# taz.de -- Notstand in der Pflege: Die kranken Häuser heilen | |
> Die überlasteten Beschäftigten der landeseigenen Kliniken in Berlin | |
> kämpfen für bessere Arbeitsbedingungen. Die Missstände sitzen tief im | |
> System. | |
Das Grundproblem ist die Ökonomisierung des Gesundheitssektors“, sagt Gabi | |
Heise und hört sich dabei etwas müde an. Seit 1983 arbeitet die | |
Intensivpflegerin am Vivantes Klinikum Neukölln, seit Jahren kämpft sie für | |
bessere Arbeitsbedingungen der Pflegenden, hat alle Arbeitskämpfe der | |
Beschäftigten an ihrem Krankenhaus mitgemacht. Inzwischen ist Heise | |
freigestellte Betriebsrätin und engagiert sich in der [1][Berliner | |
Krankenhausbewegung], einem Zusammenschluss der Beschäftigten der | |
landeseigenen Krankenhäuser Charité und Vivantes. | |
Ende August sind die in der Gewerkschaft Verdi organisierten Beschäftigten | |
der 13 Krankenhäuser der kommunalen Betreiber [2][in den Arbeitskampf | |
eingetreten]. Gemeinsam stellen alle Vivantes- und Charité-Standorte über | |
40 Prozent der Berliner Klinikbetten. Pflegende und andere Mitarbeitende | |
wie Reinigungskräfte oder Physiotherapeut:innen sind frustriert, weil | |
sie in der Pandemie zwar beklatscht, aber nicht entlastet wurden. | |
Wohl auch deshalb führen die Klinikbeschäftigten ihren Arbeitskampf nun | |
derart energisch: Sie demonstrieren, schreiben Petitionen und sprechen mit | |
Politiker:innen. Auf Protestveranstaltungen berichten Beschäftigte in | |
emotionalen Beiträgen, wie der konstante Personalmangel Patient:innen | |
gefährde, etwa, wenn sich eine Hebamme um drei Gebärende gleichzeitig | |
kümmern müsse. | |
Das Klinikpersonal bricht damit auch aus einer Defensive aus, in der sich | |
die Beschäftigten des Gesundheitssektors lange befanden. Während der | |
rigorosen Sparpolitik der 2000er Jahre erlebten sie Lohnkürzungen, | |
Privatisierungen und das Auslagern ihrer Arbeit auf formal externe | |
Dienstleister – so genanntes Outsourcing – zu meist schlechteren | |
Bedingungen. | |
„Es hieß ja immer: Die Pflege kann nicht streiken“, erinnert sich Heise. Da | |
Patient:innen versorgt werden müssen, könne Klinikpersonal nicht | |
einfach so die Arbeit niederlegen, habe es geheißen. Erste Streikversuche | |
an der Charité gab es bereits 2006 und 2011. Doch diese seien „einfach | |
verpufft“, so Heise. | |
Die Trendwende kam 2015, als Charité-Beschäftigte für den Tarifvertrag | |
Gesundheitsschutz (TV-G) stritten. Dieser sollte bundesweit erstmals | |
Mindestpersonalschlüssel für jede Krankenhausstation definieren, um den | |
konstanten Unterbesetzungen zu begegnen. Dies sei „eine ganz andere Art von | |
Streik“ gewesen, erinnert sich die Pflegerin: „Es wurde vorher abgefragt, | |
wie viele Kolleg:innen streiken werden. Diese Zahlen haben wir dann | |
gemeldet. So haben die Kliniken genug Zeit bekommen, die Stationen auch zu | |
räumen.“. | |
Die Klinikleitungen mussten alle aus medizinischer Sicht verschiebbaren | |
Behandlungen und Operationen aufschieben, nicht dringende Fälle wurden | |
nicht mehr aufgenommen. Das drückt die Einnahmen. Das Resultat: Nach elf | |
