheitswesens. Er kritisiert, dass viele der Investitionen Kredite | |
| seien: „Das Land müsste das derzeitige Investitionsniveau für zehn Jahre | |
| aufrechterhalten, um die Defizite auszugleichen. Das geht nicht, wenn jedes | |
| Jahr mehr Geld in die Rückzahlung von Krediten fließen muss“, sagt er. Dann | |
| sei völlig klar, dass den Kliniken Geld für mehr Personal fehle, da sie ja | |
| noch nicht einmal alle Gelder der Krankenkassen, die für Personal gedacht | |
| sind, auch für diesen Zweck aufwenden könnten. | |
| ## „Rettet die Medizin“ | |
| Kunkel, Heise und die Berliner Krankenhausbewegung betrachten die Sache | |
| aber noch grundsätzlicher: Für sie hängen die Missstände mit der | |
| marktwirtschaftlichen Ausrichtung des Gesundheitswesens zusammen. Die | |
| Pfleger:innen stehen damit nicht allein: 2019 veröffentlichte der | |
| [6][Stern den Appell „Rettet die Medizin“], in dem sich 215 Ärzt:innen | |
| ebenfalls gegen die Profitorientierung im Gesundheitssektor wandten. Rechne | |
| man die Mitgliedszahlen aller Verbände zusammen, die noch in den folgenden | |
| Monaten unterschrieben hätten, so der Stern später, unterstützten über | |
| 130.000 Mediziner:innen den Aufruf – fast ein Drittel der deutschen | |
| Mediziner:innen. | |
| Profite lassen sich im Gesundheitssektor scheinbar einige erzielen. So | |
| erwirtschaftete der private [7][Klinikkonzern Fresenius im Pandemiejahr | |
| 2020 laut Geschäftsbericht] einen Gewinn von rund 1,7 Milliarden Euro. Der | |
| Haushalt der Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und | |
| Gleichstellung betrug 2019 nur etwa 259 Millionen. Zwar müssen Charité | |
| und Vivantes als kommunale Krankenhäuser keinen Gewinn erzielen. | |
| Wirtschaftlich handeln und die schwarze Null halten sollen sie aber doch. | |
| Lange, sagt Kunkel, sei das bundesdeutsche Gesundheitssystem unökonomisch | |
| organisiert gewesen. So sei in den 1970er Jahren – für Kunkel das | |
| „Zeitalter echter Krankenhausplanung“ – ein „System der | |
| Selbstkostendeckelung“ in Kraft gewesen. Damals habe jede Klinik mit den | |
| Krankenkassen ein Jahresbudget ausgehandelt, das in Tagessätzen für die | |
| Behandlung jede:r Patient:in ausgezahlt worden sei. Am Jahresende wurde | |
| Kassensturz gemacht: „Hatte das Krankenhaus Gewinn gemacht, musste es diese | |
| abgeben, gab es Verluste, konnten diese nachgefordert werden“, erklärt | |
| Kunkel. Profitmacherei war verboten. | |
| Dann kamen die 1980er Jahre. Die ersten größeren Wirtschaftskrisen der | |
| Nachkriegszeit erschütterten die Bundesrepublik. In diesem Kontext habe | |
| [8][die schwarz-gelbe Koalition unter Bundeskanzler Helmut Kohl] (CDU) „die | |
| geistig-moralische Wende hin zum Neoliberalismus“ vorangetrieben. | |
| „Gesprochen wurde damals viel über eine Kostenexplosion, hervorgerufen | |
| durch die stetig fortschreitende technische Entwicklung und die Ansprüche | |
| der Patient:innen“, sagt Kunkel. | |
| Doch diese Kostenexplosion habe es nie gegeben. Sie sei eine „ideologisch | |
| motivierte Finte“ der Kohl-Regierung gewesen, die Krankenhäuser für | |
| Profitorientierung zu öffnen. Nur so könne die Effizienz in der | |
| Gesundheitsversorgung gesteigert werden, habe es damals geheißen, sagt | |
| Kunkel. | |
| In den folgenden Jahren sei das unökonomisch organisierte Gesundheitssystem | |
| untergraben worden. So wurde etwa 1985 das Gewinnverbot der Krankenhäuser | |
| gekippt: „Damit änderte sich die Logik des Systems“, da die Krankenhäuser | |
| überschüssige Tagessätze nicht mehr zurückzahlen mussten. Gabi Heise kann | |
