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# taz.de -- Notstand in der Pflege: Die kranken Häuser heilen
> Die überlasteten Beschäftigten der landeseigenen Kliniken in Berlin
> kämpfen für bessere Arbeitsbedingungen. Die Missstände sitzen tief im
> System.
Das Grundproblem ist die Ökonomisierung des Gesundheitssektors“, sagt Gabi
Heise und hört sich dabei etwas müde an. Seit 1983 arbeitet die
Intensivpflegerin am Vivantes Klinikum Neukölln, seit Jahren kämpft sie für
bessere Arbeitsbedingungen der Pflegenden, hat alle Arbeitskämpfe der
Beschäftigten an ihrem Krankenhaus mitgemacht. Inzwischen ist Heise
freigestellte Betriebsrätin und engagiert sich in der [1][Berliner
Krankenhausbewegung], einem Zusammenschluss der Beschäftigten der
landeseigenen Krankenhäuser Charité und Vivantes.
Ende August sind die in der Gewerkschaft Verdi organisierten Beschäftigten
der 13 Krankenhäuser der kommunalen Betreiber [2][in den Arbeitskampf
eingetreten]. Gemeinsam stellen alle Vivantes- und Charité-Standorte über
40 Prozent der Berliner Klinikbetten. Pflegende und andere Mitarbeitende
wie Reinigungskräfte oder Physiotherapeut:innen sind frustriert, weil
sie in der Pandemie zwar beklatscht, aber nicht entlastet wurden.
Wohl auch deshalb führen die Klinikbeschäftigten ihren Arbeitskampf nun
derart energisch: Sie demonstrieren, schreiben Petitionen und sprechen mit
Politiker:innen. Auf Protestveranstaltungen berichten Beschäftigte in
emotionalen Beiträgen, wie der konstante Personalmangel Patient:innen
gefährde, etwa, wenn sich eine Hebamme um drei Gebärende gleichzeitig
kümmern müsse.
Das Klinikpersonal bricht damit auch aus einer Defensive aus, in der sich
die Beschäftigten des Gesundheitssektors lange befanden. Während der
rigorosen Sparpolitik der 2000er Jahre erlebten sie Lohnkürzungen,
Privatisierungen und das Auslagern ihrer Arbeit auf formal externe
Dienstleister – so genanntes Outsourcing – zu meist schlechteren
Bedingungen.
„Es hieß ja immer: Die Pflege kann nicht streiken“, erinnert sich Heise. Da
Patient:innen versorgt werden müssen, könne Klinikpersonal nicht
einfach so die Arbeit niederlegen, habe es geheißen. Erste Streikversuche
an der Charité gab es bereits 2006 und 2011. Doch diese seien „einfach
verpufft“, so Heise.
Die Trendwende kam 2015, als Charité-Beschäftigte für den Tarifvertrag
Gesundheitsschutz (TV-G) stritten. Dieser sollte bundesweit erstmals
Mindestpersonalschlüssel für jede Krankenhausstation definieren, um den
konstanten Unterbesetzungen zu begegnen. Dies sei „eine ganz andere Art von
Streik“ gewesen, erinnert sich die Pflegerin: „Es wurde vorher abgefragt,
wie viele Kolleg:innen streiken werden. Diese Zahlen haben wir dann
gemeldet. So haben die Kliniken genug Zeit bekommen, die Stationen auch zu
räumen.“.
Die Klinikleitungen mussten alle aus medizinischer Sicht verschiebbaren
Behandlungen und Operationen aufschieben, nicht dringende Fälle wurden
nicht mehr aufgenommen. Das drückt die Einnahmen. Das Resultat: Nach elf
Tagen hatten die Beschäftigten gewonnen, zwischenzeitlich war jedes dritte
Bett leergestreikt worden. Und wie nebenbei hatten die Beschäftigten auch
noch den Arbeitskampf im Krankenhaus wiederbelebt.
Zwar sei der Tarifvertrag Gesundheitsschutz „ins Leere gelaufen“: Die
Gewerkschaft habe damals schlicht vergessen, Konsequenzen für den Fall
festzulegen, dass vereinbarte Personalbesetzungen unterschritten würden, so
Heise.