Tagen hatten die Beschäftigten gewonnen, zwischenzeitlich war jedes dritte | |
Bett leergestreikt worden. Und wie nebenbei hatten die Beschäftigten auch | |
noch den Arbeitskampf im Krankenhaus wiederbelebt. | |
Zwar sei der Tarifvertrag Gesundheitsschutz „ins Leere gelaufen“: Die | |
Gewerkschaft habe damals schlicht vergessen, Konsequenzen für den Fall | |
festzulegen, dass vereinbarte Personalbesetzungen unterschritten würden, so | |
Heise. | |
Doch der Streikerfolg der Berliner Krankenhausbeschäftigten habe „eine | |
Kette von Tarifkämpfen in ganz Deutschland“ losgetreten. Die Idee, sich per | |
Tarifvertrag von den permanenten Unterbesetzungen zu entlasten, habe sich | |
wie ein Lauffeuer verbreitet. Seit 2015 haben bundesweit 17 Krankenhäuser | |
ähnliche Tarifverträge verabschiedet. „Das war auch ein Lernprozess. In | |
jedem dieser Verträge wurden Schlupflöcher, die wir offen gelassen haben, | |
gestopft.“ | |
Ein solcher Tarifvertrag – ein Tarifvertrag Entlastung (TV-E) – ist heute | |
eine der zwei zentralen Forderungen der Berliner Krankenhausbewegung. Darin | |
würde definiert, wie viel Personal für eine menschenwürdige Pflege auf | |
jeder Station nötig ist. Unterbesetzungen würden durch ein Dienstprogramm | |
automatisch erfasst. Müssten Pflegende in Unterbesetzung arbeiten, bekämen | |
sie einen „Belastungsausgleich“ in Form von Freizeit oder Geld. Um den | |
Druck auf die Klinikleitungen zu erhöhen, mehr Personal einzustellen, würde | |
dieser Belastungsausgleich zudem schrittweise erhöht werden. | |
## Problem Outsourcing | |
Die zweite zentrale Forderung der Bewegung lautet „TvöD für alle“. | |
Hintergrund ist das Outsourcing in Tochterunternehmen, mit dem Vivantes und | |
Charité eine Bezahlung gemäß dem Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes | |
(TvöD) umgehen, nach dem das Personal der landeseigenen Klinikbetriebe | |
bezahlt wird. Nur Beschäftigte der ausgegliederten Firmen, die noch | |
Verträge aus der Zeit vor der Auslagerung besitzen, werden weiterhin nach | |
TvöD bezahlt. Laut der Krankenhausbewegung entstehen so Lohnunterschiede | |
von teils über 900 Euro monatlich. | |
[3][Im Fall von Vivantes] ist Outsourcing wohl sogar ein zentraler | |
Gründungsgedanke des Klinikkonzerns. Unmittelbar nachdem 2001 zehn vormals | |
bezirkliche und städtische Krankenhäuser in der Vivantes – Netzwerk für | |
Gesundheit GmbH zusammengefasst wurden, lagerte der Konzern | |
Speiseversorgung, Physiotherapie und weitere Bereiche aus. In der | |
Konzernchronik heißt es dazu nicht ohne Stolz: „2005 hat das Unternehmen | |
rund 150 Millionen Euro Personalkosten weniger als im Gründungsjahr.“ Die | |
Charité fasste 2006 alle „nichtmedizinischen Dienstleistungen“ in der | |
Charité Facility Management (CFM) zusammen. | |
Doch auch hier konnten die Beschäftigten bereits [4][Streikerfolge | |
erringen]. 2020 wurden nach mehrjährigen Kämpfen die Therapeut:innen in | |
den Vivantes-Mutterkonzern zurückgeführt. Anfang dieses Jahres wurde der | |
jahrelange Tarifstreit in der Charité-Tochter CFM mit dem Resultat gelöst, | |
dass der Lohn der Beschäftigten in den nächsten Jahren an das TvöD-Niveau | |