| das bestätigen. Da seien Patient:innen „auch mal übers Wochenende | |
| dabehalten“ worden, erzählt die Pflegerin. Für Kunkel war dies eine | |
| entscheidende Zäsur: Da eine längere Behandlungszeit plötzlich mehr Geld | |
| bedeutete, seien nicht-medizinische Aspekte in die Behandlung eines | |
| Menschen eingeflossen. | |
| Doch wer zur Ökonomisierung des Gesundheitssystems recherchiert, stolpert | |
| vor allem über einen Begriff: diagnosebezogene Fallpauschalen, auf Englisch | |
| „diagnoses related groups“, kurz: [9][das DRG-System]. Für dieses ist die … | |
| für ihre neoliberalen Reformen berüchtigte – rot-grüne Koalition unter | |
| Kanzler Gerhard Schröder (SPD) verantwortlich. „Im DRG-System bekommen die | |
| Krankenhäuser für jede Behandlung einer bestimmten Krankheit eine | |
| festgelegte Summe“, erklärt Heise. Im System wird der Behandlung jeder | |
| Krankheit ein bestimmter Preis zugeordnet, den die Krankenhäuser von den | |
| Krankenkassen erhalten. Außerdem fließen Faktoren wie Begleiterkrankungen | |
| oder Alter der Patient:innen in die Abrechnung ein. | |
| Die Kernidee des DRG-Systems ist, Krankenhäuser auf mehr Effizienz zu | |
| trimmen, was vor allem die schnellere Behandlung von Patient:innen | |
| bedeutet. Wie lange ein:e Patient:in tatsächlich braucht, um wieder | |
| gesund zu werden, findet keine Beachtung: Im DRG-System wird nur die | |
| durchschnittliche Behandlungszeit einer Diagnose bezahlt. Überschreiten | |
| die Krankenhäuser diese, machen sie Verluste. | |
| „Ein Chefarzt weiß ja über die wirtschaftliche Situation seiner Abteilung�… | |
| erklärt Kunkel. „Das Erste, was er auf einem Behandlungsbogen sieht, ist | |
| deshalb, ob der Patient noch im ökonomischen Bereich liegt. Sieht die | |
| [10][Fallpauschale] 3 bis 5 Tage Behandlung vor, muss der Patient auch nach | |
| 5 Tagen entlassen sein.“ | |
| ## „Blutige Entlassungen“ | |
| Tatsächlich würden Patient:innen teilweise zu früh entlassen, sagt auch | |
| Heise. [11][„Blutige Entlassungen“] heißen vorzeitige Entlassungen aus rein | |
| wirtschaftlichen Gründen. „Aber wenn man Patient:innen früher | |
| rausschmeißt, wird die Arbeit einfach auf den nachstationären Bereich | |
| verlagert. Dann müssen Hausärzt:innen und vor allem auch die Angehörigen | |
| ran. Die bezahlt niemand“, sagt die Pflegerin. | |
| Umgekehrt gelte, so Kunkel: Bezahle das DRG-System eine Behandlung länger, | |
| als der:die Patient:in dies benötige, würde die Therapie auch mal in | |
| die Länge gezogen. „Der Patient wird so zur Ware“, fasst Heise zusammen. | |
| Konsequenzen habe das DRG-System aber nicht nur für Patient:innen, sondern | |
| auch für die Pflegekräfte. Denn lange seien auch Personalkosten im | |
| DRG-System einkalkuliert gewesen. „Das bedeutet: Wer die gleiche Anzahl | |
| Patient:innen mit weniger Personal behandelt, steigert seine Gewinne“, | |
| erklärt Heise: Klar, dass das zu Überlastung führe. | |
| Letzteres Problem könnte das [12][Pflegepersonalstärkungsgesetz] | |
| tatsächlich lösen, da durch dieses alle neuen Personalkosten direkt von den | |
| Krankenkassen refinanziert werden. „Die Krankenhäuser können also einfach | |
| mehr Personal einstellen, ohne dass sie das was kostet“, sagt Heise | |
| durchaus anerkennend. Und ergänzt: „Leider sind die Arbeitsbedingungen | |
| immer noch so beschissen, das ganz viele Menschen diesen Job nicht ausüben | |
| wollen.“ Das sei „schade“, denn „wenn man Zeit zum Pflegen hat“, sei … | |
| Pflege ein wunderschöner Beruf. | |