Doch der Streikerfolg der Berliner Krankenhausbeschäftigten habe „eine
Kette von Tarifkämpfen in ganz Deutschland“ losgetreten. Die Idee, sich per
Tarifvertrag von den permanenten Unterbesetzungen zu entlasten, habe sich
wie ein Lauffeuer verbreitet. Seit 2015 haben bundesweit 17 Krankenhäuser
ähnliche Tarifverträge verabschiedet. „Das war auch ein Lernprozess. In
jedem dieser Verträge wurden Schlupflöcher, die wir offen gelassen haben,
gestopft.“
Ein solcher Tarifvertrag – ein Tarifvertrag Entlastung (TV-E) – ist heute
eine der zwei zentralen Forderungen der Berliner Krankenhausbewegung. Darin
würde definiert, wie viel Personal für eine menschenwürdige Pflege auf
jeder Station nötig ist. Unterbesetzungen würden durch ein Dienstprogramm
automatisch erfasst. Müssten Pflegende in Unterbesetzung arbeiten, bekämen
sie einen „Belastungsausgleich“ in Form von Freizeit oder Geld. Um den
Druck auf die Klinikleitungen zu erhöhen, mehr Personal einzustellen, würde
dieser Belastungsausgleich zudem schrittweise erhöht werden.
## Problem Outsourcing
Die zweite zentrale Forderung der Bewegung lautet „TvöD für alle“.
Hintergrund ist das Outsourcing in Tochterunternehmen, mit dem Vivantes und
Charité eine Bezahlung gemäß dem Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes
(TvöD) umgehen, nach dem das Personal der landeseigenen Klinikbetriebe
bezahlt wird. Nur Beschäftigte der ausgegliederten Firmen, die noch
Verträge aus der Zeit vor der Auslagerung besitzen, werden weiterhin nach
TvöD bezahlt. Laut der Krankenhausbewegung entstehen so Lohnunterschiede
von teils über 900 Euro monatlich.
[3][Im Fall von Vivantes] ist Outsourcing wohl sogar ein zentraler
Gründungsgedanke des Klinikkonzerns. Unmittelbar nachdem 2001 zehn vormals
bezirkliche und städtische Krankenhäuser in der Vivantes – Netzwerk für
Gesundheit GmbH zusammengefasst wurden, lagerte der Konzern
Speiseversorgung, Physiotherapie und weitere Bereiche aus. In der
Konzernchronik heißt es dazu nicht ohne Stolz: „2005 hat das Unternehmen
rund 150 Millionen Euro Personalkosten weniger als im Gründungsjahr.“ Die
Charité fasste 2006 alle „nichtmedizinischen Dienstleistungen“ in der
Charité Facility Management (CFM) zusammen.
Doch auch hier konnten die Beschäftigten bereits [4][Streikerfolge
erringen]. 2020 wurden nach mehrjährigen Kämpfen die Therapeut:innen in
den Vivantes-Mutterkonzern zurückgeführt. Anfang dieses Jahres wurde der
jahrelange Tarifstreit in der Charité-Tochter CFM mit dem Resultat gelöst,
dass der Lohn der Beschäftigten in den nächsten Jahren an das TvöD-Niveau
angepasst werden soll. Seit 2016 strebt auch die rot-rot-grüne Koalition
offiziell an, Outsourcing zu unterbinden und die Bezahlung in den
Tochterunternehmen an den Tarifvertrag anzunähern.
Doch gegen die Forderungen der Beschäftigten, die seit dem 20. August
offiziell in den Arbeitskampf getreten sind, wehren sich Charité und
Vivantes derzeit auf ganzer Linie.
Am 20. August war ein 100-Tage-Ultimatum der Krankenhausbewegung
ausgelaufen, ohne dass Politik oder Klinikleitungen näher auf die
Forderungen eingegangen wären. Zuletzt hatte Vivantes sogar versucht, die
nach Ablauf des Ultimatums angekündigten Streiks durch einstweilige
Verfügungen zu verbieten.