angepasst werden soll. Seit 2016 strebt auch die rot-rot-grüne Koalition | |
offiziell an, Outsourcing zu unterbinden und die Bezahlung in den | |
Tochterunternehmen an den Tarifvertrag anzunähern. | |
Doch gegen die Forderungen der Beschäftigten, die seit dem 20. August | |
offiziell in den Arbeitskampf getreten sind, wehren sich Charité und | |
Vivantes derzeit auf ganzer Linie. | |
Am 20. August war ein 100-Tage-Ultimatum der Krankenhausbewegung | |
ausgelaufen, ohne dass Politik oder Klinikleitungen näher auf die | |
Forderungen eingegangen wären. Zuletzt hatte Vivantes sogar versucht, die | |
nach Ablauf des Ultimatums angekündigten Streiks durch einstweilige | |
Verfügungen zu verbieten. | |
Insbesondere Vivantes lehnte inhaltliche Verhandlungen zum | |
Entlastungsvertrag lange kategorisch ab. Die Charité legte zwar ein Angebot | |
vor, doch laut Gewerkschaft hätte dieses die Lage der Beschäftigten teils | |
weiter verschlechtert. Auch die Verhandlungen zur Tarifzahlung in den | |
Tochterunternehmen scheiterten zunächst. Verdi hat deshalb am 30. August | |
eine Urabstimmung über einen unbefristeten Arbeitskampf angekündigt, am | |
kommenden Montag soll das Ergebnis verkündet werden. Erst nach dieser | |
Ankündigung zeigten sich Vivantes und Charité erstmals offener gegenüber | |
konkreten Tarifverhandlungen, doch zu Ergebnissen kam es bisher nicht. | |
Die Klinikleitungen argumentieren, die Forderungen der Krankenhausbewegung | |
kämen zu teuer. Laut Johannes Danckert, kommissarischer Vorsitzender der | |
Vivantes-Geschäftsführung, würde allein der Entlastungsvertrag „zusätzlic… | |
Belastungen in Höhe von 25 bis 45 Millionen Euro pro Jahr“ mit sich | |
bringen. Doch wie würden diese entstehen? | |
Eigentlich werden die Personalkosten eines Krankenhauses in Deutschland von | |
den Krankenkassen übernommen. Seit Verabschiedung des | |
Pflegepersonalstärkungsgesetzes 2019 kann jede zusätzliche Stelle in der | |
Pflege direkt refinanziert werden, weshalb neue Pflegestellen für | |
Krankenhäuser im Grunde kostenlos sind. | |
Laut Vivantes entstehen die Mehrkosten durch den gravierenden | |
Personalmangel in der Pflege. Da neues Personal schwer zu finden sei, | |
müssten zunächst Betten gesperrt werden, da nicht alle Stationen | |
ausreichend besetzt werden könnten. Allein in den neun Berliner | |
Vivantes-Kliniken wären dies laut Leitung 360 bis 750 Betten – wodurch es | |
zu einer „Einschränkung der Versorgungskapazitäten“ käme. Durch eine | |
Bezahlung nach TvöD für alle Beschäftigten der Tochterunternehmen kämen | |
zusätzliche Kosten von 35 Millionen Euro hinzu. Dies sei nicht | |
finanzierbar, so der Klinikkonzern. | |
Doch könnte Berlin nicht einfach mehr Geld zur Verfügung stellen? Immerhin | |
geht es um landeseigene Betriebe – und die Gesundheitsversorgung der | |
Bürger:innen. Auch Danckert sagt: „Um die Versorgung nachhaltig | |
sicherzustellen, benötigen wir als kommunales Krankenhausunternehmen eine | |
angemessene finanzielle Ausstattung. Das betrifft sowohl das allgemeine | |
Vergütungssystem für Krankenhäuser als auch die Investitionsmittel durch | |