| Heise kann deshalb der Argumentation der Vivantes-Klinikleitung nichts | |
| abgewinnen, laut der der Entlastungstarifvertrag zu einer Einschränkung der | |
| Versorgungskapazitäten führen würde. Sie ist sich sicher: „Das bleibt nicht | |
| lange so.“ Denn der Fachkräftemangel liege primär an den miserablen | |
| Arbeits- und Ausbildungsbedingungen. Tatsächlich kam eine [13][Studie der | |
| Arbeitnehmerkammer Bremen], auf die sich auch die Krankenhausbewegung | |
| beruft, zu dem Schluss, dass die bundesweit fehlenden Pflegestellen | |
| ausgeglichen werden könnten, wenn sich die Arbeitsbedingungen verbesserten. | |
| In einer Verdi-Befragung von 300 Berliner Pflegeazubis konnte sich Anfang | |
| August [14][die Hälfte der Befragten] nicht oder eher nicht vorstellen, | |
| längerfristig in der Pflege zu arbeiten. 75 Prozent erklärten, der Beruf | |
| sei mit ihren Vorstellungen von Freizeit und Familie schwer vereinbar. | |
| Kunkel ist überzeugt, dass sich dies durch den Entlastungsvertrag ändern | |
| würde: „Mit dem Tarifvertrag Entlastung ändert sich die Logik des | |
| Gesundheitssystems“, sagt er. „Sind Personalstandards erst einmal | |
| festgelegt, können sich die Krankenhäuser nicht mehr gegenseitig | |
| herunterkonkurrieren.“ Er vermutet sogar: „Möglicherweise erleben wir | |
| bereits den Kollaps des DRG-Systems.“ Die entscheidende Frage lautete | |
| deshalb derzeit eigentlich: „Was kommt danach?“ | |
| Konzepte gebe es genug. „Entscheidend“ sei eine Rückkehr zu einem | |
| Finanzierungsmodell, das sich an den tatsächlich entstandenen Kosten eines | |
| Krankenhauses orientiert. Im Gesundheitssystem sollten planerische | |
| gegenüber marktwirtschaftlichen Ansätzen wieder bevorzugt werden. Um das zu | |
| finanzieren, solle eine allgemeine Bürgerversicherung das bestehende System | |
| der Zwei-Klassen-Versicherungen ersetzen, so Kunkels Lösungsvorschläge. | |
| Und für die Pflegenden schlägt er das System „[15][bedarfsgerechte | |
| Personalmessung 2.0]“ vor, das 2020 von Verdi gemeinsam mit der Deutschen | |
| Krankenhausgesellschaft und dem Pflegerat entwickelt wurde. Im Kern geht es | |
| dabei darum, für jede:n Patient:in zu erfassen, wie viel Personal für | |
| gute Pflege nötig ist. So entsteht eine Personalbemessung, die die | |
| Krankenhäuser dann stellen müssten. Aktuell prüft das | |
| Bundesgesundheitsministerium die Umsetzung. | |
| 4 Sep 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://berliner-krankenhausbewegung.de/ | |
| [2] /Es-darf-wieder-gestreikt-werden/!5791382 | |
| [3] /Arbeitskaempfe-in-Berlin/!5505224 | |
| [4] /Outsourcing-bei-der-Charite/!5407617 | |
| [5] https://gesundheitohneprofite.noblogs.org/ | |
| [6] https://www.stern.de/gesundheit/aerzte-appell-im-stern--rettet-die-medizin-… | |
| [7] https://www.fresenius.de/media_library/Fresenius_Geschaeftsbericht_2020.pdf | |
| [8] https://www.spiegel.de/politik/bluem-laesst-den-kleinen-mann-bluten-a-58530… | |
| [9] https://flexikon.doccheck.com/de/DRG-System | |
| [10] https://www.bundesgesundheitsministerium.de/krankenhausfinanzierung.html | |
| [11] https://www.aerzteblatt.de/archiv/55105/Anschlussheilbehandlung-Blutige-En… | |
| [12] https://www.pflege.de/pflegegesetz-pflegerecht/pflegepersonal-staerkungsge… | |
| [13] https://arbeitnehmerkammer.de/service/presse/pressemitteilungen/bremer-bef… | |
| [14] /Aus-Azubis-koennen-streiken/!5788402 | |
| [15] https://gesundheit-soziales.verdi.de/themen/entlastung/++co++27e4ac2e-361f… | |
| ## AUTOREN | |
| Timm Kühn | |
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