Insbesondere Vivantes lehnte inhaltliche Verhandlungen zum
Entlastungsvertrag lange kategorisch ab. Die Charité legte zwar ein Angebot
vor, doch laut Gewerkschaft hätte dieses die Lage der Beschäftigten teils
weiter verschlechtert. Auch die Verhandlungen zur Tarifzahlung in den
Tochterunternehmen scheiterten zunächst. Verdi hat deshalb am 30. August
eine Urabstimmung über einen unbefristeten Arbeitskampf angekündigt, am
kommenden Montag soll das Ergebnis verkündet werden. Erst nach dieser
Ankündigung zeigten sich Vivantes und Charité erstmals offener gegenüber
konkreten Tarifverhandlungen, doch zu Ergebnissen kam es bisher nicht.
Die Klinikleitungen argumentieren, die Forderungen der Krankenhausbewegung
kämen zu teuer. Laut Johannes Danckert, kommissarischer Vorsitzender der
Vivantes-Geschäftsführung, würde allein der Entlastungsvertrag „zusätzlic…
Belastungen in Höhe von 25 bis 45 Millionen Euro pro Jahr“ mit sich
bringen. Doch wie würden diese entstehen?
Eigentlich werden die Personalkosten eines Krankenhauses in Deutschland von
den Krankenkassen übernommen. Seit Verabschiedung des
Pflegepersonalstärkungsgesetzes 2019 kann jede zusätzliche Stelle in der
Pflege direkt refinanziert werden, weshalb neue Pflegestellen für
Krankenhäuser im Grunde kostenlos sind.
Laut Vivantes entstehen die Mehrkosten durch den gravierenden
Personalmangel in der Pflege. Da neues Personal schwer zu finden sei,
müssten zunächst Betten gesperrt werden, da nicht alle Stationen
ausreichend besetzt werden könnten. Allein in den neun Berliner
Vivantes-Kliniken wären dies laut Leitung 360 bis 750 Betten – wodurch es
zu einer „Einschränkung der Versorgungskapazitäten“ käme. Durch eine
Bezahlung nach TvöD für alle Beschäftigten der Tochterunternehmen kämen
zusätzliche Kosten von 35 Millionen Euro hinzu. Dies sei nicht
finanzierbar, so der Klinikkonzern.
Doch könnte Berlin nicht einfach mehr Geld zur Verfügung stellen? Immerhin
geht es um landeseigene Betriebe – und die Gesundheitsversorgung der
Bürger:innen. Auch Danckert sagt: „Um die Versorgung nachhaltig
sicherzustellen, benötigen wir als kommunales Krankenhausunternehmen eine
angemessene finanzielle Ausstattung. Das betrifft sowohl das allgemeine
Vergütungssystem für Krankenhäuser als auch die Investitionsmittel durch
das Land Berlin.“
Finanzsenator Matthias Kollatz (SPD) – in dieser Funktion auch Vorsitzender
des Vivantes-Aufsichtsrats und Mitglied im Aufsichtsrat der Charité –
erklärte aber Mitte August auf taz-Nachfrage, „staatliche Zuschüsse für
Defizite, die für Personalaufwendungen im laufenden Betrieb entstehen“,
seien „nicht zulässig“. Wettbewerber würden dagegen klagen.
## Duale Finanzierung
Hintergrund ist, dass das deutsche Gesundheitssystem eine duale
Krankenhausfinanzierung vorsieht: Die Krankenkassen übernehmen alle
Behandlungs- und die Personalkosten eines Krankenhauses. Die Bundesländer
sollen dagegen nur die Investitionen finanzieren, also etwa die Anschaffung
technischer Geräte. Wenn Kollatz sagt, dass Berlin nicht einfach Geld für
gestiegene Personalkosten dazuschießen könne, hat er also einerseits recht.
Andererseits hat Berlin über Jahre viel zu wenig Geld in die Investitionen
seiner Kliniken gesteckt. So sei eine „Riesen-Investitionslücke“ entstanden
sei, erklärt Heise: „Diese Lücke müssen die Kliniken schließen.“ Deshalb
nutzten sie Gelder der Krankenkassen, die eigentlich für Personal und
Behandlungen gedacht sind, um Investitionen zu tätigen.
Das ist kein Geheimnis: Vivantes gibt jährlich im Geschäftsbericht an, wie
viele Investitionen aus sogenannten Eigenmitteln stammen – eine andere
Bezeichnung für die Gelder der Krankenkassen für Pflege und Personal. 2018
waren das 77 Millionen, 2019 127,5 Millionen Euro.