das Land Berlin.“ | |
Finanzsenator Matthias Kollatz (SPD) – in dieser Funktion auch Vorsitzender | |
des Vivantes-Aufsichtsrats und Mitglied im Aufsichtsrat der Charité – | |
erklärte aber Mitte August auf taz-Nachfrage, „staatliche Zuschüsse für | |
Defizite, die für Personalaufwendungen im laufenden Betrieb entstehen“, | |
seien „nicht zulässig“. Wettbewerber würden dagegen klagen. | |
## Duale Finanzierung | |
Hintergrund ist, dass das deutsche Gesundheitssystem eine duale | |
Krankenhausfinanzierung vorsieht: Die Krankenkassen übernehmen alle | |
Behandlungs- und die Personalkosten eines Krankenhauses. Die Bundesländer | |
sollen dagegen nur die Investitionen finanzieren, also etwa die Anschaffung | |
technischer Geräte. Wenn Kollatz sagt, dass Berlin nicht einfach Geld für | |
gestiegene Personalkosten dazuschießen könne, hat er also einerseits recht. | |
Andererseits hat Berlin über Jahre viel zu wenig Geld in die Investitionen | |
seiner Kliniken gesteckt. So sei eine „Riesen-Investitionslücke“ entstanden | |
sei, erklärt Heise: „Diese Lücke müssen die Kliniken schließen.“ Deshalb | |
nutzten sie Gelder der Krankenkassen, die eigentlich für Personal und | |
Behandlungen gedacht sind, um Investitionen zu tätigen. | |
Das ist kein Geheimnis: Vivantes gibt jährlich im Geschäftsbericht an, wie | |
viele Investitionen aus sogenannten Eigenmitteln stammen – eine andere | |
Bezeichnung für die Gelder der Krankenkassen für Pflege und Personal. 2018 | |
waren das 77 Millionen, 2019 127,5 Millionen Euro. | |
Die rot-rot-grüne Koalition in Berlin fordert in ihrem Koalitionsvertrag | |
eine „Trendwende in der Krankenhausfinanzierung“ – und erhöhte die | |
Investitionen auch deutlich: zwischen 2018 und 2021 von 140 Millionen auf | |
235 Millionen Euro jährlich. Laut der Krankenhausgesellschaft, einer | |
Vereinigung der Berliner Krankenhausträger, sind aber jährliche | |
Investitionen von 350 Millionen Euro nötig. | |
Kalle Kunkel, langjähriger Gewerkschaftssekretär, engagiert sich heute im | |
[5][Bündnis „Gesundheit statt Profite“] gegen die Ökonomisierung des | |
Gesundheitswesens. Er kritisiert, dass viele der Investitionen Kredite | |
seien: „Das Land müsste das derzeitige Investitionsniveau für zehn Jahre | |
aufrechterhalten, um die Defizite auszugleichen. Das geht nicht, wenn jedes | |
Jahr mehr Geld in die Rückzahlung von Krediten fließen muss“, sagt er. Dann | |
sei völlig klar, dass den Kliniken Geld für mehr Personal fehle, da sie ja | |
noch nicht einmal alle Gelder der Krankenkassen, die für Personal gedacht | |
sind, auch für diesen Zweck aufwenden könnten. | |
## „Rettet die Medizin“ | |
Kunkel, Heise und die Berliner Krankenhausbewegung betrachten die Sache | |
aber noch grundsätzlicher: Für sie hängen die Missstände mit der | |
marktwirtschaftlichen Ausrichtung des Gesundheitswesens zusammen. Die | |
Pfleger:innen stehen damit nicht allein: 2019 veröffentlichte der | |
[6][Stern den Appell „Rettet die Medizin“], in dem sich 215 Ärzt:innen | |
ebenfalls gegen die Profitorientierung im Gesundheitssektor wandten. Rechne | |
man die Mitgliedszahlen aller Verbände zusammen, die noch in den folgenden | |
Monaten unterschrieben hätten, so der Stern später, unterstützten über | |
130.000 Mediziner:innen den Aufruf – fast ein Drittel der deutschen | |
Mediziner:innen. | |
Profite lassen sich im Gesundheitssektor scheinbar einige erzielen. So | |
erwirtschaftete der private [7][Klinikkonzern Fresenius im Pandemiejahr | |
2020 laut Geschäftsbericht] einen Gewinn von rund 1,7 Milliarden Euro. Der | |
Haushalt der Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und | |
Gleichstellung betrug 2019 nur etwa 259 Millionen. Zwar müssen Charité | |
und Vivantes als kommunale Krankenhäuser keinen Gewinn erzielen. | |
Wirtschaftlich handeln und die schwarze Null halten sollen sie aber doch. | |
Lange, sagt Kunkel, sei das bundesdeutsche Gesundheitssystem unökonomisch | |
organisiert gewesen. So sei in den 1970er Jahren – für Kunkel das | |
„Zeitalter echter Krankenhausplanung“ – ein „System der | |
Selbstkostendeckelung“ in Kraft gewesen. Damals habe jede Klinik mit den | |
Krankenkassen ein Jahresbudget ausgehandelt, das in Tagessätzen für die | |
Behandlung jede:r Patient:in ausgezahlt worden sei. Am Jahresende wurde | |
Kassensturz gemacht: „Hatte das Krankenhaus Gewinn gemacht, musste es diese | |
abgeben, gab es Verluste, konnten diese nachgefordert werden“, erklärt | |
Kunkel. Profitmacherei war verboten. | |
Dann kamen die 1980er Jahre. Die ersten größeren Wirtschaftskrisen der | |
Nachkriegszeit erschütterten die Bundesrepublik. In diesem Kontext habe | |
[8][die schwarz-gelbe Koalition unter Bundeskanzler Helmut Kohl] (CDU) „die | |
geistig-moralische Wende hin zum Neoliberalismus“ vorangetrieben. | |
„Gesprochen wurde damals viel über eine Kostenexplosion, hervorgerufen | |
durch die stetig fortschreitende technische Entwicklung und die Ansprüche | |
der Patient:innen“, sagt Kunkel. | |
Doch diese Kostenexplosion habe es nie gegeben. Sie sei eine „ideologisch | |
motivierte Finte“ der Kohl-Regierung gewesen, die Krankenhäuser für | |
Profitorientierung zu öffnen. Nur so könne die Effizienz in der | |
Gesundheitsversorgung gesteigert werden, habe es damals geheißen, sagt | |
Kunkel. | |
In den folgenden Jahren sei das unökonomisch organisierte Gesundheitssystem | |
untergraben worden. So wurde etwa 1985 das Gewinnverbot der Krankenhäuser | |
gekippt: „Damit änderte sich die Logik des Systems“, da die Krankenhäuser | |
überschüssige Tagessätze nicht mehr zurückzahlen mussten. Gabi Heise kann | |
das bestätigen. Da seien Patient:innen „auch mal übers Wochenende | |
dabehalten“ worden, erzählt die Pflegerin. Für Kunkel war dies eine | |
entscheidende Zäsur: Da eine längere Behandlungszeit plötzlich mehr Geld | |
bedeutete, seien nicht-medizinische Aspekte in die Behandlung eines | |
Menschen eingeflossen. | |
Doch wer zur Ökonomisierung des Gesundheitssystems recherchiert, stolpert | |
vor allem über einen Begriff: diagnosebezogene Fallpauschalen, auf Englisch | |
„diagnoses related groups“, kurz: [9][das DRG-System]. Für dieses ist die … | |
für ihre neoliberalen Reformen berüchtigte – rot-grüne Koalition unter | |