Die rot-rot-grüne Koalition in Berlin fordert in ihrem Koalitionsvertrag
eine „Trendwende in der Krankenhausfinanzierung“ – und erhöhte die
Investitionen auch deutlich: zwischen 2018 und 2021 von 140 Millionen auf
235 Millionen Euro jährlich. Laut der Krankenhausgesellschaft, einer
Vereinigung der Berliner Krankenhausträger, sind aber jährliche
Investitionen von 350 Millionen Euro nötig.
Kalle Kunkel, langjähriger Gewerkschaftssekretär, engagiert sich heute im
[5][Bündnis „Gesundheit statt Profite“] gegen die Ökonomisierung des
Gesundheitswesens. Er kritisiert, dass viele der Investitionen Kredite
seien: „Das Land müsste das derzeitige Investitionsniveau für zehn Jahre
aufrechterhalten, um die Defizite auszugleichen. Das geht nicht, wenn jedes
Jahr mehr Geld in die Rückzahlung von Krediten fließen muss“, sagt er. Dann
sei völlig klar, dass den Kliniken Geld für mehr Personal fehle, da sie ja
noch nicht einmal alle Gelder der Krankenkassen, die für Personal gedacht
sind, auch für diesen Zweck aufwenden könnten.
## „Rettet die Medizin“
Kunkel, Heise und die Berliner Krankenhausbewegung betrachten die Sache
aber noch grundsätzlicher: Für sie hängen die Missstände mit der
marktwirtschaftlichen Ausrichtung des Gesundheitswesens zusammen. Die
Pfleger:innen stehen damit nicht allein: 2019 veröffentlichte der
[6][Stern den Appell „Rettet die Medizin“], in dem sich 215 Ärzt:innen
ebenfalls gegen die Profitorientierung im Gesundheitssektor wandten. Rechne
man die Mitgliedszahlen aller Verbände zusammen, die noch in den folgenden
Monaten unterschrieben hätten, so der Stern später, unterstützten über
130.000 Mediziner:innen den Aufruf – fast ein Drittel der deutschen
Mediziner:innen.
Profite lassen sich im Gesundheitssektor scheinbar einige erzielen. So
erwirtschaftete der private [7][Klinikkonzern Fresenius im Pandemiejahr
2020 laut Geschäftsbericht] einen Gewinn von rund 1,7 Milliarden Euro. Der
Haushalt der Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und
Gleichstellung betrug 2019 nur etwa 259 Millionen. Zwar müssen Charité
und Vivantes als kommunale Krankenhäuser keinen Gewinn erzielen.
Wirtschaftlich handeln und die schwarze Null halten sollen sie aber doch.
Lange, sagt Kunkel, sei das bundesdeutsche Gesundheitssystem unökonomisch
organisiert gewesen. So sei in den 1970er Jahren – für Kunkel das
„Zeitalter echter Krankenhausplanung“ – ein „System der
Selbstkostendeckelung“ in Kraft gewesen. Damals habe jede Klinik mit den
Krankenkassen ein Jahresbudget ausgehandelt, das in Tagessätzen für die
Behandlung jede:r Patient:in ausgezahlt worden sei. Am Jahresende wurde
Kassensturz gemacht: „Hatte das Krankenhaus Gewinn gemacht, musste es diese
abgeben, gab es Verluste, konnten diese nachgefordert werden“, erklärt
Kunkel. Profitmacherei war verboten.
Dann kamen die 1980er Jahre. Die ersten größeren Wirtschaftskrisen der
Nachkriegszeit erschütterten die Bundesrepublik. In diesem Kontext habe
[8][die schwarz-gelbe Koalition unter Bundeskanzler Helmut Kohl] (CDU) „die
geistig-moralische Wende hin zum Neoliberalismus“ vorangetrieben.
„Gesprochen wurde damals viel über eine Kostenexplosion, hervorgerufen
durch die stetig fortschreitende technische Entwicklung und die Ansprüche
der Patient:innen“, sagt Kunkel.
Doch diese Kostenexplosion habe es nie gegeben. Sie sei eine „ideologisch
motivierte Finte“ der Kohl-Regierung gewesen, die Krankenhäuser für
Profitorientierung zu öffnen. Nur so könne die Effizienz in der
Gesundheitsversorgung gesteigert werden, habe es damals geheißen, sagt
Kunkel.
In den folgenden Jahren sei das unökonomisch organisierte Gesundheitssystem
untergraben worden. So wurde etwa 1985 das Gewinnverbot der Krankenhäuser
gekippt: „Damit änderte sich die Logik des Systems“, da die Krankenhäuser
überschüssige Tagessätze nicht mehr zurückzahlen mussten. Gabi Heise kann
das bestätigen. Da seien Patient:innen „auch mal übers Wochenende
dabehalten“ worden, erzählt die Pflegerin. Für Kunkel war dies eine
entscheidende Zäsur: Da eine längere Behandlungszeit plötzlich mehr Geld
bedeutete, seien nicht-medizinische Aspekte in die Behandlung eines
Menschen eingeflossen.
Doch wer zur Ökonomisierung des Gesundheitssystems recherchiert, stolpert
vor allem über einen Begriff: diagnosebezogene Fallpauschalen, auf Englisch
„diagnoses related groups“, kurz: [9][das DRG-System]. Für dieses ist die …
für ihre neoliberalen Reformen berüchtigte – rot-grüne Koalition unter
Kanzler Gerhard Schröder (SPD) verantwortlich. „Im DRG-System bekommen die
Krankenhäuser für jede Behandlung einer bestimmten Krankheit eine
festgelegte Summe“, erklärt Heise. Im System wird der Behandlung jeder
Krankheit ein bestimmter Preis zugeordnet, den die Krankenhäuser von den
Krankenkassen erhalten. Außerdem fließen Faktoren wie Begleiterkrankungen
oder Alter der Patient:innen in die Abrechnung ein.
Die Kernidee des DRG-Systems ist, Krankenhäuser auf mehr Effizienz zu
trimmen, was vor allem die schnellere Behandlung von Patient:innen
bedeutet. Wie lange ein:e Patient:in tatsächlich braucht, um wieder
gesund zu werden, findet keine Beachtung: Im DRG-System wird nur die
durchschnittliche Behandlungszeit einer Diagnose bezahlt. Überschreiten
die Krankenhäuser diese, machen sie Verluste.
„Ein Chefarzt weiß ja über die wirtschaftliche Situation seiner Abteilung�…
erklärt Kunkel. „Das Erste, was er auf einem Behandlungsbogen sieht, ist
deshalb, ob der Patient noch im ökonomischen Bereich liegt. Sieht die
[10][Fallpauschale] 3 bis 5 Tage Behandlung vor, muss der Patient auch nach
5 Tagen entlassen sein.“
## „Blutige Entlassungen“
Tatsächlich würden Patient:innen teilweise zu früh entlassen, sagt auch
Heise. [11][„Blutige Entlassungen“] heißen vorzeitige Entlassungen aus rein
wirtschaftlichen Gründen. „Aber wenn man Patient:innen früher
rausschmeißt, wird die Arbeit einfach auf den nachstationären Bereich
verlagert. Dann müssen Hausärzt:innen und vor allem auch die Angehörigen
ran. Die bezahlt niemand“, sagt die Pflegerin.
Umgekehrt gelte, so Kunkel: Bezahle das DRG-System eine Behandlung länger,
als der:die Patient:in dies benötige, würde die Therapie auch mal in
die Länge gezogen. „Der Patient wird so zur Ware“, fasst Heise zusammen.
Konsequenzen habe das DRG-System aber nicht nur für Patient:innen, sondern
auch für die Pflegekräfte. Denn lange seien auch Personalkosten im
DRG-System einkalkuliert gewesen. „Das bedeutet: Wer die gleiche Anzahl
Patient:innen mit weniger Personal behandelt, steigert seine Gewinne“,
erklärt Heise: Klar, dass das zu Überlastung führe.
Letzteres Problem könnte das [12][Pflegepersonalstärkungsgesetz]
tatsächlich lösen, da durch dieses alle neuen Personalkosten direkt von den
Krankenkassen refinanziert werden. „Die Krankenhäuser können also einfach
mehr Personal einstellen, ohne dass sie das was kostet“, sagt Heise
durchaus anerkennend. Und ergänzt: „Leider sind die Arbeitsbedingungen
immer noch so beschissen, das ganz viele Menschen diesen Job nicht ausüben
wollen.“ Das sei „schade“, denn „wenn man Zeit zum Pflegen hat“, sei …
Pflege ein wunderschöner Beruf.