Kanzler Gerhard Schröder (SPD) verantwortlich. „Im DRG-System bekommen die | |
Krankenhäuser für jede Behandlung einer bestimmten Krankheit eine | |
festgelegte Summe“, erklärt Heise. Im System wird der Behandlung jeder | |
Krankheit ein bestimmter Preis zugeordnet, den die Krankenhäuser von den | |
Krankenkassen erhalten. Außerdem fließen Faktoren wie Begleiterkrankungen | |
oder Alter der Patient:innen in die Abrechnung ein. | |
Die Kernidee des DRG-Systems ist, Krankenhäuser auf mehr Effizienz zu | |
trimmen, was vor allem die schnellere Behandlung von Patient:innen | |
bedeutet. Wie lange ein:e Patient:in tatsächlich braucht, um wieder | |
gesund zu werden, findet keine Beachtung: Im DRG-System wird nur die | |
durchschnittliche Behandlungszeit einer Diagnose bezahlt. Überschreiten | |
die Krankenhäuser diese, machen sie Verluste. | |
„Ein Chefarzt weiß ja über die wirtschaftliche Situation seiner Abteilung�… | |
erklärt Kunkel. „Das Erste, was er auf einem Behandlungsbogen sieht, ist | |
deshalb, ob der Patient noch im ökonomischen Bereich liegt. Sieht die | |
[10][Fallpauschale] 3 bis 5 Tage Behandlung vor, muss der Patient auch nach | |
5 Tagen entlassen sein.“ | |
## „Blutige Entlassungen“ | |
Tatsächlich würden Patient:innen teilweise zu früh entlassen, sagt auch | |
Heise. [11][„Blutige Entlassungen“] heißen vorzeitige Entlassungen aus rein | |
wirtschaftlichen Gründen. „Aber wenn man Patient:innen früher | |
rausschmeißt, wird die Arbeit einfach auf den nachstationären Bereich | |
verlagert. Dann müssen Hausärzt:innen und vor allem auch die Angehörigen | |
ran. Die bezahlt niemand“, sagt die Pflegerin. | |
Umgekehrt gelte, so Kunkel: Bezahle das DRG-System eine Behandlung länger, | |
als der:die Patient:in dies benötige, würde die Therapie auch mal in | |
die Länge gezogen. „Der Patient wird so zur Ware“, fasst Heise zusammen. | |
Konsequenzen habe das DRG-System aber nicht nur für Patient:innen, sondern | |
auch für die Pflegekräfte. Denn lange seien auch Personalkosten im | |
DRG-System einkalkuliert gewesen. „Das bedeutet: Wer die gleiche Anzahl | |
Patient:innen mit weniger Personal behandelt, steigert seine Gewinne“, | |
erklärt Heise: Klar, dass das zu Überlastung führe. | |
Letzteres Problem könnte das [12][Pflegepersonalstärkungsgesetz] | |
tatsächlich lösen, da durch dieses alle neuen Personalkosten direkt von den | |
Krankenkassen refinanziert werden. „Die Krankenhäuser können also einfach | |
mehr Personal einstellen, ohne dass sie das was kostet“, sagt Heise | |
durchaus anerkennend. Und ergänzt: „Leider sind die Arbeitsbedingungen | |
immer noch so beschissen, das ganz viele Menschen diesen Job nicht ausüben | |
wollen.“ Das sei „schade“, denn „wenn man Zeit zum Pflegen hat“, sei … | |
Pflege ein wunderschöner Beruf. | |
Heise kann deshalb der Argumentation der Vivantes-Klinikleitung nichts | |
abgewinnen, laut der der Entlastungstarifvertrag zu einer Einschränkung der | |
Versorgungskapazitäten führen würde. Sie ist sich sicher: „Das bleibt nicht | |
lange so.“ Denn der Fachkräftemangel liege primär an den miserablen | |
Arbeits- und Ausbildungsbedingungen. Tatsächlich kam eine [13][Studie der | |
Arbeitnehmerkammer Bremen], auf die sich auch die Krankenhausbewegung | |
beruft, zu dem Schluss, dass die bundesweit fehlenden Pflegestellen | |
ausgeglichen werden könnten, wenn sich die Arbeitsbedingungen verbesserten. | |
In einer Verdi-Befragung von 300 Berliner Pflegeazubis konnte sich Anfang | |
August [14][die Hälfte der Befragten] nicht oder eher nicht vorstellen, | |
längerfristig in der Pflege zu arbeiten. 75 Prozent erklärten, der Beruf | |
sei mit ihren Vorstellungen von Freizeit und Familie schwer vereinbar. | |
Kunkel ist überzeugt, dass sich dies durch den Entlastungsvertrag ändern | |
würde: „Mit dem Tarifvertrag Entlastung ändert sich die Logik des | |
Gesundheitssystems“, sagt er. „Sind Personalstandards erst einmal | |
festgelegt, können sich die Krankenhäuser nicht mehr gegenseitig | |
herunterkonkurrieren.“ Er vermutet sogar: „Möglicherweise erleben wir | |
bereits den Kollaps des DRG-Systems.“ Die entscheidende Frage lautete | |
deshalb derzeit eigentlich: „Was kommt danach?“ | |
Konzepte gebe es genug. „Entscheidend“ sei eine Rückkehr zu einem | |
Finanzierungsmodell, das sich an den tatsächlich entstandenen Kosten eines | |
Krankenhauses orientiert. Im Gesundheitssystem sollten planerische | |
gegenüber marktwirtschaftlichen Ansätzen wieder bevorzugt werden. Um das zu | |
finanzieren, solle eine allgemeine Bürgerversicherung das bestehende System | |
der Zwei-Klassen-Versicherungen ersetzen, so Kunkels Lösungsvorschläge. | |
Und für die Pflegenden schlägt er das System „[15][bedarfsgerechte | |
Personalmessung 2.0]“ vor, das 2020 von Verdi gemeinsam mit der Deutschen | |
Krankenhausgesellschaft und dem Pflegerat entwickelt wurde. Im Kern geht es | |
dabei darum, für jede:n Patient:in zu erfassen, wie viel Personal für | |
gute Pflege nötig ist. So entsteht eine Personalbemessung, die die | |
Krankenhäuser dann stellen müssten. Aktuell prüft das | |
Bundesgesundheitsministerium die Umsetzung. | |
4 Sep 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://berliner-krankenhausbewegung.de/ | |
[2] /Es-darf-wieder-gestreikt-werden/!5791382 | |
[3] /Arbeitskaempfe-in-Berlin/!5505224 | |
[4] /Outsourcing-bei-der-Charite/!5407617 | |
[5] https://gesundheitohneprofite.noblogs.org/ | |
[6] https://www.stern.de/gesundheit/aerzte-appell-im-stern--rettet-die-medizin-… | |
[7] https://www.fresenius.de/media_library/Fresenius_Geschaeftsbericht_2020.pdf | |
[8] https://www.spiegel.de/politik/bluem-laesst-den-kleinen-mann-bluten-a-58530… | |
[9] https://flexikon.doccheck.com/de/DRG-System | |
[10] https://www.bundesgesundheitsministerium.de/krankenhausfinanzierung.html | |
[11] https://www.aerzteblatt.de/archiv/55105/Anschlussheilbehandlung-Blutige-En… | |
[12] https://www.pflege.de/pflegegesetz-pflegerecht/pflegepersonal-staerkungsge… | |
[13] https://arbeitnehmerkammer.de/service/presse/pressemitteilungen/bremer-bef… | |
[14] /Aus-Azubis-koennen-streiken/!5788402 | |
[15] https://gesundheit-soziales.verdi.de/themen/entlastung/++co++27e4ac2e-361f… | |
## AUTOREN | |
Timm Kühn | |
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