Heise kann deshalb der Argumentation der Vivantes-Klinikleitung nichts
abgewinnen, laut der der Entlastungstarifvertrag zu einer Einschränkung der
Versorgungskapazitäten führen würde. Sie ist sich sicher: „Das bleibt nicht
lange so.“ Denn der Fachkräftemangel liege primär an den miserablen
Arbeits- und Ausbildungsbedingungen. Tatsächlich kam eine [13][Studie der
Arbeitnehmerkammer Bremen], auf die sich auch die Krankenhausbewegung
beruft, zu dem Schluss, dass die bundesweit fehlenden Pflegestellen
ausgeglichen werden könnten, wenn sich die Arbeitsbedingungen verbesserten.
In einer Verdi-Befragung von 300 Berliner Pflegeazubis konnte sich Anfang
August [14][die Hälfte der Befragten] nicht oder eher nicht vorstellen,
längerfristig in der Pflege zu arbeiten. 75 Prozent erklärten, der Beruf
sei mit ihren Vorstellungen von Freizeit und Familie schwer vereinbar.
Kunkel ist überzeugt, dass sich dies durch den Entlastungsvertrag ändern
würde: „Mit dem Tarifvertrag Entlastung ändert sich die Logik des
Gesundheitssystems“, sagt er. „Sind Personalstandards erst einmal
festgelegt, können sich die Krankenhäuser nicht mehr gegenseitig
herunterkonkurrieren.“ Er vermutet sogar: „Möglicherweise erleben wir
bereits den Kollaps des DRG-Systems.“ Die entscheidende Frage lautete
deshalb derzeit eigentlich: „Was kommt danach?“
Konzepte gebe es genug. „Entscheidend“ sei eine Rückkehr zu einem
Finanzierungsmodell, das sich an den tatsächlich entstandenen Kosten eines
Krankenhauses orientiert. Im Gesundheitssystem sollten planerische
gegenüber marktwirtschaftlichen Ansätzen wieder bevorzugt werden. Um das zu
finanzieren, solle eine allgemeine Bürgerversicherung das bestehende System
der Zwei-Klassen-Versicherungen ersetzen, so Kunkels Lösungsvorschläge.
Und für die Pflegenden schlägt er das System „[15][bedarfsgerechte
Personalmessung 2.0]“ vor, das 2020 von Verdi gemeinsam mit der Deutschen
Krankenhausgesellschaft und dem Pflegerat entwickelt wurde. Im Kern geht es
dabei darum, für jede:n Patient:in zu erfassen, wie viel Personal für
gute Pflege nötig ist. So entsteht eine Personalbemessung, die die
Krankenhäuser dann stellen müssten. Aktuell prüft das
Bundesgesundheitsministerium die Umsetzung.
4 Sep 2021
## LINKS
[1] https://berliner-krankenhausbewegung.de/
[2] /Es-darf-wieder-gestreikt-werden/!5791382
[3] /Arbeitskaempfe-in-Berlin/!5505224
[4] /Outsourcing-bei-der-Charite/!5407617
[5] https://gesundheitohneprofite.noblogs.org/
[6] https://www.stern.de/gesundheit/aerzte-appell-im-stern--rettet-die-medizin-…
[7] https://www.fresenius.de/media_library/Fresenius_Geschaeftsbericht_2020.pdf
[8] https://www.spiegel.de/politik/bluem-laesst-den-kleinen-mann-bluten-a-58530…
[9] https://flexikon.doccheck.com/de/DRG-System
[10] https://www.bundesgesundheitsministerium.de/krankenhausfinanzierung.html
[11] https://www.aerzteblatt.de/archiv/55105/Anschlussheilbehandlung-Blutige-En…
[12] https://www.pflege.de/pflegegesetz-pflegerecht/pflegepersonal-staerkungsge…
[13] https://arbeitnehmerkammer.de/service/presse/pressemitteilungen/bremer-bef…
[14] /Aus-Azubis-koennen-streiken/!5788402
[15] https://gesundheit-soziales.verdi.de/themen/entlastung/++co++27e4ac2e-361f…
## AUTOREN
Timm Kühn
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